Einige ihrer Begleiter eilten voraus und öffneten einen Durchlass in der Hecke. Das Bollwerk war fast einen Schritt dick und reichte Falrach bis zur Brust. Dornen, lang wie Koboldfinger, wucherten auf dem dürren Geäst.
Wieder erscholl das Hornsignal. Oblon lief voraus in die Siedlung. »Sie sind Freunde!
Kommt heraus. Sie werden für uns kämpfen!«
Das werden wir nicht, erklang Emerelles Stimme, tief in ihm. Ich bin es müde zu kämpfen.
Wir rasten hier ein paar Tage. Dann ziehen wir weiter.
»Seht, unsere Retter. Die Alben haben uns endlich erhört. Sie haben uns Riesen geschickt!«
Ein kleiner Junge mit kahlem Schädel steckte den Kopf aus seiner Hütte. Mit weiten Augen blickte er zu Falrach auf und zog sich sogleich mit einem erschrockenen Laut zurück.
Dann teilte sich der Vorhang aus Steinperlen am Eingang, und eine Koboldfrau trat heraus. Die Hände in die Hüften gestemmt, wollte sie ihm ganz offensichtlich den Zutritt verweigern. Die Entschlossenheit, mit der sie zu ihm aufblickte, ließ keinen Zweifel aufkommen.
Sie war so mager, dass ihr Kopf an einen mit Leder bespannten Totenschädel erinnerte.
Von der Unterlippe bis zum Kinn zog sich ein Muster aus dunklen Flecken. Ihr strähniges Haar war hochgesteckt und von einer trockenen, mattroten Paste verklebt.
Falrach hatte lange niemanden mehr gesehen, der so mager war wie diese Frau. Jeder Appetit war ihm vergangen. Hier würde er nur trinken. Essen könnte er keines annehmen.
Fast Liebe
Emerelle streckte sich im kühlen Wasser. Ein Stück oberhalb des Dorfes hatte sie eine Stelle gefunden, wo das Bachbett eine tiefe Senke in den harten Granit geschliffen hatte. Der Bach machte hier einen scharfen Knick; Jahrtausende schleifenden Sandes hatten eine Einbuchtung in den Fels gespült, die mit ein wenig gutem Willen an einen Badezuber erinnerte.
Mehr als eine Stunde war sie schon hier und genoss das Gefühl des fließenden Wassers. Endlich fühlte sie sich frei! Wenn nur der Kummer mit Ollowain nicht wäre.
Es gab Gerüchte über ein Orakel hier im verbrannten Land. Genaues wusste sie nicht, und bislang war sie zu stolz gewesen, Oblon zu fragen. Sie traute dem durchtriebenen Schamanen nach wie vor nicht über den Weg, aber sie war sich ganz sicher, mit ihm fertigzuwerden, gleichgültig, was er versuchte.
Sie hatte sich als Königin zu wenig um die entlegenen Landstriche Albenmarks gekümmert. Hier gab es keine Kundschafter oder Vertraute, die gelegentlich zu ihr nach Burg Elfenlicht gekommen wären, um ihr zu berichten. War Kundschafter das richtige Wort? Oder sollte sie ehrlicherweise Spitzel sagen? War sie eine Tyrannin, wenn sie möglichst alles wissen wollte, was in Albenmark geschah, oder eine fürsorgliche Herrscherin?
Sie atmete aus. Diese Dinge gingen sie nichts mehr an. Ereignisse wie in Feylanviek sollten sich nicht wiederholen! Sie war nicht mehr die Königin. Sie durfte sich erlauben, nur an sich zu denken!
Es war ein seltsames Gefühl, von Ollowain gelegentlich einen schmachtenden Blick zu erhaschen. Natürlich war es nicht mehr der Ollowain, den sie einmal geliebt hatte. Und Falrach war auch nicht mehr der, den sie geliebt hatte. Er hatte sich in der veränderten Welt noch immer nicht zurechtgefunden. Würde er es jemals tun? Mehr als vierzig Jahrhunderte waren seit seinem Tod vergangen. Städte, die er einmal gekannt hatte, waren zu Staub geworden. Völker, die einst voller Macht und von Bedeutung gewesen waren, lebten nicht mehr in Albenmark, wie die Kinder der Dunkelalben oder die Elfen von Valemas. Flüsse und Küsten hatten ihren Verlauf verändert. Und wie weit sie sich von dem jungen Mädchen entfernt hatte, das Falrach einst liebte, vermochte sie nicht zu ermessen.
Zumindest äußerlich schien sie sich nur wenig verändert zu haben. Falrach fand sie immer noch begehrenswert. Sie mochte es, wie er sie ansah. Ollowain ... Obwohl sie nun schon seit Wochen miteinander reisten, hatte sie ihn noch nicht zum Zuge kommen lassen. War es unmoralisch, sich von ihm lieben zu lassen und an Ollowain zu denken? An wen sonst sollte sie auch denken, würde sie doch in Ollowains Antlitz blicken, wenn sie einander liebten.
