Er würde vielleicht noch hier herauskommen. Ob Leylin wohl versuchen würde, ihn dazu zu überreden, wenn sie hier wäre? Wahrscheinlich nicht. Seine kleine Schwester den Trollen zu überlassen, wäre ehrlos. Mit dieser Schande könnte er nicht weiterleben. Aber er würde sich an Wolkentauchers Beinen festhalten können.
Er blickte zum Himmel. Graue Wolken, schwer vom Schnee, den sie mit sich trugen, trieben tief über ihm hinweg. Wenn ein Schneesturm einsetzte, könnte er den Trollen ebenfalls entkommen. Aber nicht Kadlin. So geschwächt wie sie war, würde auch ein solcher Versuch ihren sicheren Tod bedeuten.
Was ging bei den Trollen vor sich? Warum hatten sie nicht Wort gehalten?
Melvyn sah nach seiner Schwester. Sie hatte sich wie ein Kind eingerollt, die Hände auf ihre Schultern gelegt. Er hatte sie, so gut es ging, zugedeckt. Ihr Gesicht glühte vor Fieber. Oder waren es die Erfrierungen an Stirn, Nase und Wangen, die ihrem Gesicht die rote Farbe gaben? Ihr Atem ging regelmäßig. Wenigstens das. Er untersuchte ihre Hände. Die Frostbeulen waren dunkler geworden. Sie sahen nicht gut aus. Er seufzte.
Niedergeschlagen verließ er die Deckung der Felsnische. Auf dem Hang gegenüber waren nun weit über hundert Trolle versammelt. Und mit jedem Herzschlag wurden es mehr. Hundert Trolle, das war mehr als genug, um Firnstayn dem Erdboden gleichzumachen!
Ein Trupp, gewappnet mit türgroßen Schilden, löste sich aus der dunklen Linie. Sie liefen den Hang hinab, dass der Schnee nur so aufspritzte.
Melvyn blickte zurück. Ein wenig seitlich gab es einen schroffen Felsen. Mit ihm im Rücken würde er länger durchhalten. Er atmete tief aus, lockerte die Schultern und war bereit für sein letztes Gefecht.
Ein schwarzer Tag
Oblon rannte aus der Ahnenkammer in die ersterbende Nacht. Was sollte er tun? Der Riese würde sich rächen! Das war unausweichlich bei dem, was er ihm angetan hatte.
Dabei hatte er es für alle Beteiligten gut gemeint. Für sich, für das Dorf, die Riesin, die ihren Geliebten zurückbekommen hätte. Der Besessene, der endlich wieder Herr seines Körpers geworden wäre.
Er blieb am Dornenwall stehen und blickte zu seiner Hütte zurück. Es gab alte Geschichten, da opferte der Schamane seine erstgeborene Tochter, um die Drachen gnädig zu stimmen, die Regen schickten, um die Ernte zu retten, oder einen Feind vertrieben. Eine Tochter hatte er nicht. Ob es helfen würde, sein Weib, Firandi, zu opfern? Wohl nicht. Vielleicht sollte er sein eigenes Leben als Pfand an bieten, um Unheil abzuwenden. Vielleicht genügte es dem Riesen ja, ihn niederzumetzeln.
Die Beine, die aus dem erweiterten Eingang der Ahnenkammer ragten, bewegten sich.
Bald würde Falrach herauskommen. Bis dahin musste er eine Entscheidung treffen, dachte Oblon.
Das tiefe Dröhnen eines Muschelhorns klang über den Fluss. Nicht jetzt! Hatte sich denn alles gegen ihn verschworen? Er sah den Hügel hinab. Auf der anderen Seite des Flusses stand eine einzelne Gestalt. Sie war zu groß für einen Kobold. Das konnte man schon von Ferne sehen. Die Trolle kamen!
»Aufstehen!«, rief Oblon aus Leibeskräften. »Die Trolle!«
Die Gestalt überquerte den Fluss. Sie hüpfte von Stein zu Stein. Als sie das Ufer betrat, setzte sie erneut das Muschelhorn an die Lippen.
Der Schamane suchte nach Anzeichen dafür, dass der Troll nicht allein war. Bestimmt lauerten irgendwo seine Gefährten. Das morgendliche Zwielicht verwandelte das Land in ein Reich aus grauem Licht und tiefen Schatten.
Das Dorf war zum Leben erwacht. Er hätte nicht rufen müssen. Allein das Muschelhorn verkündete schon, welches Unheil dieser Tag brachte. Firandi klammerte sich an seinen Arm. »Hast du die Geister verärgert? Du hättest die Wand nicht einschlagen dürfen. Jetzt schützen sie uns nicht mehr.«
»Die Trolle wären ohnehin gekommen«, entgegnete Oblon.
