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»Lass uns hinuntergehen!«

Er hielt sie am Arm fest. »Nein. Wir sind zu spät. Es hat keinen Sinn. Und ich habe das Gefühl, wir sind nicht allein.«

»Was hatte die ganze Reise für einen Sinn, wenn wir nicht einmal nachsehen, ob er noch dort unten ist! Ich werde gehen.«

»Glaubst du wirklich, dass sie das Wasser abgelassen und Felsen vor dem Grab zur Seite geräumt haben, um ihn dann dort zu lassen?«

»Wir werden es nur wissen, wenn wir hinuntergehen!«

»Bitte …«

Es war das erste Mal, dass er sie um etwas bat. Sie drehte sich halb zu ihm um.

»Bitte, Kadlin. Du weißt doch, wie sie tote Helden ehren. Willst du es wirklich sehen?

Behalte ihn so in Erinnerung, wie du ihn kanntest.« Seine Stimme stockte. »Geh nicht dort hinab!«

Kadlin riss sich los. »Ich bin nicht den weiten Weg gegangen, um am Ende immer noch nicht zu wissen ... «

»Er ist tot! Was gibt es da zu wissen?«

Sie atmete schwer. Melvyn hatte Recht. Das ließ sich nicht von der Hand weisen. Allein hier zu sein, war schon verrückt. Sie betrachtete die Insel. Der kleine See, das Tal...

Alles war verlassen. Es war unübersehbar, dass die Trolle das Grab schon vor einiger Zeit geöffnet hatten.

Kadlin entwand sich dem Griff ihres Bruders. »Ich will nur von ihm Abschied nehmen.

Es wird nicht lange dauern.«

Melvyn versuchte nicht mehr sie aufzuhalten. Mühsam kämpfte sie sich Schritt um Schritt durch den hohen Schnee. Gestern und auch heute hatte es nicht geschneit. Man würde Spuren sehen, wenn dies eine Falle war. Trollspuren im Schnee waren einfach unübersehbar.

Vorsichtig tastend trat sie auf das Eis des kleinen Sees. Es war hart wie Stein gefroren.

Plötzlich überfiel sie Unsicherheit. Sie blickte den Hang hinauf. Melvyn war verschwunden. Mistkerl! Er wollte ihr wohl Angst machen! Aber sie war kein kleines Mädchen mehr.

Entschlossener ging sie weiter. Sie umrundete eine Gruppe flacher, eingeschneiter Uferfelsen. Dann sah sie den Höhleneingang vor sich. Ein Spalier aus Eiszapfen hing vor ihm hinab. Sie musste sich tief ducken, um darunter hindurchzuschlüpfen.

Das Licht, das sich in den Eiszapfen brach, zauberte grellweiße Flecken auf die dunklen Höhlenwände. Die Kälte hier drinnen raubte ihr schier den Atem. Sie schob sich den Schal über die Lippen. Ihre Gesichtshaut fühlte sich straff an. Sie prickelte.

Draußen heulte der Wind über den Klippen der Insel und sang in den Wipfeln der erfrorenen Bäume. Die Eiszapfen am Höhleneingang erzitterten. Die Lichtflecke tanzten. Einer riss ein Gesicht aus der Dunkelheit. Eine von Schreck verzerrte Grimasse. Der Körper des Toten war seltsam verkrümmt.

Kadlin verharrte. Die tanzenden Lichter zeigten nun all die Toten. Sie erinnerte sich an Lambis Erzählungen. Nicht nur Alfadas lag hier bestattet. Etwa zwanzig andere Krieger hatten an diesem Ort ebenfalls ihre letzte Ruhe gefunden.

Die junge Königin atmete schwer. Einige der Männer erkannte sie wieder, auch wenn der Frost ihre Gesichter dunkel gefärbt hatte. Die Toten erinnerten sie daran, warum sie gekommen war. Es ging nicht allein um ihren Vater. Es ging um ihre Schuld. Nach der Schlacht an der Nachtzinne, nachdem Björn und Kalf gefallen waren, war sie feige geflohen. Statt mit den anderen durch die Berge zurück nach Firnstayn zu gehen, war sie gemeinsam mit dem Baumeister Gundaher nach Albenmark gesegelt. Damals hatte sie nicht ahnen können, welche Schrecken die anderen erwarteten. Es schien so, als hätten sie die Trolle besiegt. Das war die Wahrheit! Aber die Wahrheit konnte ihre Schuldgefühle nicht auslöschen. Sie war es den Toten, die für ihren Vater und ihren Bruder Ulric gekämpft hatten, schuldig, diesen Weg zu gehen. Allein! Deshalb hatte sie Lambi nicht mitnehmen können und auch keinen anderen! Sie hatten diesen Weg schon gemacht!

Die Gedanken daran hatten den ganzen Winter über in ihr gegärt. Und als Melvyn gekommen war, hatten sie gemeinsam den Entschluss gefasst, in die Berge zu gehen.

