Sie war nur ein Mensch. Sie war nicht so zäh und ausdauernd wie er. Sie vermochte nicht über den Schnee zu laufen und dabei so wenig Spuren zu hinterlassen wie ein Windhauch. Sie brauchte mehr Schlaf. Und sie war keine so gewandte Kämpferin wie er, auch wenn sie mutig und ausdauernd war. Er war ihr älterer Bruder. Er hätte all dies besser wissen müssen!
Das Feuer zu entfachen, dauerte nur wenige Augenblicke. All zu schnell fraßen die Flammen das Reisig. Noch einmal lief er hinab und suchte nach stärkeren Ästen. Als er zurückkam, fand er sie zur Seite gesackt. Ganz vorsichtig nahm er sie bei den Schultern und richtete sie auf. Ihre Kleider waren nicht mehr warm. Sie waren mit Schweiß und Blut durchtränkt. Statt sie zu schützen, tranken sie die Wärme ihres Körpers. Er musste sie ausziehen!
Ihre Kleidung war starr. Die Verschnürung ihres Wamses ließ sich nicht mehr öffnen.
Vorsichtig durchtrennte er die Lederriemen mit seinem Jagdmesser. Die engen Felswände in ihrem Unterschlupf reflektierten die Wärme des Feuers. Der Rauch zog schlecht ab und kratzte in der Kehle. Melvyn wünschte, er hätte eine Decke, in die er seine Schwester einschlagen könnte. Oder zumindest trockenes Moos, um ihr kein Lager auf nacktem Stein bereiten zu müssen.
Erschrocken bemerkte der Elf, dass sich an einigen ihrer Finger, dicht unterhalb der Nägel, Beulen gebildet hatten. Er massierte sie vorsichtig und versuchte die Wärme in ihre Glieder zurückzuholen. Ihm war das alles fremd. Kein Maurawani, den er kannte, hatte jemals an Erfrierungen gelitten. Er wusste nicht sicher, was zu tun war.
Verzweifelt lief er noch einmal den Hang hinab zum Wäldchen, um mehr Brennholz zu holen. Als er zurückkehrte, saß Wolkentaucher auf dem Fels über ihrem Ver steck. Im Schnee lag ein toter Steinbock. Er war noch warm!
Melvyn zerrte den Bock an den wulstigen Hörnern in ihr Versteck. Sein Blut war noch nicht geronnen. Er schnitt leicht in die Kehle des Tiers. Dunkles Blut troff auf das helle Fell. Er presste den Einschnitt auf Kadlins Mund. Sie schluckte, ohne zu erwachen. Sie brauchte alles, was ihr Kraft geben konnte. Gebratenes Fleisch würde sie nicht kauen können. Und es würde zu lange dauern, den Bock zu zerlegen und ein paar Streifen Fleisch auf dem Feuer zu garen. Das konnte er später noch tun.
Blut rann über ihre Kehle und zwischen ihren Brüsten hinab. Kein Laut kam über ihre Lippen. Er schob den Bock zur Seite und hielt seine Hand dicht vor ihren Mund, spürte aber keinen Atem. Erschrocken lauschte er an ihrem Herzen. Es schlug nur schwach und unregelmäßig. Das Herz des Kindes in ihr hörte er gar nicht schlagen. Er legte die Hand auf ihren nackten Bauch. Dort regte sich nichts.
Er sperrte sich gegen die Gedanken des Adlers. Sein Gefährte hielt all das für nutzlos.
Er riet ihm, seine Nestschwester ziehen zu lassen. »Scher dich davon!«, schrie er in plötzlicher Wut. Er würde nicht aufgeben! Es durfte nicht so enden! Nicht so! Er würde sich dem Tod entgegenstemmen. Ihm sein Opfer wieder entreißen. Wie hieß ihr Schicksalsgott? Luth! Er würde ihm die Klinge aus der Hand schlagen, mit der er die Lebensfäden der Menschen durchtrennte. Sie musste leben!
Wolkentaucher flog fort. Er spürte, dass sein Freund keinen Groll gegen ihn hegte. Der Vogel war verwundert über so viel verschwendete Gefühle. Über den nutzlosen Kampf.
Wieder rieb Melvyn Kadlin die Glieder. Aber es schien nicht zu helfen. Ihr Blut floss immer langsamer. Nichts vermochte sie aus ihrer tiefen Ohnmacht zu wecken. Sie würde langsam vom Leben in den Tod gleiten. Ohne Schmerzen.
Wenn er sie nur mit seinem Zauber zu schützen vermochte! Er empfand keine Kälte.
Seine Magie bewahrte ihn davor ebenso wie vor Hitze. Aber er konnte sie nicht schützen. Er war kein erfahrener Zauberer. Nur ein Jäger und Krieger.
