Er stürmte vor, warf sich, kurz bevor er auf die hölzerne Wand traf, in den Schnee und versuchte mit seinen Krallenhänden unter den Schilden hindurch die Beine eines seiner Gegner zu attackieren.
»Die Schilde nieder!«, gellte die Stimme Orgrims.
Der Troll konnte ihn nicht sehen, das war völlig unmöglich. Er musste erraten haben, was er tun würde. Knirschend fuhren die Holzschilde in den überfrorenen Schnee. Ein Speerstoß, der über die Schildmauer geführt wurde, verfehlte Melvyn knapp. Er sprang auf und wich bis ganz an den Felsen zurück. Sofort begannen die Trolle wieder vorzurücken.
Es gab nur noch eine letzte, verzweifelte Möglichkeit zu entkommen. Wenn Orgrim auch diesen Plan vorausgesehen hatte, dann wäre er binnen weniger Herzschläge tot, dachte Melvyn. Besser so zu sterben, als hilflos gegen die Felsen gedrückt niedergemacht zu werden, entschied er und stieß sich vom kalten Stein ab.
Er stürmte dem Schildwall entgegen. Seine Rechte schnellte vor. Silberstahl fraß sich in Eiche. Er stieß sich ab. Die zweite Kralle schlug gegen den Schildrand. Melvyn zog sich hoch. Einen Lidschlag lang kauerte er auf der Schildkante. Das Gesicht des entsetzten Trolls war weniger als eine Elle von ihm entfernt.
Der Maurawan stieß sich ab und landete im Schnee. Ohne zu zögern, stürmte er geradewegs auf Orgrim zu. Wenigstens diesen einen Troll wollte er töten, bevor er niedergemacht wurde. Er wusste um Orgrims Ruf als Heerführer, und er war sich sicher, dass dessen Tod die Geschichte Albenmarks verändern würde. Ganz gewiss würden die Elfen und Kentauren eines Tages gegen die Herrschaft der Trolle rebellieren. Und dann war es besser, wenn sie nicht gegen Orgrim antreten mussten.
Der Trollfürst gab ihm mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass auch er den Zweikampf suchte. Orgrim hob seinen Kriegshammer, eine Waffe mit einem schweren Granitkopf, und spreizte die Beine leicht.
Melvyn war sich klar, dass er einen schnellen Sieg brauchte. Er würde versuchen, die Waffe zu unterlaufen, dem Troll die krallenbewehrte Linke in den Magen rammen und mit einem Sprung ihm mit der Rechten die Kehle zu zerfetzen. Orgrim trug keinerlei Rüstung. Nichts würde ihn vor den Silberstahlkrallen schützen.
Plötzlich ließ der Troll seine Waffe sinken. Er hob den linken Arm und deutete zur Felswand. »Warte! Sieh zurück!«
Melvyn griff nicht an. Aber blickte auch nicht zurück. War das eine Finte? Jetzt seinen Gegner aus den Augen zu lassen, wäre tödlicher Leichtsinn.
Orgrim schien seine Gedanken zu erraten. Er wich einige Schritte zurück, so dass der Abstand zwischen ihnen größer wurde. Auch gab er seiner Leibwache ein Zeichen, die Waffen gesenkt zu halten.
»Bitte, kämpft nicht!« In der plötzlichen Stille war Kadlins schwache Stimme zu hören.
Melvyn ließ alle Vorsicht fahren und blickte zurück. Seine Schwester hatte sich in der Felsnische erhoben. Unsicher stand sie auf schwachen Beinen. Sie war noch nackt und hielt die Kleider an sich gepresst, mit denen er sie zugedeckt hatte.
»Gehen wir zu ihr?«, fragte Orgrim.
»Was willst du?«, fuhr Melvyn den Trollfürsten an. »Was gibt es noch zu besprechen?«
»Komm mit und höre zu!« Ohne auf Antwort zu warten, setzte der Troll sich in Bewegung.
Melvyn begann zu laufen, so dass er immer zwischen dem Troll und seiner Schwester blieb.
»Ist das die Art, wie Trolle zu ihrem Wort stehen? Du hattest uns freien Abzug versprochen!«
Orgrim ließ sich nicht zu einer Antwort herab.
Melvyn erreichte vor dem Herzog die Felsnische. Breitbeinig stellte er sich vor seine Schwester.
»Eine Frage, Weib.« Orgrim ignorierte ihn weiterhin.
»Hättest du dich an unseren Pakt gehalten? Wärst du in deinem Königreich geblieben?
Oder wärest du wiedergekehrt, um erneut nach der Leiche deines Vaters zu suchen.«
»Ich wäre wiedergekommen«, entgegnete Kadlin mit schwacher Stimme.
Die Worte trafen Melvyn wie ein Dolch in den Rücken. Wie konnte sie so naiv sein!
