Nikodemus fluchte stumm in sich hinein und folgte dennoch dem Troll. Er hatte nicht den Mut, allein in der Wildnis zurückzubleiben.
Das Blumenmädchen
Sie hieß Elodia, diese kleine Schlampe. Und sie war ein Stein auf Adriens Weg. Sie konnte ihn zum Straucheln bringen. Er hatte ein Falrach-Spiel für ihn aufgestellt und alle Figuren, die bislang in seinem Leben von Bedeutung waren, darauf versammelt.
Und er hatte den Jungen ausgehorcht. Er war ein romantischer Trottel. Wahrscheinlich würde er ihm das aberziehen können. Aber Elodia blieb ein Risiko. Sie musste verschwinden. Natürlich hätte er sie selbst töten können. Aber das wäre eine beleidigend simple Lösung. Jules hatte andere Pläne mit ihr. Sie sollte leiden, nicht sterben!
Der Befehlshaber der Wache stampfte ungeduldig mit den Füßen. Eine halbe Stunde standen sie nun hier und ließen den Eingang zum Laden des Fleischhauers nicht aus den Augen. Elodia hatte sich nur flüchtig umgesehen, bevor sie hineingegangen war.
Sie ahnte das Unheil nicht, das sich über ihr zusammenbraute.
Jules spürte, dass der Hauptmann das Mädchen lieber laufen lassen wollte. Aber er fürchtete die blaue Kutte der Priester. Auch wenn Cabezan einst den Mord an Guillaume befohlen hatte, so wurde die Geschichte inzwischen so verdreht erzählt, als hätten die Krieger des Königs versucht, den Priester zu retten. Er duldete die Tjuredkirche, auch wenn er deren Glauben nicht angenommen hatte. Ja, er hatte sogar einen Priester als Berater an seinem Hof. Also war es besser, es sich mit einem Tjuredpriester nicht zu verscherzen. Man konnte nicht ahnen, ob dessen Einfluss bis zum Hof des Königs reichte.
»Habt ihr gesehen, wie viele Blumensträuße sie in ihrem Korb hatte?«, fragte Jules höflich.
»Ist das von Belang?«, entgegnete der Hauptmann gereizt.
»Es ist ein Detail. Wer alle Details beachtet, der geht Lügen weniger leicht auf den Leim. Es waren sieben Blumensträuße.«
Der Hauptmann nickte geistesabwesend. Er war ein verhärmter, älterer Mann. Sicher hatte er früher einmal von Größerem geträumt, als die Wache einer Stadt wie Nan-tour zu befehligen. Vielleicht war er einer von denen gewesen, die ausgeritten waren, um Guillaume zu töten.
Jules hätte leicht in den Erinnerungen des alten Kriegers lesen können, doch er hütete sich davor. Sollte sich sein Verdacht bestätigen, dann mochte er sich vielleicht zu unbedachten Gewalttaten hinreißen lassen. Er hatte Guil laume gemocht. Er war das einzige Kind, das er mit einer Elfe gezeugt hatte. Er wäre zu Großem berufen gewesen! Wohin hätte sein Leben geführt, wo sein Tod doch schon das Glaubensgebäude einer ganzen Kirche zu verändern vermochte. Jules musste sich eingestehen, dabei ein wenig nachgeholfen zu haben. Aber dennoch ...
Es begann zu regnen. Ein eisiger Schauer. Der Hauptmann und seine beiden Wachen suchten Schutz in einem Hauseingang und fluchten leise. Fast hätten sie übersehen, wie Elodia sich davonschlich. Sie hatte jetzt ein Tuch über den Korb geworfen, um ihre empfindlichen Strohblumen vor dem Regen zu schützen.
»Heh!«
Das Mädchen zuckte zusammen, als er sie anrief. »Bringt sie her ins Trockene«, befahl der Hauptmann mürrisch.
Statt das Mädchen einfach zu packen, sprachen die Wachen Elodia freundlich an und baten sie über die Straße. Jules schüttelte den Kopf. Wozu ein hübsches Gesicht und ein ansehnlicher Körper doch alles taugte. Sie war wirklich ein angenehmer Anblick.
Er konnte verstehen, dass Adrien sich in sie verliebt hatte.
»Was hat dich ins Haus des Fleischhauers verschlagen?« Sogar der Hauptmann wirkte weniger bärbeißig als zuvor.
»Ich ... Ich verkaufe Blumen. Strohblumen, jetzt im Winter. Ich ziehe sie selbst. Und färbe sie.«
»Und das hat über eine halbe Stunde gedauert, dem Kerl einen Strohblumenstrauß aufzuschwatzen«, mischte sich Jules ein.
»Er konnte sich nicht entscheiden.«
Jules schlug das Tuch über dem Korb zurück. Deutlich sah man zwei große Würste zwischen den Blumen stecken.
