»Es gab eine Zeit«, erzählte Jules, »da waren Menschen viel mächtiger, als sie es heute sind. Und es gab viele Götter, nicht nur einen. Und diese Götter, die die Menschen erschaffen hatten, waren so stolz auf sie, dass sie unter ihnen wandelten.«
Adrien sah seinen Meister mit großen Augen an. Eine solche Geschichte hatte er noch nie gehört. Und er hätte niemals erwartet, einen Tjuredpriester so reden zu hören. Es hatte andere Götter gegeben? Und sie sollten hier gewesen sein! Die Vorstellung fesselte ihn. Er stand auf Boden, auf dem einmal Götter gestanden hatten! Nein, das war sicherlich ein Märchen.
»Das weiße Selinunt, so hieß die Stadt einmal. Sie war ganz und gar aus Marmor erbaut. Nur die Dächer trugen rote Schindeln, die hell in der Frühlingssonne strahlten.
Die Stadt füllte das ganze Tal aus. Ihre Schönheit war weithin berühmt. Die Weisen und die Edlen waren hier versammelt. In jener Zeit gab es sieben Königreiche. Nicht solche Königreiche, wie du sie kennst. Sie waren groß. Jedes umfasste Hundert und mehr Städte wie dein Nantour. Und wenn die Heere dieser Königreiche marschierten, dann erzitterte der Boden unter den Schritten der genagelten Stiefelsohlen ihrer Soldaten.«
Jules schritt einen schmalen Pfad hinab. Sein Blick war in die Ferne gerichtet. Er wirkte entrückt, ganz in seine Geschichte versunken.
»Die besten Handwerker lebten hier. Die Stadt war wun derbar. Und sie hatte ein Geheimnis. Es gab noch eine weitere, eine verborgene Stadt.
Weil das Wasser aus den Quellen hier bitter ist, legten die Erbauer von Selinunt große Zisternen an. Weite Hallen, die tief im Fels ruhten. Die Paläste und Tempel, die darüber errichtet waren, wurden von den Säulen und Rundbogen der Zisternen getragen, was von doppeltem Nutzen war, denn nun konnte man reiche Wasservorräte sammeln. Zugleich schützte diese Art zu bauen aber auch die prächtigen Monumente der Stadt, denn hier in den Bergen erbebt oft die Erde. Häuser, die man auf diese Weise errichtet, vermögen dem wütenden Zittern der Erde viel besser zu widerstehen.«
Adrien betrachtete das Tal. Die einstige Pracht, die Jules vor Augen zu haben schien, vermochte er sich nicht vorzustellen. Für ihn sah der Steinerne Wald außergewöhnlich trostlos aus. Säulen inmitten einer Einöde. Inseln von Schnee wechselten sich mit großen Pfützen ab. Und nichts wuchs dort. Vielleicht war dies das Beklemmendste. So etwas hatte er noch nie gesehen.
»Einst, als die Götter sie riefen, versammelten sich alle sieben Könige in Selinunt. Sie sollten sich hier versammeln, um über einen großen Krieg zu beraten. Einen Krieg, der die Könige und ihre Heerscharen in eine andere Welt führen sollte. Auch der Feind hatte seine Edlen geschickt, ein großes Gefolge. Sie waren es gewesen, die darum gebeten hatten, zu verhandeln.«
»Wer war dieser Feind?«
»Die Elfen, mein Junge. Wer sonst? Sie waren schon immer der Feind. Sie und noch andere Geschöpfe. Die Kreaturen der Alben sinnen auf nichts anderes, als dieser Welt zu schaden. Wann immer die Menschen sich zu Größe erheben, werden sie angegriffen. So wie Guillaume. Du hättest ihn erleben müssen. Die Menschen hingen an seinen Lippen. Er vermochte Wunder zu vollbringen. Aber er wurde ermordet.«
Adrien hatte davon gehört. Es gab unterschiedliche Ge schichten über Guillaume. Manche erzählten, dass sich der Wunderheiler gegen den König erheben wollte und getötet wurde, als Cabezan die Stierköpfe schickte, um ihn gefangen zu nehmen. Andere wiederum erzählten, der König habe seine Leibwachen geschickt, um Guillaume zu beschützen. Sie alle wurden von Elfen ermordet, die Guillaumes Leichnam an eine Eiche inmitten der Stadt ketteten und dann verbrannten.
Inzwischen waren sie den Hang ganz hinabgestiegen, an dem Jules seine Hütte errichtet hatte. Adrien tippte mit seiner Stiefelspitze kurz auf eine Pfütze. Sofort breitete sich ein Netz heller Risse aus. Er würde sich hüten, mit seinen kostbaren Schuhen durch die Pfützen zu gehen.
Der Priester war vor eine Säule getreten. Seine Hand strich über den glatten Stein.
»Komm her, Junge!«
Adrien gehorchte. Er sprang über zwei Pfützen hinweg. Schnee schmatzte unter seinen Stiefeln. Er war schwer und nass. Lange würde er nicht mehr liegen bleiben. Bald würde der Winter den Steinernen Wald verlassen.
