Seine Augenlider gehorchten ihm wieder. Er kniff sie zusammen, um sich dem Anblick der Toten zu verschließen. Es half nicht. Selbst mit geschlossenen Augen nahm er noch alles wahr. Er konnte sehen, so absurd das auch sein musste.
»Komm zu uns!«
Niemals würde er gehorchen. Er wusste nicht, welchen Zauber Oblon herbeigerufen hatte. Aber er war sich sicher: der Stimme zu folgen, würde ihn ins Verderben stürzen.
Verzweifelt riss er wieder die Augen auf. Die Hütte um ihn herum hatte sich verändert. Oblon war verschwunden. Ein kleines Feuer brannte, ohne Wärme auszustrahlen. Entlang der Hüttenwände saßen die Ahnen.
Falrach konnte sich umsehen. Die Lähmung seiner Glieder war ganz gewichen.
Oblons Ahnen sahen nicht mehr tot aus. Und auch nicht richtig lebendig. Ihre Augen waren erfüllt von kaltem, blauem Licht, die Gesichter immer noch dunkel und verschrumpelt. Aber jetzt bewegten sie sich. Nicht verstohlen, wie eben noch. Sie machten kein Geheimnis daraus, tot zu sein und zugleich auch nicht.
Manche tuschelten leise miteinander.
Ein altes Koboldweib mit schwerer Muschelkette um den Hals erhob sich. Sie stützte sich auf einen mit verschlungenen Brandmustern bedeckten, hellen Stab. »Da bist du nun also, Falrach. Du bist kein Geist, wie ich sehe.« Sie neigte sanft das Haupt. Aber nicht zu ihm. Er sah sich um. Dicht hinter ihm erhob sich Gestalt gewordene Dunkelheit. Ein Schattenriss mit vage verschwimmenden Rändern. Von ihm ging die Kälte aus, die die Wärme des Feuers auslöschte.
Niemand blickte mehr auf ihn. Alle Kobolde sahen den Schatten an. Manche rückten zum Eingang der Hütte hin. Andere beugten demütig das Haupt. Nur die Alte schien ungerührt zu bleiben.
»Das ist der Schatten, der auf deinem neuen Leben liegt, Falrach. Ollowain. Er ist tot.
Er ist wahrhaftig tot! Auf eine andere Art, als wir es sind. Ausgelöscht. Zerstört für immer. Nur seine Lebenskraft blieb zurück. Gefangen in der Hülle seines Körpers. Sein Wille zu sein. Bald wird er den Willen ausformen, dich zu zerstören. Du musst diesen Schatten loswerden, Falrach. Er ruft Unheil auf dich herab. Und auch auf jene, die bei dir sind. Du musst dieses Dorf verlassen. Sonst trifft das Unheil auch unsere Enkel.«
Falrach war überzeugt zu träumen. Es gab keine Geister! Und wenn er je wieder erwachen sollte, dann würde er Oblon töten, ohne auch nur einen Herzschlag zu zö-
gern. Diese hinterlistige, kleine Schlange!
»Du irrst dich, Elf. Er ist nicht dein Feind. Er hat dich auf diese Geistreise geschickt, damit wir dir helfen. Damit wir sehen, was sich vor dem Auge des Sterblichen verbirgt. Er glaubte, du seiest besessen, und wollte dir helfen. Tu ihm nichts zuleide. Wir wachen über ihn.«
Falrach hoffte, aus diesem Alptraum bald aufzuwachen. Er sah über seine Schulter zu dem Schatten.
»Er wird dich begleiten, wohin immer du gehst. Du musst zu Firaz, wenn du ihn besiegen willst. Sie kann dir helfen. Wir können dir nur helfen zu verstehen.«
»Wer soll das sein?«
»Eine Schamanin«, entgegnete die Alte. »Sie ist machtvoll. Sie ist eine Gazala. Ich kann nicht über sie sprechen. Ihre Zauber schützen sie vor Geistern. Sie lebt im Jadegarten.
Sie solltest du fürchten, wenn du ihr begegnest. Falls du den Weg findest. Der Drachenatem schützt sie.«
»Und wenn ich nicht gehe?«, fragte Falrach.
»Dann wird der Schatten dich verschlingen. Sei nicht töricht, Elf. Die Welt der Lebenden ruft dich zurück. Wir können dich nicht mehr lange halten. Glaube nicht, dies sei ein Traum. Dann wird dein Schatten dich holen.«
Falrach lachte jetzt. Waren es der Maisschnaps oder die Kakteenstücke? Dies alles geschah nicht wirklich. Es war Koboldaberglaube! Und Oblon würde nicht wagen, ihm im Rausch etwas anzutun. Nicht, solange Emerelle lebte.
Die Alte schlug mit ihrem Stab nach seiner Hand. Er wich nicht aus. Warum auch?
Was konnte ihm eine Traumgestalt schon antun.
Scharfer Schmerz fuhr durch seinen Handrücken. »Hüte dich vor deinem Hochmut, Elf. Er ist nicht minder gefährlich als der Schatten.«
»Wer bist du?«
»Geister haben keine Namen mehr. Namen gehören nur den Lebenden. Wir alle sind eins.« Bei den Worten begann sie dünner zu werden und blasser. Ihr Leib verzerrte sich. Ebenso wie die Leiber der anderen Kobolde ringsherum.
