»Ich will einen Text von zehn Seiten und nicht zehn Bücher voll mit einem Recht, das Kundige so verdrehen können, dass jedes beliebige Urteil möglich ist. Du redest so gern vom Volk, Elija. Welcher einfache Küchenkobold könnte sich einen guten Schriftgelehrten leisten, der ihn gegen seinen grausamen Herrn vertritt? Ich glaube, man kann zu allen Verbrechen auf zehn Seiten eine Aussage machen. Halte mich nicht für dumm, weil ich dem Volk der Trolle entstamme. Du wirst…«
Ein schmaler Streifen blendenden Lichts stieg aus dem Schlangenmosaik inmitten des Thronsaals und weitete sich binnen eines Herzschlags zu einem magischen Tor.
Skanga krallte ihre gichtkrummen Finger in die Armlehnen des Throns. Es war so unvermittelt gekommen, dass sie im ersten Augenblick erschrak, obwohl sie gewusst hatte, dass Alathaia diesen Weg nehmen musste.
»Was siehst du?«, fragte sie den Lutin. Die magischen Auren waren so stark, dass sie einander überlagerten und sie nicht ins Goldene Netz blicken konnte. Sie dachte daran, wie Emerelle den Angriff auf ihre Burg abgeschlagen hatte, indem sie einen Albenpfad mit einem Wort der Macht durchtrennt hatte. So viel Tod und Unheil hatte sie damit heraufbeschworen!
»Alathaia kommt allein«, sagte Elija. »Sie scheint ... «
In dem Augenblick trat die Elfenfürstin durch den Albenstern in den Thronsaal. »Sie trägt ein schwarzes Kleid«, flüsterte Birga in ihr Ohr.
Als ob das eine Rolle spielen würde! Skanga sah nur klar die Aura der Elfe. Sie war erfüllt von arroganter Zuversicht.
»Sie hält ein Büchlein in der Hand. Ich glaube ... Ja, auf dem Einband ist Blut.«
Das sah auch Skanga. Den Blutflecken haftete noch eine eigene, wenn auch blasse Aura an. Es konnte nicht viel mehr als eine Woche her sein, dass dieses Blut vergossen worden war.
»Wie ich sehe, Skanga, sind meine Bedingungen nicht erfüllt worden. Emerelles Burg sollte verlassen sein! Nun sehe ich deine hässliche Schülerin und ... Ist es das Gesicht der Fürstin von Vahlemer, das sie da als Maske trägt? Entzückend. Ihr Trolle seid doch immer wieder für eine Überraschung gut. Wenngleich ich die heutige Überraschung, nicht allein in Emerelles Schloss zu sein, nicht schätze. Was soll dieser Lutin hier? Ich bin auf Lutin nicht gut zu sprechen! Jag ihn davon!«
Elijas Aura hatte eine eigenartige Farbe angenommen. Es war das kalte Blau der Angst, aber durchzogen von einem milchigen Unterton. Er gab der Aura etwas beinahe Körperliches. So etwas hatte Skanga noch nie gesehen. Der Lutin hatte zweifel os große Angst, doch nicht um sich.
»Darf ich das Buch einmal sehen?« Elija sprach mit tonloser Stimme.
»Er starrt auf das Buch«, flüsterte Birga, als habe sie erraten, was sie dachte.
»Ist dieser Lutin von irgendeiner Bedeutung?«
»Elija. Geh!«, befahl Skanga in einem Tonfall, der jeden Troll hätte die Flucht ergreifen lassen.
»Dieses Buch. Ich kenne es. Die Prägung im Leder. Ich habe ihr dieses Buch zum Geschenk gemacht. Die Flecken … Ist das …«
»Geh, Elija! Zwinge mich nicht, es dir noch einmal zu befehlen. Was nun in diesen Mauern geschieht, ist nicht für deine Augen oder Ohren bestimmt. Versuche nicht, mich zu hintergehen.« Sie flüsterte ein Wort der Macht. Es war erstaunlich, wie viel Widerstand der kleine Lutin leistete. Seine Körpergröße ließ nicht ahnen, welch machtvollen Willen er besaß. Doch schließlich zerbrach er. Linkisch drehte er sich um und verließ mit steifen Schritten den Thronsaal.
»Ist das der Geist der neuen Herrschaft, dass Kobolde keinen Befehlen mehr gehorchen?«
»Sie lächelt unverschämt«, flüsterte Birga.
»Du möchtest einen Zauber von mir erlernen, Alathaia. Du solltest höflicher sein.«
»Und du brauchst etwas von mir, das du nirgendwo anders bekommen kannst.«
»Ich habe schon einmal Elfen gegen Emerelle ausgesandt. Ich werde es auch ein zweites Mal ohne deine Hilfe schaffen«, entgegnete die Schamanin ruhig. Sie tastete nach ihren Amuletten. Als sie den Albenstein fand, rieb sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Macht des Steins löschte den Schmerz in ihren entzündeten Gelenken.