»Wo ist die Riesin?«, fragte einer seiner Vettern. »Wir haben die beiden doch die ganze Zeit durchgefüttert, damit sie uns helfen. Wo ist sie? Und was ist mit dem Kerl?«
Oblon hatte einen Einfall. »Holt das Schwert des Riesen!« Erfreulicherweise fragte niemand, warum. Sie gehorchten einfach nur.
Der Troll marschierte unbeirrbar auf das Dorf zu. Allein, so als sei er unbesiegbar. Er war eine stattliche Erscheinung. Eine Holzkeule, die wie eine Kralle einen schweren Stein umschloss, hatte er lässig auf die Schulter gestützt. Er war gut genährt, trug nur einen Lendenschurz und gekreuzte Muschelschnüre über der Brust. Er strahlte Kraft und Zuversicht aus.
Zehn Schritt vor dem Dornenwall blieb er stehen. »Ich bin Douar, die Stimme der Grauhäute. Ich komme, um euch für euren Frevel zu bestrafen. Ihr habt den Tribut nicht entrichtet. Glaubt ihr, stark genug zu sein, das Volk der Trolle herauszufordern?
Wir zertreten euch wie lästiges Gewürm!«
Seine Brüder und Schwestern ringsherum wichen zurück. Nur Oblon blieb stehen.
Douar war eine eindrucksvolle Erscheinung. Er war mehr als einen Kopf größer. Aber der Schamane dachte nur an die Riesen.
»Die Zeit der Grauhäute ist vorbei. Berichte das deinem Volk, Stimme. Geh und komme nie zurück, dann werden du und die Deinen verschont.«
Douar nahm die Keule von der Schulter und trat einen Schritt näher. »Du musst Oblon sein. Man hat mir von dir erzählt, Schamane. Es heißt, du würdest zu oft mit den Geistern sprechen. Du bist nicht mehr ganz von dieser Welt.« Er wandte sich an die anderen. »Schenkt mir seinen Kopf, und ich werde seine Worte vergessen. Ich fordere fünfzig Krüge voller Maiskörner. Trockenfleisch, genug um dreißig Krieger dreißig Tage lang zu nähren. Zwanzig Kürbisflaschen mit Schnaps und drei Weiber, die unsere Dienerinnen sein sollen. Gebt mir all das, und ich werde nicht den Zorn der Grauhäute auf euch herabrufen. Niemand besiegt uns Trolle.«
Oblon trat zur Seite und deutete auf das Schwert, das mitten auf dem Weg im Dorf lag.
Dort, wo seine Männer es hatten fallen lassen, als sie vor dem Zorn des Trolls zu-rückwichen. »Siehst du diese Waffe, Douar? Geh! Ich befehle es dir ein letztes Mal.
Sonst wird der Riese, der dieses Schwert trägt, meinen Zorn zu deinem Volk bringen!«
Douar streckte sich, um die Waffe besser sehen zu können. Einige Herzschläge lang schien er zu zweifeln, was zu tun war. Dann schüttelte er den Kopf, und endlich fing er leise an zu lachen. »Es gibt kein Geschöpf in Albenmark, das eine solche Waffe tragen könnte.«
»Bedenke gut, was du sagst!« Oblon drehte sich um und forderte die Seinen auf, zur Seite zu treten, damit der Troll Fairachs Füße sehen konnte. Aber sie schienen nicht zu begreifen. Vor Angst waren sie wie versteinert.
Douar hob das Muschelhorn an seine Lippen. Ein langer, klagender Laut fuhr durch das Tal. Und die Felsblöcke auf der anderen Seite des Flusses schienen wie durch Zaubermacht lebendig zu werden. Dutzende Trolle hatten sich dort verborgen und standen nun auf wie ein Mann. Sie schlugen ihre Kriegskeulen auf ihre großen Lederschilde und stürmten mit wildem Geheul in den Fluss.
»Dies ist der Tag, an dem dein Volk sterben wird, Oblon.« Douar hob seine Keule. Er nahm kurz Anlauf und sprang durch die Lücke in der Dornenhecke, in der Oblon eben noch gestanden hatte.
Der Schamane wich aus. Dann griff er sich einen mannlangen Stößel, der in einem steinernen Mörser lehnte. Douars Keule sauste nieder. Er fing den Schlag ab, doch die Kraft des Trolls ließ ihn dabei in die Knie brechen. »Wehrt euch!«, rief Oblon verzweifelt, doch seine Leute warfen sich einfach zu Boden und wanden sich wimmernd im Staub.