Er machte einen Sprung mit der Eleganz des geübten Fechters. Nur seine Fußspitzen berührten den Fels. Sie stießen ihn ab, trugen seinen Leib höher. Die Enge der Klamm rettete ihn. Er sprang von Wand zu Wand, jeweils einen halben Schritt höher. In atemberaubendem Tempo.
Gleichzeitig bog sich sein Leib nach hinten, zur Seite. Fort von den stürzenden Felsen.
Höher und höher. Dem Himmel entgegen.
Emerelle war ihm immer ein Stück voraus. Sie bewegte sich mit derselben Geschicklichkeit wie er. Sie war wie einst. Jene Kämpferin, die die Drachen herausgefordert hatte. Die zu ihm gekommen war und die kein Wort über Wahrscheinlichkeiten hatte hören wollen.
Wie wahrscheinlich war es, aus einer Schlucht zu entkommen, die unter herabstürzenden Felsmassen begraben wurde? Emerelle interessierte sich nicht für Mathematik. Sie handelte. Und ihre Taten verhöhnten jede Wahrschein-lichkeitsrechnung. So wie jetzt.
Er stieß sich ein letztes Mal vom Felsen ab. Dann kam er auf der Kante der Klippe zum Stehen. Dicht neben Emerelle. Die Kobolde waren entsetzt vor ihnen zurückgewichen.
Einige warfen sich zu Boden und falteten, um Gnade wimmernd, die Hände über dem Kopf.
Nur Oblon blieb stehen.
»Die Ältesten haben also entschieden, uns zu töten«, sagte Emerelle, als das Getöse der stürzenden Felsen verklungen war.
»Nicht die Ältesten. Nicht sie entscheiden. Ich, Oblon, Bewahrer der Ahnen, Stimme der Toten, Wanderer an verbotenen Orten, führe mein Volk. Ich habe diese Entscheidung getroffen. Mir allein gebührt die Strafe. Ich bin bereit.«
»Warum? Was haben wir dir und deinem Volk getan?«
»Ihr habt uns den Trollen ausgeliefert und dem Hunger. Sie waren dort. Und sie haben ihren Tribut nicht erhalten. Sie werden nun das Gewicht von zehn Trollen in Mais fordern. Wir hatten keine gute Ernte. Wenn wir diesen Tribut entrichten, dann werden wir hungern. Nicht alle Alten und Kinder werden die nächste Ernte erleben. Ich wollte euer Fleisch als Ersatz für den verlorenen Mais. Ich habe geschworen, mein Volk zu schützen. Nun richtet mich.«
»Dein Fleisch wird wohl kaum ausreichen, um dein Volk durch die Hungermonde zu bringen«, entgegnete Emerelle ruhig. »Welchen Nutzen also hätte dein Tod?«
Es war das erste Mal, seit sie ihm begegnet waren, dass Oblon sprachlos war. Er starrte sie an. Den Mund leicht geöffnet.
»Was siehst du in mir«, fragte sie herausfordernd und ging langsam auf den Kobold zu. »Einen Fleischvorrat für die Trockenzeit? Einen Geist, aus der Luft geboren? Deine Mörderin? Was bin ich?«
Oblon wich nicht vor ihr zurück. Falrach hatte Respekt vor dem Mut des Kleinen. In Albenmark gab es nur wenige, die sich vor dem Zorn Emerelles nicht duckten.
»Es liegt bei mir, was du bist.« Jetzt vermochte Oblon Emerelle nicht mehr in die Augen zu sehen.
»Wähle!«
Von Toren und Helden
Kadlin wurde in steilem Bogen in den Himmel gerissen. Sie schrie vor Entsetzen, während der sichere Boden unter ihren Füßen sich immer weiter entfernte. Langsam gelang es ihr, die Panik niederzukämpfen. Es war der Boden, den sie jeden Augenblick mit ihrem Blut durchtränkt hätte.
Ein riesiger Raubvogel hatte sie gepackt und trug sie davon. Und er war nicht gerade zimperlich mit ihr umgesprungen. Seine Krallen hatten sich durch ihre dick gefütterte Lederkleidung in ihre Schulter und Brust gebohrt. Nicht tief. Aber tief genug, um eine Weile eine unangenehme Erinnerung an diese Begegnung zu behalten. Sie dachte an das Rentier, das sie im Schnee gesehen hatten. Jetzt begriff sie, warum keine Fährte des Tiers in das Schneefeld geführt hatte.
Würde sie genauso enden? Ein blutiger Kadaver auf einem Schneefeld?
Der Vogel schwenkte nach links und hielt auf einen Bergkamm zu. Zwischen den Felsen entdeckte sie Melvyn. Ihr Bruder wirkte durch den Anblick des Vogels nicht im Mindesten beunruhigt.
Kadlin landete unsanft im Schnee, als der Adler unvermittelt seine Krallen öffnete.
