»Was für ein Vertrauensbeweis, dass du mir deine Schülerin überlässt! Du schmeichelst mir, Skanga.« Sie verneigte sich. »Wenn du nichts dagegen hast, werde ich mich nun auf die Suche nach dem Diebesgut machen.«
»Geht!«
Skanga lauschte auf die Schritte der beiden, die bald in der Ferne der weiten Palasthallen verklangen. Karfunkelsteine! Was wollte die Fürstin damit? Skanga kannte sie nur aus Märchen. Da hieß es, dass ein Karfunkelstein im Augenblick des Todes eines Drachens entstand. Sein Lebenswille, seine Magie, sein Bewusstsein, alles, was ihn ausmachte, zog sich in seinem Herzen zusammen und wurde zu einem Stein. Angeblich unterschieden sich diese Steine in nichts von belanglosen Feldsteinen an einem Wegrand. Sie waren etwas kleiner als eine Koboldfaust. Ihnen schien keinerlei Magie innezuwohnen. Und gingen sie einmal zwischen anderen Steinen verloren, dann war es fast unmöglich, sie wiederzufinden.
Skanga erinnerte sich an eine Geschichte, in der es hieß, man könne mit Karfunkelsteinen Warzen behandeln. Sicher wusste auch Birga davon. Hoffentlich war sie nicht so töricht zu versuchen, Alathaia einen der Steine zu stehlen.
Die Traumwächter
Als Emerelle auf dem Felskamm hoch über dem Dorf stand, wusste sie, dass sie zu spät kam. Scharen grauhäutiger Kobolde stürmten Oblons Dorf. Sollten das die angeblichen Trolle sein? Das Erschrecken traf sie so tief, dass die Zeit aus reiner Gehässigkeit langsamer zu verstreichen schien, damit sie jede Einzelheit des Unabwendwendbaren in sich aufnehmen konnte. Sie sah die merkwürdigen Fratzen auf den Schilden der Krieger. Sah all die kauernden Kobolde, die das Unheil wehrlos über sich ergehen ließen. Doch nicht dies war es, was sie so tief berührt hatte. Sie sah Falrach zu Boden gehen. Als sein Sturz endete, begann ihrer. Sie sprang! Ohne zu denken, stürzte sie sich die Klippe hinab. Dabei breitete sie die Arme aus wie Flügel, nur dass sie kein Vogel war. Der Wind verfing sich nicht so sehr in ihrem flatternden Gewand, als dass er sie getragen hätte. Obwohl sie sich mit aller Kraft abgestoßen hatte, traf sie fast unmittelbar ein scharfer Schmerz am linken Fuß. Sie hatte eine vorspringende Felskante gestreift.
Der Schlag verwandelte den Flug mit ausgebreiteten Armen in ein trudelndes Chaos.
Und noch einmal strafte sie die Zeit. Sie war wie einer jener wunderlichen Gummi-klumpen gewesen, mit denen die Baumwanderer aus den tiefsten Dschungeln Vahan Calyds handelten. Jener Klumpen, die man zu erstaunlicher Länge auseinanderziehen konnte. Hatte sich die Zeit eben noch zu einem endlosen Augenblick des Schreckens gedehnt, so schnellte sie nun in sich zusammen. Alles ging zu schnell, um einen klaren Gedanken zu fassen. Der Grund am Fuß der Klippen sprang ihr entgegen. Das rechte Wort der Macht wollte ihr nur mit quälender Langsamkeit über die Lippen kommen.
Der Schmerz im Fuß drohte ihr einen Aufschrei statt eines Zaubers zu entreißen.
Endlich stieß sie dieses widerspenstige Wort hervor, das sich an ihre Zunge krallte wie eine Zecke in zarte Nackenhaut. Die letzte Silbe und der Aufschlag kamen fast zugleich. Nun war es ihr Körper, der in sich zusammenschnellte. Der einen Schlag erfuhr, der sie jeden Knochen, jede Muskelfaser, jede zum Zerreißen gespannte Sehne fühlen ließ. Sie kam mit den Füßen zuerst auf und versuchte den Aufschlag zu mildern, indem sie in eine kauernde Stellung zusammenschnarrte. Der Fels erbebte unter der Wucht ihres Aufschlags. Die Risse im Stein offenbarten ihr wohlgehütetes Geheimnis. Das, was sie in jedem Augenblick des Wachens und auch des Schlafes durch Magie, die längst ein Teil ihrer selbst geworden war, verbarg. Selbst während der langen Ohnmacht nach ihrer Verwundung in Vahan Calyd hatte dieser Zauber nicht aufgehört zu bestehen.
Sie schnellte vor, fort vom zerschmetterten Stein. Sie lief dem Schlachtgetümmel entgegen. Sie versuchte den Lauf der Zeit zu überrunden. Noch während sie lief, zog sie ihr Schwert. Sie spürte die Hitze in ihrem Blut, die sie so sehr fürchtete. Den Jähzorn, der ihr kaltblütiges Denken, für das sie gerühmt und gefürchtet war, zerschmolz. Eine Hitze, die nur noch einen einzeln rot glühenden Gedanken kannte. Ollowain! Sie würde es nicht zulassen, dass er starb.