Vielleicht konnte er die Wärme seines Körpers auf sie übertragen. Das war das Letzte, was ihm noch blieb. Hastig streifte er seine Kleider ab. Er setzte sich auf den Felsboden, aus dem das Feuer die schlimmste Kälte vertrieben hatte. Dann zog er seine Schwester zu sich auf den Schoß. Sie sollte ganz von seiner Wärme umfangen sein. Er lehnte ihren Rücken gegen seine Brust, faltete seine Hände über ihrem Bauch.
Melvyn begann leise zu summen. Eine Melodie, die er in den langen Nächten ersonnen hatte, die Silwyna ihn am Albenhaupt allein gelassen hatte. Damals hatte er so gegen seine Ängste angekämpft. Jetzt war dieser Zauber aus Kindertagen verblasst.
Seine Hände streichelten über Kadlins Bauch. Die Melodie brach ab. Er begann zu beten, obwohl er nicht an Götter glaubte. Aber dies hier war eine andere Welt. Er würde alles tun, um sie zu retten. Alles!
Von Meuchlern und Rittern
Adrien sah den Priester ungläubig an. »Du hast die Männer am Baum getötet?« Er erwartete, dass Jules lächeln würde. Oder mit den Augen zwinkern. Wartete auf irgendein Zeichen, das ihm verraten würde, dass es ein Scherz war. Aber es kam nichts.
»Priester tun so etwas nicht.« Kaum dass die Worte über seine Lippen waren, verwünschte er sich stumm. Wie würde Jules das auffassen? Würde er beleidigt sein?
Keine Regung zeigte sich im Antlitz des Priesters. Seine strahlend blauen Augen hielten Adriens Blick stand. Dann nickte Jules sacht. »Ja, so ist es. Priester sollten kein Blut vergießen. Und doch braucht die Kirche Tjureds auch Krieger. Sie braucht sie zum Schutz. Dein Vater war der erste Ritter Gottes. Du wirst seine Nachfolge antreten.
Wenn du sein Erbe in dir trägst, und wenn du Disziplin und Selbstlosigkeit übst, dann wirst du ein großer Ritter werden, Michel Sarti.«
Der Name war Adrien noch immer ganz fremd. Es fühlte sich falsch an, so angesprochen zu werden. Ebenso falsch erschien ihm die Vorstellung, ein Ritter zu werden. Er war ein Gassenjunge und Dieb. Der Sohn einer Hure. Bei solch einer Herkunft wurde man nicht Ritter!
»Wie konntest du allein so viele Krieger besiegen?« Er sollte seine Gedanken tief in sich begraben. Das Leben bei Jules war gut. Es gab Essen und einen Schlafplatz. Adrien war es nicht gewohnt, Sicherheit für den nächsten Tag zu kennen. Er würde das nicht aufgeben.
»Ich habe sie nicht alle auf einmal bekämpft. Es hat drei Tage gedauert, sie zu töten.«
»Drei Tage ...« Er plapperte das nach wie ein Idiot. »Drei Tage! Wie ... «
»Lass dich nicht von meiner Kutte täuschen! Was sagt ein Stück Stoff schon aus? Dass ich ein friedlicher Mensch bin?« Er lächelte breit. »Das bin ich ganz gewiss nicht. Die Kunst der Täuschung zu beherrschen, ist im Kampf ebenso wichtig wie ein starker und geübter Schwertarm. Es ist stets von Vorteil, weniger zu scheinen, als du bist. Der schrecklichste Feind ist der Feind, den man nie wirklich zu Gesicht bekommt.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an seine Stirn. »Hier drinnen hausen unsere Dämonen.
Nicht in Bäumen, Adrien. Die ersten von Cabezans Stierköpfen habe ich leicht getötet.
Sie sahen in mir nur einen wehrlosen Priester und kamen ohne Arg auf mich zu. Sie waren tot, bevor sie begreifen konnten, wie sehr sie sich getäuscht hatten. Ich hing ihre Leichen in den großen Baum. Zusammen mit den Ketten, die sie für ihre Flaschenzüge mitgebracht hatten. Als sieben von ihnen tot waren, kroch Angst in die Herzen der Überlebenden. Schon da hatten sie ihre Selbstsicherheit verloren. Nachdem mehr als dreißig gestorben waren, hatte die Angst sie so sehr im Griff, dass schon der Ruf eines Eistauchers sie vor Schreck zusammenfahren ließ. Wer immer mich sah, starb. Und die Überlebenden wussten nicht, wie die Gefahr aussah, die auf sie lauerte. Sie hatten Angst vor dem Baum, in den ich die Toten hängte. Sie fürchteten den Nebel, der morgens vom Ufer des Flusses aufstieg. Am Abend des dritten Tages war ihre Angst vor dem unsichtbaren Feind größer als die Furcht vor dem Tyrannen Cabezan. Sie gaben ihre Lager auf, schifften sich mit allen Arbeitern ein und kehrten niemals mehr zurück.«
Adrien hatte seine Zweifel, dass ein einzelner Mann in so kurzer Zeit so viele Gegner töten konnte. Wollte Jules ihn beeindrucken? Oder einschüchtern? Dazu wäre diese Geschichte nicht notwendig gewesen.