»Sieh dir diese Säule einmal an.« Jules trat ein wenig zur Seite.
Adrien streichelte über den Stein. Er war wirklich sehr glatt und ... »Was siehst du?«
»Das hier sieht aus wie Tränen.« Verwundert tastete er über kleine Perlchen, die an der Säule hafteten. »Und dort sieht es aus, als habe man den Stein mit Honigguss überzogen. So wie einen Kuchen.«
Jules lächelte zufrieden. »Gut beobachtet! Was glaubst du, warum die Säule so aussieht?«
Er zuckte die Schultern. »Vielleicht hatte der Steinmetz den Befehl, es so zu machen.«
»Das ist doch Unsinn«, entfuhr es dem Priester. »Wer hätte Gefallen an solchen Säulen!«
Adrien war überrascht, wie heftig der Priester reagierte. Er konnte nicht begreifen, was er Falsches gesagt hatte.
Schweigend stampfte Jules vor ihm durch den Schnee. Er machte keinen Bogen um Pfützen und kämpfte sich ohne Umwege durch letzte Schneewehen. Adrien machte sich Sorgen. Bestimmt hatte sein Meister nasse Füße. Und die Kräfte, die sein Zorn entfacht hatte, mochten bald schon verbraucht sein. Sein Lehrmeister war alt. Er musste besser auf sich achtgeben!
»Es tut mir leid, wenn ich dich verärgert habe. Ich bin nur ein Straßenjunge. Ich bin nicht klug. Ich weiß, wie man einen Apfel stiehlt oder eine Wurst. Von Säulen und davon, wie sie aussehen müssen, weiß ich nichts.«
Der Priester verlangsamte seine Schritte, sagte aber nichts.
Adrien wusste nicht, was er tun sollte. Einem Mann wie ihm war er noch nie begegnet.
Er hatte bei Jules einen Platz zum Schlafen und gutes Essen bekommen. Er schuldete ihm etwas.
Endlich blieb der Priester stehen. Sie waren inzwischen weit in das Tal vorgedrungen.
Links erhob sich eine Reihe von Säulen, von denen jede einzelne über zwanzig Schritt hoch sein musste. Sie alle wurden nach unten hin dicker. Steinerne Tränen wie auch unregelmäßige Wellen liefen an ihnen herab.
»Sie sehen ein wenig aus wie Kerzen«, murmelte Adrien vor sich hin. Er tat es, um gegen die Stille anzukämpfen. Der schweigende Marsch setzte ihm mehr und mehr zu.
Jules blieb abrupt stehen. »Was hast du gesagt?«
Der Junge schluckte hart. Er wünschte, er könnte das Gesicht des Betbruders sehen.
Dessen Stimme klang hart und abweisend. »Kerzen ... Sie sehen aus wie Kerzen, dachte ich …«
Jules lachte auf. Es war ein Laut voller Schmerz und Bitterkeit. »Ja, Kerzen. Das ist gar nicht so schlecht. Gar nicht schlecht!« Er wischte mit dem Fuß den Schnee zur Seite.
»Komm her! Sieh dir das an! Was hältst du davon?«
Adrien trat mit gemischten Gefühlen vor seinen Meis ter. Zum einen war er froh, dass Jules wieder mit ihm sprach. Auf der anderen Seite fürchtete er, ihn mit einer weiteren falschen Antwort noch mehr zu erzürnen.« Der Boden, den der Priester vom Schnee befreit hatte, war ungewöhnlich eben.
Der Junge kniete nieder. Er tastete über den Boden. Er war sehr glatt und fast schwarz.
Er erinnerte Adrien an das Eis auf einer zugefrorenen Schweinesuhle. Aber er würde sich hüten, das dem Priester zu sagen. Jules schien sich mit dem Steinernen Wald eng verbunden zu fühlen. Dieser Vergleich würde ihn sicher erzürnen. »Sehr glatt«, sagte er vorsichtig. Damit konnte er nichts falsch machen. Er betrachtete den merkwürdigen Untergrund. Er hatte so etwas in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen.
Adrien blickte auf, in der Hoffnung, Jules würde ihn aus seiner Pflicht entlassen. Doch der Priester schien ebenso aus Stein zu sein wie alles hier am Talgrund. Nichts regte sich in seinem Antlitz.
»Sehr hart?« Der Junge klopfte auf den Boden. Dann fielen ihm Honigkrüge ein, die er einmal gesehen hatte. Sie waren schwarzbraun gewesen, mit bunten Leinentüchlein und Wachs versiegelt. Der gebrannte Ton der Töpfe hatte sehr hart ausgesehen. Der Händler war weit aus dem Süden gekommen, aus dem Stadtstaat Marcilla, der seit kurzem zum Königreich gehörte. »Sieht aus wie einer der hart gebrannten Töpfe aus Marcilla.«