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»In jeder Nacht ziehen unsere Traumfänger aus, um sich den Yingiz zu stellen. Stets sind sie allein. Ihre Kämpfe dulden keine Zuschauer. Ein Traumfänger beginnt schon früh am Tag damit, sich für die Nacht vorzubereiten. Er reibt seine Haut mit frischem Lehm ein. Dann erwählt er einen Vertrauten, um ihm mit Kalk oder zerstoßener Holzkohle das Traumnetz auf den Leib zu malen. Es ist ein magisches Muster. Keine zwei sehen gleich aus. Der Traumfänger weiß, welche Linien und Zeichen in dieser Nacht die Yingiz locken werden, denn er trägt ein Stück trockenes Hattah im Mund, um seine Magie zu stärken. Er zeichnet mit einem Stab das Muster in den Sand. Und sein Vertrauter überträgt es dann sorgfältig auf seinen Leib. Das dauert bis weit in den Nachmittag. Dann verlässt der Traumfänger das Lager. Er geht immer allein. Das Hattah führt ihn. Sein einziger Schutz sind die Geister unserer Ahnen, die immer nahe sind. Er sucht einen Ort, der geeignet ist, dunkle Träume einzufangen, bevor sie die arglosen Schlafenden erreichen. Es ist immer ein Ort, der sich über das Land erhebt. Der Kamm einer besonders hohen Düne. Ein Berg oder eine der einsamen Felsnadeln tief in der Wüste. Sobald der rechte Ort gefunden ist, speit der Traumfänger die Reste des Hattah aus, denn es würde ihn schwächen, wenn er sich den Seelenfressern stellt. Wenn die Dämmerung kommt, beginnt er zu singen. Jeder hat ein anderes Lied. Und er nimmt eine Muschel in den Mund. Du hast sie sicher gesehen.

Kleine, gedrehte Muscheln, die ein wenig wie Hörner aussehen. Unsere Traumfänger tragen sie als Schmuck.«

Emerelle nickte kurz. Sie sagte nichts, um Dobons Erzählung nicht unnötig zu unterbrechen. Er sprach jetzt endlich freier, ohne zu stocken.

»Ich glaube, es ist wichtig, einen Platz zu wählen, der nahe beim Himmel ist. Weißt du, die Yingiz hausen in der Finsternis des Himmels. Manche glauben sogar, die Finsternis kommt von ihnen.«

Die Königin hielt das für dummen Aberglauben, aber sie schwieg.

»Die bösen Träume schweifen über das Land, wenn die Dämmerung sich senkt. Die Traumnetze locken sie an. Ein Traumfänger schläft nicht wirklich. Täte er das, dann wäre er den Träumen ausgeliefert, wie alle anderen auch. Er ist in Trance. In einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Die Geister unserer Ahnen sind dann zum Greifen nahe, sie machen den Traumfängern Mut. Wenn die bösen Träume kommen, dann muss man sie durchleben, auch wenn man nicht schläft. Sie werden eingefangen. In dem kleinen Müschelhorn, das jeder Traumfänger auf seiner Zunge trägt. Die bösen Träume, die die Yingiz schicken, verirren sich in den Windungen der kleinen Muschel. Sie können dort nicht mehr hinaus. Neunundneunzig Nächte lang muss man die Muschel verwahren. In dieser Zeit verliert der Traum all seine Kraft. Danach darf der Traumfänger das Muschelhorn als Schmuck tragen, zum Zeichen dafür, wie er gegen die Yingiz bestand.«

Das alles kam Emerelle sehr abwegig und zutiefst unglaubwürdig vor. »Wie wird der Traum gefangen? Das habe ich nicht ganz verstanden. Was tut der Traumfänger?«

Dobon seufzte leise, als habe er es mit einem begriffsstutzigen Kind zu tun. »Er durchlebt den Traum, nur dass er dabei nicht wirklich schläft. Er kann das Böse beherrschen. Die Geister unserer Ahnen helfen ihm dabei. Es ist das Böse, die Essenz des Traums, das Gift, das übrig bleiben würde, wenn man aufwacht, das er in der Muschel einfängt. Es ist gefährlich. Manchmal beginnen die Traumfänger in ihrer Trance wild zu tanzen. Oder sie schreien und schlagen mit den Armen um sich. Sehr selten kommt es vor, dass sich einer zu Tode stürzt. Das geschieht, wenn das Böse im Traum zu stark ist. Wenn es sich nicht einfangen lässt.« Der Alte senkte den Kopf. Er wirkte, als hätten traurige Erinnerungen ihn übermannt.

Emerelle ließ ihm Zeit, wieder zu sich zu finden. Ganz glauben mochte sie seine Geschichte nicht. Sie war der Überzeugung, dass das Hattah eine Rolle bei den bösen Träumen spielte und auch dabei, wenn die Traumfänger zu tanzen begannen. Wer in Trance auf der Spitze einer Felsnadel tanzte, der musste nicht über einen Traum verzweifelt sein, um sich zu Tode zu stürzen. Vielleicht glaubte der Alte ja wirklich alles, was er erzählte. Die Grauhäute hatten ja auch geglaubt, Trolle zu sein.

