Orgrim und sein Gefolge warteten vor der Grabhöhle. Der Herzog der Nachtzinne hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Vor ihm lag ihr Schwert im Schnee.
»Gilt unsere Vereinbarung noch?«, fragte sie mit fester Stimme.
»Hör nicht auf sie«, mischte sich Melvyn ein. »Ich bin ihr großer Bruder, und ich finde, dieser Streit sollte unter Männern ausgetragen werden.«
Einer der Trolle sagte etwas, bevor Kadlin ihrem Bruder über den Mund fahren konnte.
»Du bist also Silberkralle.« Der Herzog musterte ihren Bruder abschätzend. »Du bist weit fort von deinen Jagdgründen. Meine Brüder in der Snaiwamark erzählen viele Geschichten über dich.«
»Lass meine kleine Schwester ziehen. Wir kämpfen, und vielleicht wird man bald eine neue, ruhmreiche Geschichte über dich erzählen, Herzog.«
Der Trollfürst schien geneigt, das Angebot ihres Bruders anzunehmen.
»Ich gehe nicht ohne mein Schwert«, sagte Kadlin.
Melvyn lachte auf. »Jawohl, kleine Schwester! Wie du befiehlst, Königin!« Er bückte sich, um die Klinge aufzuheben.
Kadlin zog ihren Dolch. Einen Herzschlag lang begegnete ihr Blick dem des Trollfürsten, und sie glaubte Zustimmung in seinen Augen zu lesen. Sie hatte von Orgrim gehört. Viele hielten ihn für einen Ehrenmann. Der Baumeister Gundaher hatte ein Buch mit Gedichten aus den Gemächern des Fürsten gestohlen. Und wie es schien, hatte Orgrim selbst sie verfasst. Er war anders als andere Trolle. Er würde Melvyn nichts tun. Das sah sie in seinen gelben Augen!
Mit aller Kraft schlug sie Melvyn den Dolchknauf in den Nacken. Ihr Bruder sackte ohne einen Laut in sich zusammen. Sie nahm ihm das Schwert aus der Hand.
»Niemand trägt meine Kämpfe für mich aus!«
Orgrim wirkte amüsiert. »Menschenkinder ...«
»Gilt unser Pakt noch?«
Er nickte.
»Und ihn ... Lasst ihn ziehen. Ich habe ihn dazu überredet, hierherzukommen. Es ist allein meine Schuld.«
Der Herzog lachte auf. »Ich habe das Gefühl, er würde umgekehrt dasselbe behaupten, wenn er noch auf den Beinen stünde.«
»Du wirst ihn ziehen lassen!«, beharrte Kadlin.
»Du bist nicht meine Königin.« Er blickte auf ihren Bruder hinab. »Silberkralle ist ein ungewöhnliches Stück Fleisch. Ich habe so etwas noch nie gegessen. Halb Mensch, halb Elf. Jeder Geschmack für sich ist mir wohlvertraut. Aber diese Mischung ... « Seine schwere, dunkle Zunge leckte über die Lippen. »Wir werden sein Fleisch einsalzen, um es haltbar zu machen. Er ist etwas für eine Festtafel.«
»Du hast es mir versprochen!«
Wieder lachte er. »Wann?«
»Mit deinen Augen.«
»Ich fürchte, da hast du dich geirrt.«
Mit einem Wutschrei stürmte sie auf ihn los. Ihre Klinge verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Er war wie ein Aal, der verdammte, stinkende Mistkerl. Sie wirbelte herum, täuschte einen Angriff an, wechselte die Stoßrichtung.
Plötzlich sauste seine Faust nieder. Kadlin duckte sich. Orgrims Knie zuckte vor. Er hatte kaum Kraft in den Stoß gelegt und stürzte sie rücklings in den Schnee. Er stellte seinen Fuß auf ihre Brust und hob die Keule.
»Diesmal wird dich kein Adler retten!« Die schwere Waffe sauste hinab.
Kadlin kniff die Augen zu.
Mit dumpfem Schlag prallte der steinerne Keulenkopf neben ihr in den festgestampften Schnee. Sie schluckte. Langsam öffnete sie die Augen wieder. »Ich erkläre dich hiermit für tot, Menschentochter. Ich erwarte von dir, dass du dich künftig wie eine Tote verhalten wirst. Du wirst nie wieder deinen Fuß auf mein Land setzen.
Und du wirst nie wieder eine Waffe gegen einen Troll erheben. Wenn du mir das schwörst, werde ich dich und deinen Bruder ziehen lassen. Wenn du diesen Eid aber brichst, dann werde ich mit meinen Heerscharen über das Fjordland hereinbrechen, und all deine Götter werden uns nicht aufhalten können. Wir werden deine Heimat von Firnstayn bis nach Gonthabu plündern und brandschatzen. Hast du das verstanden, Menschentochter?«
»Ja«, brachte sie kleinlaut hervor.