Mit einem weiten Satz war sie über die Dornenhecke hinweg. Sie nutzte nicht die Lücke, durch die sich die grauhäutigen Kobolde drängten. Sie trat auf ein gewölbtes Lehmhüttendach, das sie gerade lange genug trug, dass sie sich abstoßen konnte, bevor es mit einem mürrischen, dumpfen Geräusch in sich zusammenbrach.
Sie landete auf einem grauen Nacken, der mit überraschtem Knacken so gründlich zersplitterte, dass rot umrandete Knochenstücke gleich Frühlingsblüten, die den Schnee bezwangen, durch lehmgraue Haut sprossen.
Ihr Schwert beschrieb einen silbernen Bogen durch Lederschilde, Speerschäfte, lebendiges Fleisch und eine trockene Hüttenwand.
Kobolde kletterten auf Ollowains Leib. Sie stachen mit steinernen Speerspitzen nach ihm. Die grauen Krieger triumphierten grinsend über den Riesen, bis das Jubelgeschrei der vermeintlichen Sieger in plötzlicher Stille erstickte.
Der, der gerade mit seinem Obsidianmesser eines von Ollowains Augen aus dessen Höhle hebeln wollte, war der letzte, der verblüfft aufblickte. Zu spät, um der Klinge zu entgehen, die Emerelle in blindem Zorn geschleudert hatte.
Sie traf den Kobold mitten in der Brust und riss ihn fort von seinem Opfer. Wie man einen Schmetterling mit einer Nadel auf ein dünnes Brett spießt, um ihn für die Ewigkeit zu konservieren, so spießte Emerelles Schwert den Kobold auf die Lehmwand von Oblons Hütte.
Während die eben noch übermütigen Riesenbezwinger vor Schreck wie versteinert standen, war die Königin schon über ihnen. Sie sah Ollowains Blut auf den Speer spitzen und hatte das Gefühl, dass ihr Herz Magma in ihre Adern pumpte.
Ihre Rechte schnellte vor und traf den, der versucht hatte, mit seinem Speer das feste Leder der Elfenstiefel zu durchdringen. Der Schlag traf jenen Knorpel, der hoch in der Kehle saß, und dieser wiederum zerquetschte Speiseröhre und Luftröhre des Kobolds.
Emerelle entriss dem Sterbenden seinen Speer. Wieder schien die Zeit ihr einen Streich zu spielen und langsamer zu werden. Ihre Sinne waren weit geöffnete Tore, die alles rings um sie herum zu einem großen Bild fügten. Einem Bild, weit umfassender als jener schmale Ausschnitt, der sich ihren Augen darbot.
Sie roch, wie sich die Gedärme des sterbenden Kobolds entleerten. Sie war sich jedes Tropfen Angstschweißes bewusst, der durch lehmverstopfte Poren sickerte. Sie hörte die zischelnden Worte der Angst und des Hasses, ganz gleich, wie leise geflüstert wurde. Und sie hörte das Geräusch der beiden fliegenden Obsidianäxte, die auf ihren Rücken zielten.
Sie spürte die Blicke. Jeden einzelnen, so als säßen die Koboldaugen gleich Schneckenaugen auf Fühlern, die sich zu grotesker Länge streckten, bis Blicke sie buchstäblich berührten. Sie spürte den feinen, von den stampfenden Füßen der Krieger aufgewirbelten Staub in der Luft, der sich langsam senkte und die feinen Härchen ihrer Arme streifte und ihren Mund mit stumpfem Geschmack füllte.
Sie fuhr unvermittelt herum. Ihr Speer schnellte hoch. Das Stichblatt traf die wirbelnde Axt seitlich und lenkte ihren Flug ab. Sie verfehlte sie nur wenige Zoll und spaltete hinter ihr das erstaunte Gaffen im Antlitz eines grauhäutigen Kobolds.
Bei der zweiten Axt verschätzte sie sich. Es war weniger als ein Lidschlag. Weniger als der winzige Augenblick, den ein Sandkorn brauchte, um durch die Enge eines Stun-denglases zu sickern. Die Spitze des Speeres traf genau auf die Schneide der Axt, statt das Blatt seitlich zu berühren. Das schwarze Vulkanglas zerbarst in tausend nadelspitze Splitter. Emerelle schloss die Augen. Obsidian schnitt in ihr Gesicht. Alle Umstehenden schrien auf. Gepeinigt von den feinen, schwarzen Geschossen, die jenen, die sie unglücklich trafen, für immer das Augenlicht löschten.
Nun wichen alle von ihr zurück. Niemand mehr wagte es, die Hand gegen sie zu erheben. Flüchtig bemerkte Emerelle Oblon. Seine Kehle war von mehreren Schnitten zerfetzt und bis zur Wirbelsäule offen gelegt. Der Schamane starrte mit leerem Blick in den weiten, klaren Himmel. Schon tummelten sich erste Fliegen auf dem gerinnenden Blut, das so gierig vom staubtrockenen Boden getrunken worden war.