Endlich fasste sich Dobon wieder. Aber der Trotz war aus seinem Blick gewichen. »Du hast heute gesehen, wie wir kämpfen. Ereignisse dieser Art sind selten. Es kommt fast nie vor, dass einer der Stämme die Abgaben verweigert. Beurteile mein Volk nicht allein danach. Wir sind keine Mörder und Plünderer.«

»Natürlich nicht«, entgegnete sie ironisch. »Die Toten waren nur ein Missverständnis.«

»Ja, so ist es.«

Emerelle war sich nicht sicher, ob er unglaublich dreist war oder einfach ihre Ironie nicht begriffen hatte. Nachdem sie einander eine Weile schweigend angesehen hatten, blieb ihr keine andere Wahl, als deutlicher zu werden. »Dein Volk erschafft nichts. Ihr droht den anderen Stämmen mit Mord und Totschlag. Und heute habt ihr bewiesen, dass ihr auch gewillt seid, eure Drohungen wahrzumachen. Ihr lebt einzig von der Arbeit anderer. Und es geht euch gut dabei. Deine Krieger sind alle wohlgenährt, einige sind richtiggehend dick. Hier im Stamm sieht keiner aus wie ihr. Du kannst in jede Hütte gehen. Alle sind ausgemergelt und schwach. Weil sie euch ernähren, die ihr ihnen das Mark aus den Knochen saugt.«

Dobon hob abwehrend die Hände. »Es ist nicht so, wie du es schilderst. Wir beschützen sie. In jeder Nacht. Wir bezahlen mit unserem Blut für ihren ruhigen Schlaf, und sie wissen es nicht einmal. Du kannst dir nicht vorstellen, was für Träume es sind, die wir für sie träumen!«

»Das kann ich in der Tat nicht«, entgegnete sie scharf. Inzwischen war sie überzeugt, dass Dobon ihr nichts als Lügen auftischte. Zu absurd war diese Geschichte. »Ich werde selbst Traumfängerin sein und die Wahrheit deiner Worte prüfen.«

Der Kobold sah sie fassungslos an. »Du bist keine von uns. Vielleicht kommen die Träume nicht zu dir.«

»Das wäre ein großes Unglück für dich, denn dann würde ich dich für einen Betrüger und Mörder halten. Und ich würde Oblons Witwe das Urteil über dich und dein Volk fällen lassen.«

»Und das wäre dann Gerechtigkeit?«, entgegnete er bitter.

»Wenn du die Wahrheit gesagt hast, hast du nichts zu befürchten.«

»Was geschieht, wenn du dem Übel nicht widerstehen kannst? Wenn du stirbst?«

»Dann hast du wohl nicht gelogen. Ich werde Anweisung geben, dass man dich und die Deinen in diesem Fall ziehen lässt.«

Dobon nickte nachdenklich. »Du ahnst nicht, in welche Gefahr du dich begibst.«

Einen Moment wollte sie antworten, er könne nicht erahnen, welche Gefahren sie überlebt habe, doch dann ließ sie es auf sich beruhen. Wer war er, dass sie ihm mehr als nötig von sich offenbarte.

Sie wies ihn mit knapper Geste an, die Totenkammer als Erster zu verlassen. Sie musste auf die Knie gehen, um durch die niedrige Türöffnung zu gelangen, und sie wollte nicht, dass er dabei Gelegenheit hätte, ihr auf den Hintern zu starren. In Anbetracht der Tatsache, dass sie angekündigt hatte, sich auszuziehen und mit Lehm einzureiben, mochte das albern erscheinen. Aber er würde nicht Zeuge ihrer Nacktheit sein!

Falrach war zu Kräften gekommen. Er kauerte neben dem Eingang zur Totenkammer und begrüßte sie mit einem melancholischen Lächeln. »Wie es scheint, kann ich nicht allein auf mich aufpassen.«

Es war gewiss nicht gerade feinfühlig, aber sie eröffnete ihm umgehend, dass sie gedachte, das Dorf für ein paar Tage zu verlassen, um in der Wüste für sich allein zu sein.

Er erhob keinen Widerspruch. Er versuchte auch nicht herauszufinden, warum sie es tat. Man konnte das als höflich betrachten. Genauso hätte sich wahrscheinlich Ollowain verhalten. Dennoch war sie gekränkt. Ihr Abschied verlief frostig. Sie berührten einander nicht einmal. Er aus scheuer Zurückhaltung, was früher so gar nicht seine Art gewesen war. Und sie, weil sie einfach verstimmt war. Sie wusste, dass sie ihn ungerecht behandelte. Wahrscheinlich dachte er jetzt, er würde niemals das Richtige tun, ganz gleich, was er auch versuchte.