Oder bedeuteten Spitzel das Ende von Freiheit? Konnte Freiheit, die man gewährte, wenn man tiefer blickte, nicht in Wahrheit auch ein willkommener Deckmantel für Verantwortungslosigkeit sein?
Nie, seit sie ihren Thron aufgegeben hatte, war sie sich ihrer Orientierungslosigkeit so bewusst gewesen wie jetzt. Sie war nicht einfach eine fahrende Ritterin geworden. Sie hatte sich treiben lassen. Ohne Ziel. Und Falrach hatte darunter gelitten. In Feylanviek, hier unter den Kobolden und als sie ihn in den Armen hielt und Ollowain genannt hatte.
Was war Liebe? Die Seele eines Elfen konnte man am ehesten mit jenen von unglaublicher Lebenskraft erfüllten Bäumen aus dem tiefen Süden vergleichen. Man konnte sie fällen, ja sogar verbrennen. Solange nicht auch die letzte ihrer Wurzeln zerstört wurde, keimten sie erneut. So war es mit der Widergeburt der Elfenseele. Ein neuer Baum keimte aus einer alten Wurzel. Und natürlich unterschied er sich von dem, den er ersetzte. So war es mit Falrach und Ollowain. Falrach war für sie gestorben, und sie hatte ihre Liebe für ihn jahrhundertelang nicht vergessen können. Dann wurde seine Seele in Ollowain wiedergeboren. Und der weiße Ritter war ein völlig anderer.
Sie hatte sich neu verliebt. Still, wohl wissend, dass ihre Liebe von Ollowain nicht erwidert wurde, auch wenn er ihr treuester Diener war.
Warum konnte sie den Mann, der von einem rätselhaften Zauber ausgelöscht worden war und der sie nicht geliebt hatte, nicht vergessen? Warum kehrte ihre Liebe zu dem Mann, der sie tatsächlich liebte, nicht zurück? Dachte man mit kaltem Blut darüber nach, dann war ihr Glück zum Greifen nahe. Warum nahm sie Fairachs Liebe nicht einfach an?
Oder sollte sie jeglicher Liebe entsagen, um erneut nach dem Thron zu streben? In Vahan Calyd, bei der nächsten Königswahl. Wenn die Fürsten, die dort versammelt waren, sie zu ihrer Königin bestimmten, dann könnte sie die Herrschaft zurückerobern, ohne einen einzigen Tropfen Blut zu vergießen. War das der Weg, den ihr das Schicksal bestimmt hatte? Lag es überhaupt in ihrer Macht, ihrem Leben eine andere Wendung zu geben?
Sie war ratlos. »Bringt mir den Anführer der Grauhäute«, sagte sie mit leiser, aber durchdringender Stimme. Sie wusste, dass vor dem Vorhang aus Steinen, Kürbisker-nen und Lederstreifen drei Kobolde kauerten, die darauf warteten, dass sie entschied, wer künftig Oblons Platz als Schamane und Stammesführer einnehmen sollte.
Nur wenig später stieß man den Alten in die Totenkammer. Auch sein zweites Auge war nun zugeschwollen. Es sah aus, als begännen die betrogenen Kobolde nun Rache an den falschen Trollen zu nehmen.
»Was weißt du über die Yingiz?«
Der Kobold fuhr sich mit seiner langen, schmalen Zunge über die Lippen. Sie erinnerte Emerelle an eine Schlangenzunge, auch wenn sie nicht gespalten war.
»Es sind Geschöpfe voller Hass. Sie beneiden uns um unsere Welt. Sogar um die Wüste. Und sie beneiden uns um unsere Körper.« Er blinzelte sie aus seinen zugeschwollenen Augen an, als wolle er die Wirkung seiner Worte prüfen.
Emerelle sagte nichts. Ihr Gesicht blieb ohne Regung.
Zögerlich sprach er weiter. »Es gibt magische Pfade von großer Macht. Mein Volk kann sie nicht betreten. Die fuchsköpfigen Drachenreiter, von denen du einen in deinem Gefolge hast, reisen auf ihnen. Manchmal, wenn ich die Wüste durchquere, finde ich einen dieser magischen Pfade. Ich kann sie spüren. Sie bilden ein großes Netz. Die Alben haben es erschaffen.