»Seitdem hat sich alles geändert. Solange Emerelle herrschte, war es nicht schwer, Elfen zu finden, die ihren Untergang wollten. Doch nun wünschen sich fast alle ein schnelles Ende deines Königs Gilmarak. Du brauchst meine Hilfe. Du weißt das. Und deinen Zauber werde ich auch ohne dich erlernen. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Du würdest viel Zeit und viel Blut aufwenden müssen.« Skanga überlegte, wie viel Ärger ihr die Hilfe Alathaias wert war. Das Maß war bald voll! »Was ist das für ein Buch, das der Lutin so unbedingt sehen wollte?«
»Es ist der Schlüssel zu etwas, das mir vor kurzem verlorenging. Du weißt ja, dass diese schmeichlerischen, kleinen Lutin in Wahrheit alle Diebe sind. Du solltest sie vom Königshof vertreiben. Man kann ihnen nicht trauen.«
»Was suchst du?«
Statt sofort zu antworten, schlug die Fürstin das Buch auf. »Sie sind dort verborgen, wo Blätter, die der Wind nie davontrug, vom letzten Zeugnis einer alten Liebe behütet werden.
Das beschreibt einen Ort in dieser Burg.«
»Wer sind sie?«
»Es ist die Rede von drei Karfunkelsteinen! Und nein, ich weiß nicht, welche Namen sie tragen. Sie sind mir gestohlen worden, und ich glaube, sie wurden hierhergebracht.«
Karfunkelsteine? Skanga erwartete nicht, eine ehrliche Antwort zu bekommen, wenn sie Alathaia fragte, was sie damit vorhabe. Es wäre dumm, mit ihr deshalb einen Streit anzufangen. Die Elfenfürstin hatte ärgerlicherweise Recht. Nur sie konnte ihr helfen zu finden, was sie brauchte, um Emerelle zu töten. »Karfunkelsteine«, sagte sie bedeutungsschwer und wusste doch nichts.
»Sie lächelt hochmütig«, flüsterte Birga. »Darf ich aus ihrem Gesicht eine Maske machen, wenn wir sie nicht mehr brauchen? Ich glaube, ich könnte dieses Lächeln für die Ewigkeit einfangen.«
Skanga überging das. Manchmal war Birga auch zu dumm! Sie hatte nicht das Zeug dazu, diese Elfe zu besiegen. Selbst Emerelle fürchtete Alathaia. Sich mit ihr einzulassen, war so, als lege man sich in ein Bett voller Vipern. »Und du glaubst, hier findest du die Blätter, die der Wind nie davontrug? Was haben sie mit deinen Karfunkelsteinen zu tun?«
»Diese Blätter sind belanglos. Ich glaube, es handelt sich um Gedichte von Blütenfeen.
Die anderen Worte sind der Schlüssel. Das letzte Zeugnis einer alten Liebe. Ich habe dieses Büchlein immer und immer wieder gelesen in den letzten Tagen. Ich denke, ich weiß jetzt, wo ich suchen muss. Es ist hier auch die Rede von einer verborgenen Kleiderkammer der Königin.«
Skanga hörte das Rascheln von Buchseiten.
»Hier steht es: Am hintersten Ende sah ich jenes weiße Kleid, das sie auf dem Begräbnis Fairachs getragen hatte. Seitdem hatte sie es nicht mehr berührt. Ich glaube, dieses Kleid ist das Zeugnis einer alten Liebe. Dort, wo die Weidenpuppe mit diesem Kleid steht, muss ich suchen! Im Turm der Königin. Ganz oben unter dem Dach. Dort verbirgt sie ihre Schätze.«
»Ich glaube nicht, dass ich meinen alten Knochen den Aufstieg auf den Turm zumuten will.«
»Ich hatte ohnehin die Absicht, allein zu gehen.«
»Birga wird dich begleiten, werte Freundin. Das ist mein letztes Wort. Die Trolle sind die Herren von Burg Elfenlicht. Du wirst nichts an dich nehmen, ohne dass Birga es sieht. Und versuche nicht, sie zu hintergehen!«
Endlich sah Skanga einen Anflug von Zorn in Alathaias Aura. Es war nur ein kurzes Aufflackern. Die Elfe verstand es meisterlich, ihre Gefühle zu beherrschen. Der Fürstin war sicherlich bewusst, dass sie in ihrer Aura lesen konnte. Und wie viel ihre blinden Augen noch sahen.