Melvyn hatte seinen Vater Alfadas nie kennengelernt. Ihr Schicksal war sehr ähnlich.

Auch sie hatte nach dem Elfenwinter ihr wirkliches Zuhause nie wiedergesehen. Für sie war Kalf ihr Vater gewesen, der Fischer und Jäger, mit dem ihre Mutter Asla tief in den Bergen verborgen ein einsames und glückliches Leben geführt hatte.

Kadlin wusste, dass sie ihre ersten Lebensjahre im Langhaus des Herzogs und Jarls Alfadas verbracht hatte. Sie konnte sich an einen großen, schwarzen Hund erinnern.

Aber nicht an ihren Vater.

Der Tanz der Lichter wurde ruhiger. Vorsichtig drang Kadlin tiefer in die Höhle vor.

Sie stieg über die Leiber der Toten hinweg. Manche wirkten, als schliefen sie nur.

Andere pressten noch immer ihre Hände auf den Leib, als wollten ihre Schmerzen selbst im Tod nicht enden. So wie sie niedergesunken waren, waren sie auf dem Schlachtfeld erfroren. Und niemand hatte ihre Glieder mehr in eine dem Grab angemessene Ordnung rücken können.

Kadlin duckte sich unter einer Felsnase hinweg, die tief aus der Höhlendecke hinabreichte. Wieder heulte der Sturmwind auf. Flirrende Lichtpunkte strichen über verwitterten Stein. Etwas blinkte auf. Licht brach sich auf Stahl. Erschrocken fuhr die junge Königin zurück und schlug mit dem Kopf gegen die Felsnase. Vor ihr stand eine Schildwache. Aufrecht hinter einem Steinblock, der wie ein Altar wirkte. Die Hände um einen Speer geklammert. Den Blick fest auf den Höhleneingang gerichtet.

Kadlin ging in die Knie. Ohne den Wächter aus den Augen zu lassen, tastete sie über ihren Hinterkopf. Blut sickerte durch ihr langes Haar. Ihr war schwindelig. Der Krieger war tot. Sie wusste das. Und dennoch wirkte er erschreckend. Sie kannte ihn. Es war Eirik, ein Krieger aus dem Gefolge ihres Bruders. Er war streitsüchtig gewesen und hatte Ulric das Leben schwergemacht. Eirik war davon überzeugt gewesen, Ulric sei ein Widergänger. Ein aus dem Grab Auferstandener. Damit hatte er für viel Unruhe gesorgt. Und nun sah er selbst aus wie ein Widergänger. Ein einsamer Wächter, der sich von den Toten erhoben hatte. Dessen Seele keinen Weg zu den Goldenen Hallen fand.

Kadlin erhob sich und versuchte nach Kräften, den bohrenden Blick des Toten zu ignorieren. Eirik musste auf seinen Speer gestützt erfroren sein. Warum war er in der Höhle mit den Toten geblieben? Lambi hatte davon nicht erzählt.

Die Königin umrundete den Felsblock. Ihre Hände strichen gedankenverloren über den glatten Stein. Sie spürte eine feuchte, warme Berührung im Nacken. Das Blut. Sie musste sich stärker den Kopf angeschlagen haben, als sie vermutet hatte. Wieder tastete sie über ihr Haar. Es war ganz verklebt. Als sie ihre Hand zurückzog, war sie rot von halb geronnenem Blut. Ihr war ein wenig übel. Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Felsplatte. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass hier eigentlich der Leichnam ihres Vaters hätte liegen sollen. Die Leiche des Königs. Dies war der erhabenste Ort der Höhle. Und hier stand Eirik als Schildwache.

Aber der Felsblock war leer!

Kadlins Gedanken überschlugen sich. Hatten ihn vielleicht die Elfen geholt? Die anderen Leichen waren unberührt. Die Trolle hätten doch gewiss ein Festmahl mit den Toten abgehalten, wenn sie hier eingedrungen wären. Das große Grab aber schien unberührt, abgesehen davon, dass ihr Vater nicht mehr hier war.

Hatte er womöglich überlebt? Nein, das war ausgeschlossen. Zu viele hatten seinen Tod bestätigt. Und wenn Elfen hier gewesen wären, dann hätte Melvyn mit Sicherheit davon gewusst!

»Menschentochter!« Die Stimme hallte wie ein Fanfarenstoß in der Höhle. Es war eine derbe Zunge, die dieses Wort geformt hatte. Eine Zunge, die mit der Sprache der Fjordländer nur wenig vertraut war.

Kadlins Herz schlug schneller. Sie wusste, dass es keinen zweiten Weg aus der Höhle gab. Sie musste sich stel en. Entschlossen nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. Sie drückte den Rücken durch und reckte trotzig ihr Kinn vor. Dann ging sie zurück zum Eingang.

In weitem Halbkreis vor der Höhle standen acht Trolle.