In diesem Netz sind die Yingiz gefangen. Doch hier, wo wir leben, sind die Maschen des Netzes sehr weit. Vielleicht wurde es beschädigt, als die Drachen hier kämpften.
Die Yingiz kommen hier unserer Welt näher als anderswo. Sie können nicht in sie hi-neintreten. Aber ihre Stimmen sind manchmal in unseren Köpfen. Und sie dringen in unsere Träume, um uns Angst zu machen und zu schlimmen Taten zu verleiten. Wenn ein guter Mann plötzlich böse wird oder ein Weib zänkisch, dann sind sie von den Yingiz verführt. Sie bringen das Übel in die Welt. Geh hinaus in die Wüste. Man kann zehn Tage wandern, ohne einen einzigen der magischen Pfade zu kreuzen. Dort gibt es nichts. Kein Leben. Die Nähe der Yingiz vermag kleine Geschöpfe wie Vögel, Käfer oder Echsen zu töten.«
Seine Worte erinnerten Emerelle an jene dunklen Tage auf Burg Elfenlicht, als die Blütenfeen starben oder flohen und das Lachen aus den Mauern des Palastes wich.
Konnte der Alte davon gehört haben? Oder sprach er die Wahrheit? Sie hauchte ein Wort der Macht und griff nach seinen Gedanken. Bis in sein Innerstes drang sie vor.
Für sie war es keine Lüge, wenn sie sich Trolle nannten. Sie glaubten zutiefst daran, dass sie Trolle waren. Es war ganz, wie er gesagt hatte. Sein Volk hatte diese Lüge so lange mit sich getragen, bis sie für sie zur Wahrheit geworden war. Und auch was er über die Yingiz sagte, glaubte er. Aber war es deshalb wahr? War es nicht allein das Drachenfeuer, das dieses Land so unwirklich machte? Waren die Schatten der Yingiz hier näher als anderswo in Albenmark?
»Erzähl mir von den Traumfängern, Dobon.« Sie hatte einiges von den obskuren Ritualen seines Volkes in seinen Gedanken gelesen, aber sie wollte es aus seinem Munde hören.
»Du kennst meinen Namen?« Der Kobold fuhr erschrocken auf. »Wer bist du?«
»Eine Feindin der Yingiz. Manche sagen, ich sei schlimmer als sie. Im Gegensatz zu ihnen bin ich aus Fleisch und Blut. Und du kannst sitzen bleiben, denn es gibt keinen Ort, an dem du vor mir sicher wärst, wenn ich mich entscheiden sollte, dir nach dem Leben zu trachten.« Kaum waren die Worte über ihre Lippen, taten sie ihr leid. Lag es an der Nähe der Yingiz, dass sie sich schneller gehen ließ als früher? Hatte das Gift ihrer reinen Boshaftigkeit auch sie berührt? Sie dachte an Feylanviek. Nein, sie hatte sich schon, bevor sie hierhergekommen war, nicht mehr unter Kontrolle gehabt.
Dobon wich nicht weiter zurück. Aber sein Atem ging schwer. Ohne Zweifel hatte er ihr jedes Wort geglaubt. »Bist du ein Devanthar?«
Sie lachte laut auf. Das war grotesk! »Nein.« Woher wusste er vom alten Feind? Der Krieg zwischen Alben und Devanthar lag so lange zurück, dass die meisten Legenden darüber erloschen waren. »Nun erzähl mir, wie man Träume fängt.«
»Es sind fast nur Männer, die Träume fangen dürfen, obwohl unsere Frauen es besser vermögen. Die Gefahr ist für Frauen größer. Wenn sie ein Kind in ihrem Leibe tragen, mag es geschehen, dass die dunklen Träume der Yingiz es töten. Oder schlimmer noch, sie könnten versuchen, dessen Seele zu fressen, um in seinem Leib geboren zu werden.
Wenn Frauen Traumfänger werden, dann geben sie den Umgang mit Männern auf. Sie leben nur noch für die Traummagie. Vielleicht macht sie gerade das stärker.« Er sprach langsam und stockend. Kein Wort kam unbedacht über seine Lippen. Doch Emerelle hatte nicht das Gefühl, dass er es tat, weil er sie belügen oder etwas vor ihr verbergen wollte. Er hatte einfach nur Angst vor ihr.