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Jedem der Knochen in dem schmutzigen, alten Lederbeutel wohnte Magie inne. Magie, die sie durch Runen noch verstärkt hatte. Wer diese Knochen warf und die Zeichen richtig zu deuten wusste, für den teilte sich der Schleier der Zukunft. Dies war ihre eigene Magie, dachte Skanga. Sie war stark. Und sie traute ihr, ganz im Gegensatz zu der Silberschale im Thronsaal von Burg Elfenlicht, die Emerel e so oft um Rat befragt hatte.

Die Schamanin schüttelte den Knochenbeutel und lauschte auf das dumpfe Klappern.

Sie konnte am Geräusch der Knochen erkennen, wann der Augenblick gekommen war, sie auszuschütten.

Birga saß neben ihr. Sie sah argwöhnisch zu. Sie konnte den Neid und die Missgunst ihrer Schülerin spüren, auch ohne sie zu sehen. Sie wollte diesen Knochenbeutel.

Wollte die Macht, die er barg. Skanga hatte ihr noch nicht erzählt, dass jede Schamanin ihre Knochen selbst sammeln musste. Einen fremden Knochenbeutel an sich zu bringen, half gar nichts. Selbst Emerelle würde daran scheitern, würde sie versuchen, die Macht von Skangas Knochenbeutel zu stehlen.

Emerelle ... Die Elfe hatte ihren Thron verloren, und doch gab es immer noch keinen Frieden. Skanga war fest entschlossen, sie für das Blutbad im Gerichtssaal zu strafen.

Diesmal war das Leben der Elfe verwirkt. Wann würde sie diese falsche Schlange endlich gefangen nehmen, um ihr das Genick zu brechen? Skanga ergab sich ganz diesen Gedanken. Wann?

Klappernd fielen die Knochen auf den gestampften Boden neben der Feuergrube. Ein mattes, honigfarbenes Leuchten ging von ihnen aus. Die Runen leuchteten in hellerem, fast weißem Licht. Freilich vermochten dies nur die Augen einer Blinden zu sehen. Die Sehenden hingegen waren blind für die verwickelten magischen Muster, die sich zwischen den Knochen spannten.

Skanga erkannte auf den ersten Blick, dass die Knochen nichts Gutes verhießen. Sie ließ sich Zeit, die Abgründe des Orakels zu ergründen. Lange betrachtete sie die Muster, die sich aus den übereinanderliegenden Knochen geformt hatten. Mehrfach wechselte sie ihren Sitzplatz, um das Orakel aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Der Hasenschädel lag falsch herum. Die Stelle, an der die Wirbelsäule in den Schädel getreten war, starrte sie an wie ein dunkles Auge. Das war ein schlechtes Omen!

Die Magie der Knochen erstrahlte in hellem Glanz. Sie sprachen voller Macht. Ein zweiter Wurf war nicht notwendig. Sie würde sterben, wenn sie Emerelle mit Gewalt zu sich bringen ließ.

Skanga hatte keine Angst vor den Tod. An langen Wintertagen, wenn die Kälte sich in ihren Knochen eingenistet hatte wie unter den Dachtraufen, von denen eisige Zähne hingen, dann hatte der Gedanke ans Sterben etwas Verlockendes. Aber sie konnte nicht fort. Nicht jetzt schon. Ihr Volk brauchte sie, der junge König. Alles, was sie gewonnen hatten, wofür so unendlich viel Blut gezahlt worden war, würde vergehen, wenn sie nicht hinter dem Thron stand und wachte.

Emerelle verhöhnte sie. Nichts anderes hatten diese Morde zu bedeuten. Sie maßte sich an, noch immer darüber zu entscheiden, was Recht und was Unrecht war. Sie hatte den Thron verloren, aber sie hatte nicht aufgehört, Königin zu sein. Wie gern hätte sie diese eingebildete, blutlüsterne Elfe in der Hand gehabt. Sie waren ihr so nah. Skanga konnte es deutlich spüren. Die Schamanin wusste nicht, welche ihrer Kopfgeldjäger die Königin aufgespürt hatten ... Aber sie wusste, sie würde nur die Hand ausstrecken müssen, dann hätte sie Emerelle.

Skanga wechselte noch einmal den Sitzplatz und betrachtete eingehend das Muster der Knochen. Ganz gleich, wie man es betrachtete, das Orakel sagte immer dasselbe. Sie, Skanga, würde sterben, wenn sie Emerelle vor sich bringen ließ. Wie das geschehen würde, war nicht zu erkennen. Sie dachte daran, was die Silberschüssel im Thronsaal ihr gezeigt hatte. Passte es zusammen? Log eines der Orakel?

Das Schicksal war ungerecht! Skanga dachte an den Ratssaal. Daran, was Emerelle und Ollowain dort getan hatten. Und doch hielt man ihr Volk für grausam und die Elfen für feinsinnige Künstler. Es war müßig, daran etwas ändern zu wollen.