»Ein stattlicher Lohn für einen Strauß Strohblumen«, bemerkte der Hauptmann. Er strich über seine grauen Bartstoppeln und runzelte die Stirn. »Sieben Sträuße. Genau so viele, wie du im Korb hattest, als du das Haus betreten hast. Ich mag es nicht, wenn man mich belügt, Mädchen. Was also hat sich ereignet?«
»Ich ... ich habe den alten Strauß mitgenommen. Deshalb sind es wieder sieben. Ich tausche jede Woche die Strohblumen aus.«
Einen kurzen Augenblick hatte Jules Mitleid mit ihr. Diese Lüge war einfach zu erbärmlich!
»Du tauschst jede Woche Strohblumen aus!«, fuhr der Hauptmann sie nun harsch an.
»Warum? Weil sie welken?«
»Ich …«
»Packt diese Schlampe!«
Wie leicht sie mit solchen Beleidigungen dabei waren! Eben noch war er freundlich gewesen. Jetzt schien er ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Während Elodia sich im Griff der Wachen wand, hob er ihr Kleid hoch und packte ihr zwischen die Schenkel. Sie begann zu weinen.
Der Hauptmann führte seine Finger an die Nase und schnupperte übertrieben laut daran. Dann schlug er sie so heftig, dass ihr Kopf in den Nacken flog. »Man kann noch riechen, was du mit dem Fleischhauer getrieben hast!«
»Bitte, ich …«
»Unzucht ist nur im Badehaus geduldet, du dumme, kleine ... « Er schüttelte den Kopf.
Sollte sein plötzlicher Zorn etwa schon wieder verrauchen? Menschen! »Sie hat den König um den Fünften betrogen«, sagte Jules leise. Jedes Badehaus hatte dem König den Fünften als Abgabe zu entrichten. Cabezan hatte sich diese besondere Steuer vor einigen Jahren einfallen lassen, als seine Schatzkammer wieder einmal leer war und sich abzeichnete, dass der Stadtstaat Marcilla nur mit Waffengewalt überzeugt werden konnte, sich dem Königreich Fargon anzuschließen.
»Ich habe nie Geld genommen«, sagte Elodia mit halb erstickter Stimme. »Nur Würste oder ein Brot oder eine kleine Flasche Apfelwein. Das meiste habe ich am Haus der Heiligen Frauen abgegeben.«
»Jetzt beschmutzt sie auch noch die Kirche«, empörte sich Jules, obwohl er innerlich über dieses Geständnis auflachte.
Eine der beiden Wachen, die sie gepackt hielten, ein untersetzter Mann mit fleischigem Gesicht, stieß ihr den El enbogen in die Seite. »Wie kannst du es wagen, die Heiligen Frauen zu beleidigen, Schlampe!«
Sie knickte in sich zusammen. »Aber es stimmt«, stieß sie stöhnend hervor. »Mein kleiner Bruder ... Sie haben ihn in ihrer Obhut.«
Der Hauptmann hielt den Krieger zurück, als er ihr einen weiteren Schlag versetzen wollte. »Was macht dein Bruder bei den Heiligen Frauen?«
»Es war der letzte Wunsch meiner Mutter, dass er ein Priester wird. Ich bezahle mit Wurst, Brot und anderen Dingen für seinen Unterricht und seine Unterkunft.«
»Was heißt anderen Dingen?«, fuhr sie die Wache an. »Du willst doch nicht etwa behaupten ... «
Elodia hob schützend die Arme über den Kopf.
»Genug!« Der Hauptmann drängte seinen Lakaien aus dem Hauseingang. »Das bleibt unausgesprochen. Wir schaffen sie jetzt ins Badehaus am Fischmarkt. Soll sie dort ihrem schändlichen Tun nachgehen. Damit ist dem Gesetz Genüge getan.«
Das war keine Lösung in Jules’ Sinne. Elodia sollte spurlos verschwinden und nicht in einem der Hurenhäuser der Stadt untergebracht werden, wo Adrien sie womöglich eines Tages noch entdecken würde. »Habt Ihr nicht den Ehrgeiz, Eurem König aufzufallen, Hauptmann?«
Der Befehlshaber der Stadtwache warf ihm einen verständnislosen Blick zu, und Jules ging auf, dass seine Wortwahl ein wenig unglücklich gewesen war. »So wie ich den König kenne, schätzt er es, wenn er über Diebe, die ihn bestohlen haben, selbst zu Gericht sitzen kann.«
»Ihr glaubt doch nicht, dass ihn der fünfte Teil einer Wurst oder eines Brotes interessiert!«
»Ich denke eher, dass ihn diese hübsche Frevlerin ablenken wird. Was habt Ihr zu verlieren, wenn Ihr sie in Eisen an den königlichen Hof schaffen lasst?«
Der Hauptmann strich sich nachdenklich über sein breites Kinn. Begriff er, dass dies seine letzte Gelegenheit war, dem Posten in einer Provinzstadt zu entkommen? »Wenn ich sie wegbringen lasse, zahlt niemand mehr für den Jungen. Die Heiligen Frauen werden ihn auf die Straße setzen. Dann habe ich noch einen Bettler und Dieb mehr in der Stadt.«