»Schwörst du, dass du von nun an wie eine Tote sein wirst?«
»Ich schwöre es«, stieß sie hervor.
Er hob seine Keule an und trat einen Schritt zurück.
»Warum?«, fragte sie kleinlaut.
»Die Elfen haben meine Weiber und meine Welpen bei lebendigem Leib verbrannt.
Aber mich nennen sie einen Barbaren, ein wildes Tier. Du trägst einen Welpen in dir, Königin. Ich weiß es von Skanga. Er hat sich seine Mutter nicht aussuchen können. Um seinetwillen lasse ich dich ziehen. Uns Trollen käme es niemals in den Sinn, ein trächtiges Weib in einen Kampf ziehen zu lassen. Aber wir sind ja nur stinkende Barbaren.« Er spuckte neben ihr in den Schnee. »Hast du etwas gelernt, Menschentochter?« »Ja.«
»Bring es deinem Welpen bei, wenn du ihn geworfen hast. Gehe zu deinem Thron zurück und erzähle es den anderen Menschenkindern. Nördlich des Sees, den Skanga zur Grenze bestimmt hat, leben blutrünstige Wilde. Dich und deinen Bruder lasse ich ziehen, damit ihr meine Boten seid. Dieses Mal habe ich Gnade walten lassen. Ein zweites Mal wird das nicht geschehen. Und nun geh!«
Das verborgene Dorf
»Für mich bist du das Weib, das mein Volk von den Trollen befreien wird.«
Auf dem Rand der Klippe herrschte Stille. Das letzte Grollen der hinabgestürzten Felsen war verklungen. Staub hing in der Luft, verklebte die Nasen und legte sich mit bitterem Geschmack in den Mund.
»Ich war im Zweifel, ob du sehr dumm bist oder sehr mutig«, sagte Emerelle leise.
»Jetzt weiß ich es.« Sie lächelte verhalten. »Bring uns in dein Dorf. Ich bin durstig. Und wage es nicht, uns in euren Vorratskammern einzuquartieren.«
Falrach war erleichtert. Sein Körper hatte Ollowain wieder vergessen. Mit dem Lächeln der Königin waren alle Anspannung und zugleich auch alle Kraft gewichen. Er ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder. Deutlich spürte er die Hitze des Steins durch seine Hosen.
Einige der Kobolde wagten aufzublicken. Sie schienen dem Frieden noch nicht zu trauen. Lag es daran, dass sie sich vor Emerelle fürchteten, oder daran, dass sie ihren Schamanen nur zu gut kannten?
Oblon klatschte in die Hände. »Aufstehen, ihr feige Bande! Was sollen die beiden Riesen von uns denken? Bisher waren die Trolle ihr größter Schrecken, aber ihr seid sehr viel eindrucksvoller. Ich hoffe, ihr seid nicht nachtragend. Es hatte wirklich nichts mit euch zu tun! Es ging einfach nur um ... um Essen!«
Falrach versuchte Emerelles Blick einzufangen. Die Königin lächelte noch immer. Was würde er jetzt für ihre Gedanken geben!
Oblon machte sich auf den Weg. Er führte sie auf einem gewundenen Pfad durch die Felslandschaft. Kaum eine halbe Stunde dauerte es, bis sie ein Tal erreichten, durch das ein kaum knöcheltiefer Bach rann.
Falrach musste all seine Beherrschung aufbieten, um sich nicht mit dem Gesicht voran ins Wasser zu werfen. Seine Zunge lag wie ein Stück Dörrfleisch in seinem Mund. Er hatte das Gefühl, dass sie angeschwollen war. Seine Lippen waren aufgeplatzt.
Er versuchte, nicht auf das Wasser zu sehen. Versuchte, das leise Plätschern des Wassers zu überhören. Wann kam wohl jemand, um ihm Wasser anzubieten?
Verdammte Koboldbande!
Nahe dem Bach wuchsen einige grüne Grasbüschel. Auf einigen abgeernteten Maisfeldern standen nur noch kümmerliche Strünke. Die Felder waren verlassen.
Auf einem Hügel, von einem niedrigen Dornenwall umgeben, erhoben sich halbrunde Lehmhütten. Sie erinnerten ein wenig an Eier, die dicht an dicht in einem Gelege lagen.
Eine dünne Rauchfahne stieg zwischen den Hütten auf. Aber auch dort war niemand zu sehen.
Sie kamen an Kakteen mit vernarbter, grüner Haut vorbei. Es schien, dass sie regelmäßig beschnitten wurden. Ob sie hier ihr Pfeilgift gewannen? Ein schwerer, süßlicher Geruch ging von ihnen aus.
Nur noch bis zum Hügel, dachte Falrach. Er heftete den Blick fest auf die Hütten.
Hinter ihnen erklang ein auf- und abschwellendes Hornsignal. Dennoch zeigte sich niemand außer der Eskorte aus Kobolden, die sie von der Klamm mitgebracht hatten.