Lag es daran, dass sie endlich Frieden gefunden hatte? Sie spürte ein tiefes Verlangen danach, endlich wieder einen Mann an ihrer Seite liegen zu haben. Wann war ihre letzte Liebesnacht gewesen? Sie konnte sich nicht mehr sicher daran erinnern.
Sie strich über ihre glatten Schenkel. Ein wohliger Schauer durchlief sie. Wie war es gewesen, von Männerhänden berührt zu werden? Sie schloss die Augen. War mer Wind spielte mit ihrem Haar. Falrach war ein guter Liebhaber gewesen. Er hatte schon viele Frauen gehabt, als sie ihn kennenlernte. Und er hatte einen schrecklichen Ruf. Sie lächelte versonnen. Einen Ruf, dem er voll und ganz gerecht geworden war. Es wäre schön, wenn er jetzt hier wäre. Sie war versucht... Leise murmelte sie ein Wort der Macht. Es schmeichelte ihrer Zunge. All ihren Sinnen. Sie durfte das nicht tun. Es war unmoralisch. Aber er würde es niemals wissen, wenn sie es ihm nicht verriet.
Täglich hatte sie diesen Zauber angewandt, seit sie in dem kleinen Kobolddorf waren.
Ihre Gastgeber glaubten, dass die Trolle ihnen Glück brachten. Diese dickköpfigen Narren bestanden nach wie vor darauf, dass sie beide Trolle sein mussten. Und zwar besonders große Trolle. Geradezu Riesen unter den Trollen!
Als Emerelle gesehen hatte, wie elend und ausgehungert der Stamm war, hatte sie den Zauber zum ersten Mal gewirkt. Ihr Geist war über das Land gestreift. Sie hatte nach Leben gesucht. Viele Meilen entfernt, denn sie wollte nicht das Jagdwild anlocken, das in der Nähe der Siedlung lebte. Sie hatte nach Geschöpfen gesucht, die sie nicht so schnell gefangen hätten. Rotkämme, jene großen Echsen, die verborgen in den abgelegensten Bergregionen lebten. Sie wurden bis zu zwei Schritt lang, und ihr Fleisch schmeckte unvergleichlich. Auch Stachelschwänze hatte sie angelockt, Steppenhasen und Murmeltiere. All diese Geschöpfe hatte ihr Wil e in dieses Tal gezwungen. Sie machten sich auf die Wanderschaft, ohne zu ahnen, dass ihre Reise sie unweigerlich zu den Speeren der Kobolde führen würde.
Jeden Abend feierte der Stamm. Oblon ahnte etwas. Er war wirklich klug. Er sagte nichts, ließ das Wunder einfach geschehen.
Emerelle wusste, dass Falrach den Platz zwischen den Felsen verlassen hatte. Jene vor Blicken geschützte Stelle, an der er übte. Früher hatte er das nicht getan. Waffenübungen in völliger Harmonie von Schwert und Körper.
Das war ein Vermächtnis Ollowains. Emerelle machte sich nichts vor. Sie hatte Fairachs Geist durchforscht. Es war nichts von Ollowain geblieben. Keine Erinnerung.
Kein Rest seiner Persönlichkeit. Sie vermutete, dass es der Körper des Schwertmeisters war, der danach verlangte, diese Kampfübungen zu machen. Er war daran gewöhnt.
Ollowain hatte jahrhundertelang fast jeden Tag geübt. Diese Bewegungsabläufe waren Ollowains Körper ebenso selbstverständlich wie das Atmen. Bisher hatte Falrach sich dagegen gesträubt. Aber seit dem Ereignis in der Klamm gab er seinem Körper nach.
Er wollte lernen, welche Fähigkeiten in ihm steckten.
Emerelle überlegte, ob sie selbst in der Nacht auf die Jagd gehen sollte. Nicht nach Stachelschwänzen oder Rotkämmen. Gefährlicheres Wild. Aber noch bestand kein Anlass zur Eile.
Sie hörte leise Schritte. Er bewegte sich geschickt. Das Geräusch war fast überdeckt vom leisen Wispern des Windes. Er wusste nicht, dass sie hier war. Hätte er sich ange-schlichen, sie hätte ihn nicht gehört.
Sie richtete sich in dem steinernen Becken auf. »Schön, dich zu sehen, Falrach.«
Ollowain hätte jetzt sicher beschämt zur Seite geblickt. Falrach war es nicht unangenehm, sie nackt zu sehen.
»Ich wusste nicht ... «, begann er zögerlich.
»Hier ist Platz für zwei. Das Wasser ist herrlich.« Sie lächelte. Früher einmal, schier vor einer Ewigkeit, war es ihr leichtgefallen, verführerisch zu sein. Jetzt fühlte sie sich unsicher.