»Sie hat Fieber ... «
»Das schließt eine ehrliche Antwort nicht aus«, sagte der Troll kühl. Er deutete zu dem Hang. »Ich habe meine Krieger versammelt, um dein Königreich zu zerstören. Ich werde bald nach Albenmark müssen. Und ich habe es bereits erklärt: Als ich das letzte Mal die Nachtzinne verlassen habe, fand ich bei meiner Rückkehr meine Weiber und meine Welpen gemordet. Ihr habt sie bei lebendigem Leib verbrannt.« Der Troll griff sich nach seinem Herzen. »Weißt du, was das für ein Gefühl ist? Ihr habt mir mein Herz herausgeschnitten. Ich lebe noch. Ich atme noch. Aber eigentlich bin ich tot. Ich hatte entschieden, dass du und die Deinen dieses Gefühl kennenlernen sollen.«
»Ich war sehr klein, als ihr Trolle meine Heimat überfallen habt. Aber ich kann mich noch an die erfrorenen Kinder erinnern, die ich halb von einem Leichentuch aus Schnee zugedeckt auf dem Eis der Fjorde habe liegen sehen. Wegen dieses Krieges bin ich von meinem Vater getrennt aufgewachsen.«
»Du weißt, warum wir damals gekommen sind? Es war dein Vater, der als Erster das Schwert erhoben hat, als er den Elfen zu Hilfe eilte!«
»Und jetzt tötest du meine wehrlose Schwester, weil dies die einzige Antwort ist, die dir auf all das Blutvergießen einfällt?«, fuhr Melvyn den Trollfürsten an. »Und wie wird es dann weitergehen? Kannst du mit diesem Häuflein Trolle alle Menschenkinder umbringen, die im Fjordland leben? Oder werden dir welche entkommen, die dann ihrerseits auf Rache sinnen.«
»Welch glücklicher Tag, dass ich mich im Licht deiner Weisheit sonnen darf, Elflein.«
»Was willst du, Troll? Lass uns hinübergehen und den Streit unter uns ausmachen, oder hast du Angst, dich mit einem Elflein zu schlagen?«
»Ich bin hier, um die Menschenkinder besser kennenzulernen. Ich will sicher sein, dass sie niemals mehr ihr Schwert gegen meine Heimat erheben werden. Die Menschen folgen ihr. Jetzt, in dieser Stunde, ist der alte Mann ohne Nase nur noch drei Meilen entfernt. Er hat alle Krieger aufgeboten, die er finden konnte. Jeden Trottel, der auch nur eine Mistgabel tragen kann. Sie alle werden bis zur Mittagsstunde tot sein, wenn ich es will.«
»Schneid mir den rechten Arm ab!«
Melvyn fuhr zu Kadlin herum. Sie sollte besser den Mund halten! Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Vorgebeugt stützte sie sich auf einen Stein. Sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick vor Schwäche zusammenbrechen.
»Schneid mir den Schwertarm ab, dann bist du sicher vor ihm.«
Der Troll legte den Kopf schief. Es war unmöglich, in seinem grauen Gesicht zu lesen.
Zu fremd waren seine Züge. Lächelte er? »Darauf könnte ich mich einlassen«, sagte Orgrim schließlich.
»Ich nicht!« Melvyn hob drohend die Krallenfäuste. »Du rührst sie nur über meine Leiche an.«
»Wenn das dein Wunsch ist, Elflein.« Orgrim hob seine Keule.
»Lass es ihn tun, Melvyn. Bitte.« »Du hast Fieber. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich…«
»Stel dich nicht zwischen mich und mein Volk!« Er sah zu ihr hinüber. Ihre Züge waren hart geworden. Sie bot all ihre Kraft auf, drückte den Rücken durch und stellte sich aufrecht hin. Dann streckte sie ihren Arm vor. »Diesmal wird unser Pakt mit Blut besiegelt. Ich schwöre bei den Göttern des Fjordlands, ich werde keinen Krieg mehr gegen dich führen.«
»Und du wirst nicht mehr in mein Land kommen und versuchen zu stehlen, was du für immer verloren hast.«
Ein Muskel in ihrer Wange zitterte, so sehr spannte sie sich an. »Ja.« Sie sah zu ihm. Ihr Blick gebot ihm zu schweigen. Sie hatte sich in ihr Schicksal ergeben. Was wusste er schon von der Welt der Menschen?
»Du wirst sie umbringen ... «
»Vielleicht beschützen sie ja ihre Götter.«
Ein zynischer Troll! Wer hatte je von so etwas gehört! Jedes Albenkind wusste, dass es keine Götter gab! Sie existierten nur, damit sich die Menschenkinder ihre Welt erklären konnten. Sie wollten immer alles erklären.
»Lass ihn vorbei, Bruder.«
Melvyn gehorchte. Auch der Troll wirkte angespannt. Er lehnte seinen Kriegshammer gegen den Fels. Immer wieder blickte Orgrim zu ihm hinüber, so als fürchte er, hintergangen zu werden. Der Hüne zog ein Messer aus schwarzem Vulkanglas aus seinem Gürtel.