Melvyn war sofort an ihrer Seite. »Bist du verletzt?«
»Zählt auch verletzter Stolz?«
Er zwinkerte ihr zu. »Ein schwieriger Fall. Er heilt entweder schnell oder nie.«
Sie sah hinab zu der Insel inmitten des gefrorenen Sees. Die Trolle waren nun mindestens eine Meile entfernt. Sie machten keine Anstalten, ihnen zu folgen. Noch nicht.
Der Adler drehte noch eine weitere Runde am Himmel, dann schwenkte er nach Osten ab. Langsam begann Kadlin zu begreifen. »Er war schon die ganze Zeit in unserer Nähe, nicht wahr?«
Melvyn bedachte sie mit seinem unverschämten Grinsen. »Es ist immer gut, noch eine Überraschung auf Lager zu haben.«
Kadlin war wütend. Er hätte ihr das sagen müssen! Immer wieder hatte sie in den letzten Tagen darüber gebrütet, wie das tote Rentier auf das Schneefeld gekommen war und welcher neue Schrecken wohl in die Berge ihrer Heimat gekommen sein mochte.
»Ich habe auch eine Überraschung für dich. Ich gehe wieder hinunter zu den Trollen!«
Das Lächeln verschwand. »Das ist nicht dein Ernst. Die werden dich in Stücke schneiden und dich dann den Aasfressern überlassen, denn das Fleisch von Verrückten rühren sie nicht an.«
»Gut zu wissen, dass mir wenigstens das erspart bleibt!«
Er packte sie. »Komm zur Vernunft! Denk an dein Kind! Du darfst ... «
Sie war bei Vernunft. Behutsam legte sie die Rechte auf ihren Bauch. Das Kind verhielt sich völlig ruhig, als habe es sich zusammengerollt, um sich in ihr möglichst klein zu machen. Ihre Stimme war rau und belegt, als sie antwortete. »Ich bin bei Vernunft.
Endlich wieder! Ich hätte nicht mit dir hierherkommen dürfen. Und nun tue ich, was meine erste Pflicht als Königin ist. Ich schütze mein Volk!«
Melvyn ließ sie los. »Dann gehen wir zusammen.«
Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Das ist dumm. Lass mich allein gehen!«
»Ich wäre ein verdammt übler großer Bruder, wenn ich tatenlos zusehen würde, wie sich meine kleine Schwester mit ein paar Kerlen herumschlägt, die fast doppelt so groß sind wie sie.«
»Du schuldest mir nichts. Wir kennen uns erst ein paar Tage!«
»Du kommst doch nicht einmal allein ins Tal hinab.« Sein Tonfall hatte sich geändert.
Nie in den paar Tagen, die sie sich kannten, hatte er so ernst geklungen. »Wolkentaucher hat dir ganz schön zugesetzt. Dein Kopf ist eingeschlagen. Du bist schwanger. Und du siehst so aus, als würdest du gleich dein Frühstück in den Schnee spucken. Da werde ich dich doch nicht alleine gehen lassen. Außerdem wird Wolkentaucher mir helfen, wenn ich in Gefahr gerate. Dich hingegen wird er bestimmt nicht noch einmal retten.«
»Wir ziehen also zu dritt gegen acht Trolle. Das hört sich so an, als gäbe es heute Abend ein Festessen mit Riesenhuhn als erstem Gang.«
Melvyn blickte zu dem großen Adler. Er saß unbeweglich auf dem Felsblock, auf dem er sich niedergelassen hatte. »Du solltest so nicht von ihm reden. Er ist empfindlich. Weißt du, unter seinesgleichen ist er ein Fürst!«
»Er versteht meine Sprache?« »Nein, aber deine Gedanken.«
Jetzt drehte Kadlin sich nach dem Adler um. Die schwarzen Augen des Greifvogels durchbohrten sie. Ein beleidigter Adler, ein Troll, der ein Duell mit ihr austragen wollte. Das war ein verrückter Traum. Das konnte nicht die Wirklichkeit sein!
Bei jedem Atemzug schmerzten die Wunden von den Adlerkrallen. Ihr Kopf dröhnte wie eine Kesselpauke. Nein, das war kein Traum. Das war Luths Spiel. Der Schicksals-weber mochte es, wenn man in seinen Fäden zappelte.
Melvyn hakte sich bei ihr unter. Schweigend stiegen sie den Hang hinab. Nie hatte sie sich ihrem Bruder näher gefühlt. Er machte keine leeren Worte. Er würde für sie kämpfen. Sie wollte das nicht. Zugleich fühlte sie sich behütet. So hatte sie nicht mehr empfunden, seit Kalf und Björn gestorben waren. Ermordet durch Trolle. Auch ihr Bruder Ulric war im Kampf gegen Trolle gefallen. Das schien Familientradition zu werden.