Kadlin hielt noch immer ihren Arm ausgestreckt. Er packte ihre Hand.
Melvyn riss unwillkürlich die Krallenfäuste hoch.
Der Troll schnitt der Königin in die Handfläche. Dunkles Blut troff in den zerwühlten Schnee. Dann schnitt er sich selbst in die Hand und hob sie hoch über den Kopf, wie um sie all seinen Kriegern zu zeigen. Blut rann ihm den Arm hinab.
»Ich schließe Frieden mit dir, Menschentochter. Ich tue es gegen den Rat meiner Ältesten. Sie haben mir gesagt, dass du mich hintergehen wirst. Ich tue es, weil mich dein Mut beeindruckt hat. Du hättest deinen Arm gegeben für dein Volk. Du hast es gewagt, mir ins Gesicht zu sagen, dass du wiederkommen würdest. Davon waren auch meine Berater überzeugt. Hättest du etwas anderes gesagt, dann wärst du jetzt tot.
Vielleicht überlegst du schon jetzt, ob du mich hintergehen willst. Aber ich bin ein Mann, der seine Zukunft selbst formt. Alles ist möglich, wenn wir es wollen.« Wieder winkte er den Kriegern auf dem Hügel zu. »Ich habe entschieden, dir die Leiche deines Vaters zu überlassen. Dann hast du keinen Grund mehr, wortbrüchig zu werden. In meinem Volk ist ein Eid, den man mit seinem Blute schwört, so fest wie das Gebein der Erde. Ich kenne mein Rudel, Menschentochter. Es wird wilde Welpen geben, die über die Grenze gehen werden, um Vieh zu stehlen. Ich werde das nicht verhindern können. Und du wirst deine Rudelführer nicht daran hindern können, dass sie sich hin und wieder daran versuchen, einen Troll zu töten. Doch wir beide wollen uns versprechen, dass wir nicht mehr die Waffen gegeneinander erheben. Und dass nie mehr ein feindliches Heer das Land des anderen betritt.« Er machte eine abrupte Bewegung mit der Hand, so dass Kadlin sein Blut ins Gesicht spritzte. Dann sah er sie erwartungsvoll an.
Seine Schwester blickte fragend zu ihm, doch auch Melvyn wusste nicht, was der Troll erwartete. Er war ernüchtert, fühlte sich vorgeführt und beschämt. Klackend ließ er die Krallen aus Silberstahl in seine Armschienen zurückfahren.
Orgrim kniete vor Kadlin nieder und nahm vorsichtig ihre blutende Hand. Er berührte damit sein Gesicht. Ja, er leckte nach dem Blut!
»Nun ist es mit Blut beeidet«, sagte er so laut, dass es auch die Krieger auf dem Hügel hören konnten. »Bringt ihren Vater.« Leise fügte er hinzu: »Eine letzte Bedingung stelle ich noch. Ich will, dass man mir dein Herz bringt, wenn du eines Tages stirbst, Menschentochter.« Er drehte sich zu Melvyn um. »Du wirst das tun!«
Er war sprachlos. Ihr Herz! Er wusste, dass Trolle besonders tapfere Gegner ehrten, indem sie ihr Herz verspeisten. Sie glaubten, deren Mut in sich aufzunehmen, wenn sie es taten. Aber die Vorstellung, eines Tages das Herz seiner Schwester aus deren Leib zu schneiden ... Das war zu viel!
»Ich denke nicht...«
» ... dass dies ein Hindernis für unseren Frieden sein wird«, sagte Kadlin entschieden, und ihr Blick gebot ihm erneut zu schweigen. Sie hatte ihre letzte Kraft in diesen Blick gelegt. Nun sank sie am Felsen in sich zusammen.
»Bringt ein Fell für sie«, rief Orgrim.
»Wer sich des Wuchers mit Essbarem schuldig gemacht und seiner Herde auf diese Weise Schaden zugefügt hat, der ist einem Rudelführer auszuliefern. Der Rudelführer wird den Straftäter auf einem öffentlichen Platz vor den Augen der Geschädigten bei lebendigem Leib verspeisen.
Ein Händler, der mit falschen Gewichten auf seiner Waage betrogen hat, der ist einem Rudelführer auszuliefern. Auf einem öf entlichen Platze wird ihm das Hundertfache des Gewichtes, um das er betrogen hat, vor aller Augen aus seinem lebendigen Fleisch geschnitten.
Wer einen Viehdieb stellt, bevor jener sein eigenes Land erreicht, der darf den Dieb erschlagen und wird dafür nicht verfolgt werden.
Ein Viehdieb, der es schafft, das gestohlene Vieh auf sein eigenes Land zu treiben, gilt nicht weiterhin als Dieb und darf nicht mehr belangt werden. Wer gegen ihn die Hand erhebt, wird vom Gesetz verfolgt werden.