Sie hob ihre schlangenhaften Arme und formte aus reisigdürren Fingern einen Trichter. »Geh!«
Wie ein Sturmwind peitschte ihm das Wort entgegen. Die Kobolde wurden zu Rauchfäden. Er stürzte und schrie.
Dann war da noch ein anderer Schrei. Falrach riss die Augen auf. Dicht vor ihm stand Oblon, der ihn mit schreckensweiten Augen anstarrte. »Du bist ja immer noch da, Geist.«
Ohne auf die Nasen und Zehen seiner mumifizierten Ahnen zu achten, drängte er sich an der Wand entlang zum erweiterten Eingang und floh aus der Hütte.
Falrach fühlte sich ganz benommen. Ihm war übel. Er krümmte sich zusammen.
Stechender Kopfschmerz peinigte ihn. Er brauchte etwas zu trinken. Unter Mühen drehte er sich um. Dann stützte er sich auf die Hände auf.
Die glühenden Kohlen im kleinen Feuertopf waren noch immer das einzige Licht in dieser Leichenkammer. Es war gerade hell genug, ihn das dunkle Mal auf seinem Handrücken erkennen zu lassen, dort, wo ihn der Hieb der Geisterfrau getroffen hatte.
Sonnenaufgang
Sie hatte tief geschlafen in der Nacht. Sie hatte das Verhängnis nicht kommen sehen.
Auch jetzt war sie noch nicht erwacht. Melvyn ballte die Fäuste, und die Klingen in seinen Armschienen schnellten vor. Sie waren aus bestem elfischen Silberstahl gefertigt. Sie würden durch Muskeln, Sehnen, ja sogar durch Knochen schneiden. Er würde etliche Trolle töten. Aber er würde am Ende nicht siegen können. Der Elf wusste das.
Deutlich sah er die Schemen der Wächter auf dem verschneiten Bergkamm. Sie gaben sich keine Mühe, sich zu verstecken. Sie wollten, dass er wusste, wo sie waren. Überall, auf allen Bergkämmen ringsherum. Was war geschehen? Warum hatte der Herzog sie beide fliehen lassen? Und nun wurden sie umstellt. War das ein Spiel, so wie eine Katze mit einer Maus spielt?
Wolkentaucher wusste sicherlich auch schon, was geschehen war. Er hielt sich zurück.
Der Schwarzrückenadler war klug genug, um zu wissen, dass auch er keine Wende herbeiführen könnte. Wenn er nahe der Felsnische landete, würden die Trolle angreifen. Und Kadlin hatte nicht die Kraft, um sich an den Beinen des Adlers festzuhalten und einen Flug wagen zu können. Wie er es auch drehte und wendete, sie kamen hier nicht fort. Ihr Weg war zu Ende.
Nachdem er das akzeptiert hatte, überkam Melvyn große Ruhe. Er hatte getan, was er tun konnte. Es nutzte nichts, noch länger mit dem Schicksal zu hadern.
Er dachte an Leylin. Sie war allein in der Höhle am Albenhaupt. Sie hatte entschieden, mit ihm dorthin zu gehen, und auf die Fürstenkrone Arkadiens verzichtet, die ihr als Shandrals Witwe zugestanden hätte. Aber die Elfen Arkadiens waren berüchtigt für ihre Intrigen und Machtkämpfe. Sie beide hatten nach den Kämpfen der Trollkriege Frieden gesucht. Und den konnten sie am besten in der Bergwildnis am Albenhaupt finden. Doch jetzt machte sich Melvyn Sorgen. Leylin war von Kindheit an bei Hof aufgewachsen. Sie war es gewöhnt, Diener für alles zu haben. Am Albenhaupt aber war sie allein. Nach der Palastrevolte gegen Shandral vermochte sie keinem Kobold mehr zu trauen, obwohl ihr Leben verschont worden war und man ihr kein Leid zugefügt hatte.
In den Wochen, die sie dort gemeinsam gelebt hatten, war sie ganz gut zurechtgekommen. Er musste schmunzeln. Nein, nicht wirklich. Sie hatte sich bei allem ungeschickt angestellt. Aber sie hatte den Willen, es besser zu machen. Und zuletzt war es auch ein wenig besser geworden. Sie war eine begabte Zauberweberin.
Er musste sich um sie keine Sorgen machen! Sie konnte fort, wenn sie es wol te. Wenn der Winter einfach kein Ende nahm. Und die Einsamkeit.
Er wünschte, er wäre jetzt bei ihr. Er sehnte sich danach, ihre blütenzarte Haut zu berühren. Neben ihr zu erwachen nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht. Warum war er nur fortgegangen? War er nicht für ein Leben in Frieden geschaffen? Leylin hatte bemerkt, dass er immer rastloser geworden war. Sie hatte ihn in dem Plan, seine Schwester zu besuchen, noch bestärkt. Sie beide hatten ja nicht geahnt, was Kadlin vorhatte. Und statt vernünftig darüber nachzudenken, wie erfolgversprechend es war, sich zu zweit ausgerechnet mit dem Heerführer Orgrim und einem ganzen Trollherzogtum anzulegen, hatten er und Kadlin sich nur gegenseitig immer weiter aufgestachelt, bis sie beide vom sicheren Erfolg des Unternehmens überzeugt waren.