Die Schamanin massierte ihre Stirn. Dicht über der Nasenwurzel. Sie musste klar denken. Ohne Zorn! Emerelle hatte ihr den Fehdehandschuh hingeworfen. Und sie würde ihn aufheben. Gharub war ein grausamer Willkürherrscher gewesen, umgeben von schlechten Beratern. Das hatte ihn das Leben gekostet. So etwas würde nicht wieder geschehen. Sie würden ein Gesetzbuch erschaffen. Einfach und klar! Zehn Seiten sollte es nur umfassen. Die Strafen würden hart sein. Blutstrafen, wo es angemessen war. Und alle würden vor diesem Gesetz gleich sein, ganz so, wie Elija und seine Rotmützen es forderten.

Zehn Seiten, die jeder Troll, der herrschen wollte, kennen musste. Zehn Seiten konnte jeder erlernen. Skanga wusste, dass die gegenwärtigen Gesetze ganze Bücherzimmer füllten. Damit sollte Schluss sein. Das war überflüssig. Das alte Recht war wie Verstopfung. Es machte Schwafelköpfe reich und verschleierte alles.

»Was sagt das Orakel?«, fragte Birga, die nicht länger an sich halten konnte.

»Dass wir noch heute Nacht nach Burg Elfenlicht zu rückkehren werden. Kümmere dich darum, dass alle Jäger, die wir nach den Mördern ausgeschickt haben, zurückgerufen werden!«

»Aber wir können sie doch nicht laufen lassen!«

»Glaubst du, dass es dir zusteht, mir zu sagen, was ich kann und was nicht?«

»Nein, Herrin ... Aber bitte, verrate mir, was haben die Knochen gesagt? Was ist so eilig zu tun?«

»Wir müssen ein gutes Abführmittel ersinnen. Wir werden auf Tausende Bücher scheißen!«

Skanga genoss es, das bunte Farbenspiel in Birgas Aura zu betrachten. Verwirrung und Zorn waren ihre stärksten Gefühle, daneben ein Hauch unterwürfiger Bewunderung und Stolz. Sie war ein seltsames Geschöpf. Nützlich, nicht ohne Begabung. Nur ohne Geduld. Das würde ihr noch zum Verhängnis werden, wenn sie nicht lernte, sich Zügel anzulegen. Eine gute Schamanin musste warten können. Und sie musste die Welt aus vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachten können. Skanga hatte davon geträumt, Emerelle gefangen nehmen zu lassen. Auf Burg Elfenlicht hatte sie der Königin zwar versprochen, sie ziehen zu lassen, aber sie war sich schon damals sicher gewesen, dass Emerelle ihr einen Vorwand liefern würde, ihr Wort zu brechen.

Skanga hatte sich ausgemalt, wie die gefallene Königin, in Ketten geschlagen, neben dem Thron kauerte. All ihres Glanzes beraubt. Bis zum nächsten Fest der Lichter hätte sie dort gehockt. Ihr Mahl wären die Abfälle von Trollen gewesen, Spott ihr tägliches Brot. Schläge und Tritte. Ja, sie hätte Emerelle gebrochen, ganz sicher! Und zuletzt hätte man sie zum Fest der Lichter nach Vahan Calyd gebracht, um sie vor den Augen aller Fürsten Albenmarks hinzurichten. Nicht mit dem Schwert ... Es wäre ein schmutziger, unspektakulärer Tod geworden. Sie hätte sie langsam mit einem Strick erdrosseln lassen.

All diese Träume von später Rache waren nun dahin! Sie durfte Emerelle also nicht begegnen ... Das war auch nicht notwendig, um ihr den Tod zu bringen. Zunächst mussten alle Jäger zurückkehren. Emerelle durfte keinen Verdacht schöpfen. Sie würde ihr einen Mörder schicken. Aber wer wäre ihr gewachsen, der mächtigsten Zauberin Albenmarks? Und wer hätte den Mut, ihr nach dem Leben zu trachten?

Ollowains Vermächtnis

Der schmale Spalt des Himmels füllte sich mit stürzenden Steinen. Die Zeit schien in diesem Augenblick langsamer zu fließen. Überdeutlich sah Falrach, wie die Felsbrocken sich im Sturz drehten. Tanzende Steine. Baldiger Tod. Staub und Sand, der sie wie ein zarter Schleier umgab und mit ihnen fiel.

»Hoch!« Nur ein Wort voll kaum beherrschtem Zorn. Emerelle stieß sich vom Felsen ab. Sie schnellte den stürzenden Felsen entgegen. Und sein Körper tat es ihr nach.

Falrach fühlte sich wie ein Träumer. Als beobachtete er sich selbst von Ferne.

Ollowains Erinnerungen waren erloschen. Sein Leben ausgelöscht ... Aber es gab noch eine andere Form des Erinnerns. Seine Muskeln, Sehnen, Nerven hatten all die endlosen Stunden des Übens nicht vergessen. Sie gehörten Olowain. In ihnen war er noch lebendig. Und sie taten, wozu er in seinem entsetzten Staunen nicht fähig war.