Ein Händler, der mehr als die Hälfte des Preises, um den er eine Ware eingekauft hat, auf den Weiterverkaufspreis aufschlägt, ist wie ein Dieb zu behandeln. Für den ersten Diebstahl wird er mit einem glühenden Eisen im Gesicht gebrandmarkt. Für den zweiten Diebstahl sol ihm eine Hand abgehackt werden. Wird er ein drittes Mal überführt, so ist sein Leben verwirkt.
Wer zum Schaden der Herde Geschäfte mit dem Geld und Gut anderer macht, der muss den Schaden mit seinem eigenen Geld und Gut begleichen. Sollte dies nicht ausreichen, so wird auch al er Besitz seiner Blutsverwandten eingezogen. Ist auch das nicht genug, dürfen der Betrüger und al seine Verwandten in die Sklaverei verkauft werden. Dies Geld wird ebenfal s an die Geschädigten weitergegeben ... «
Das Buch
»Wer in betrunkenem Zustand einen anderen tottrampelt oder verletzt, der wird dafür in al er Öf entlichkeit streng gescholten werden. Er fällt jedoch nicht unter die Blutsgerichtsbarkeit, da er im Augenblick des Unglücks nicht Herr seiner Sinne war.« Der stets so beherrschte und überhebliehe Elija Glops vermochte seine Stimme kaum im Zaum zu halten, während er die Worte vorlas. »Das ist kein Gesetz! Das ist eine ganz unverhüllte Beleidigung aller Kobolde. Es wird zu Aufständen kommen, wenn dieses Gesetz öffentlich verlesen wird.«
»Warum? Es könnte doch auch ein betrunkener Kobold auf eine Blütenfee treten?«, entgegnete Skanga lustlos. Am liebsten hätte sie Elija aus dem Thronsaal geworfen, aber bald würde sich im Albenstern vor ihnen ein Tor öffnen, und die Schamanin wollte, dass der Lutin beobachtete, ob dabei alles mit rechten Dingen vor sich ging. Ihr Besuch bei Alathaia, der Elfenfürstin von Langollion, war ein einziges Ärgernis gewesen. Diese aufsässige Elfenschlampe hatte unverschämte Forderungen gestellt.
Noch in dieser Stunde würde sie kommen! Und Elija sollte beobachten, ob sie versuchte, Krieger durch das Goldene Netz zu führen, um den Palast zu stürmen. Ihr war jeder Verrat zuzutrauen. Leider hatte Elija sich in den Kopf gesetzt, ausgerechnet jetzt über den ersten Entwurf des Trollgesetzbuches zu reden.
Am liebsten würde Skanga ihn packen und ihm den Fuchskopf von den schmalen Schultern reißen. Vielleicht würde sie sogar von seinem Hirn essen. Er war unbestreitbar schlau. Leider war er unberührbar für sie. Er hatte es geschafft, sich ins Vertrauen des Königs Gilmarak zu schmeicheln. Ihn zu töten, würde mehr Ärger einbringen, als es das kurze Vergnügen wert war.
»Mir liegen fünf Schreiben von Fällen vor, in denen Kobolde durch betrunkene Trolle zu Tode kamen. Der schlimmste Fall hat sich vor neunzehn Tagen in Lavianar in der Provinz Arkadien ereignet. Dort kamen vier Kobolde um, und elf weitere wurden verletzt, weil ein Trupp besoffener Trolle auf die glorreiche Idee kam, ein Kobold-weitwerfen zu veranstalten.«
Skanga blickte zu Birga, die neben ihr stand. In ihrer Aura herrschte das matte Rot beherrschter Wut vor. Vielleicht könnte sie ihre Schülerin dazu aufstacheln, diesen lästigen Besserwisser umzubringen?
»Und die Gesetze zu Wucher, Geldverleihern und Gewinnraten im Handel! Wenn diese Gesetzte in Kraft treten, dann wird der Handel in sich zusammenbrechen. Gesundes Gewinnstreben wird dann lebensgefährlich!«
»Du sagst doch so gern, dass alle Albenkinder Brüder sind, Elija. Warum sollte man dann dulden, dass einige Brüder sehr reich sind und andere aufgrund ihrer Machenschaften bettelarm bleiben? Liegt es daran, dass auch die Lutin gute Geschäfte im Karawanenhandel machen? Sollte nicht jemand anderes als du darüber urteilen?«
»Ich weise jegliche Anwürfe zu Befangenheit entschieden zurück. Jeder weiß, dass ich für das Volk eintrete und keinerlei persönliches Gewinnstreben mein Antrieb ist. Ich habe keinen Gewinn aus dem Aufstand oder meinem Amt gezogen. Und da wir gerade vom Volk reden: Wir sollten auch diesen dümmlichen Begriff Herde aus den Gesetzestexten streichen! Sprechen wir doch einfach vom Volk! Das kann jeder verstehen. Bitte, Skanga, ich sehe ja die löblichen Absichten hinter diesem Gesetzeskodex, aber ein solches Werk sollte man in die Hände von erfahrenen Schreibern und Beamten legen.«