Sie sagte Dobon, er solle ihr eine der Frauen schicken, die zu den Traumfängern gehörten. Dann verließ sie das Dorf und suchte sich eine abgelegene Stelle am seichten Fluss. Einen Ort, der von großen, ockerfarbenen Felsen gegen Blicke vom Dorf abgeschirmt war. Dort wartete sie. Die Wüste und die Einsamkeit, die sie erwarteten, waren ihr willkommen. Sie musste ihren Weg finden. Und die Kraft, ihn dann zu gehen und sich gegen alle weiteren Fragen und Zweifel zu verschließen. Vielleicht war das Hattah ganz hilfreich für den Anfang.
Stunden vergingen. Die Mittagszeit war längst vorüber, als sie zögerliche Schritte auf dem festen, ausgedorrten Boden hörte, die von leisem Klacken begleitet wurden.
»Hier«, sagte Emerelle.
Der Königsmacher
Orgrim trat auf den Hügelkamm und fluchte. Ein Blick genügte ihm, um zu erahnen, was geschehen sein musste. Er sah den toten Späher. Den Krieger und die Menschenkinder, die niedergemacht worden waren. Seine Krieger hatten die Verteidigungslinie auf dem gegenüberliegenden Hügel durchbrochen, und das Gemetzel war in vollem Gange.
»Halt!« Seine Stimme übertönte Schreie und Waffenlärm. »Halt! Krieger der Nachtzinne!«
Voller Stolz sah er, wie sich die Seinen aus dem Kampf lösten - nicht ohne noch ein paar Verwundete niederzumachen und einige der Leichen für ein abendliches Festmahl mitzunehmen, aber sie zogen sich zurück. Kein einziges Kriegerrudel in Albenmark hätte mitten aus einem siegreichen Gefecht abberufen werden können. So waren nur seine Männer. Und genau darum schickte Skanga nach ihm.
Die Menschenkinder bildeten einen neuen Verteidigungskreis. Ein Krieger mit einem Helm, dessen Kettengeflecht das halbe Gesicht verhüllte, schien ihr Anführer zu sein.
Er wies jedem einzelnen seinen Platz in der Kampfformation zu. Dem Menschensohn musste klar sein, dass er gegen die Trolle nicht bestehen konnte. Aber er dachte offensichtlich nicht daran, sich zu ergeben oder auch nur zu verhandeln.
Orgrim überlegte, ob er doch noch einen Angriff befehlen sollte. Das Herz dieses Kriegers wäre es wert, gegessen zu werden.
Der Schlitten mit der kranken Königin erreichte den Hügelkamm. Sie war auf Bergen von Fellen über dem gefrorenen Leichnam ihres Vaters mit breiten Lederriemen festgebunden. Wie es schien, lag sie in tiefem Fieberschlaf. Gut, dass ihr dieser Anblick erspart blieb.
Neben dem Schlitten ging der merkwürdige Elf. Mit unbewegter Miene betrachtete er den blutgesprenkelten Schnee. »Wirst du sie verschonen?«
Seine Stimme klang schroff. Herausfordernd. »Wie sollte die Menschentochter eine gute Königin sein, wenn die tapfersten ihrer Krieger hier erschlagen wurden? Glaubst du, sie eignet sich als Königin von Feiglingen?«
Der Elf schwieg eine Weile. »Du bist ungewöhnlich für einen Troll«, sagte er schließlich.
»Kennst du so viele Trolle, dass du dir ein Urteil erlauben kannst?«
Das Elflein deutete auf die Krieger, die damit begonnen hatten, die erschlagenen Menschen auszuweiden und zu vierteln. Einer der Krieger aß eine Leber, die so frisch war, dass sie in der kalten Winterluft dampfte. Blut troff ihm auf die Brust. Orgrim lief bei dem Anblick unwillkürlich das Wasser im Munde zusammen.
»Das sind die Trolle, wie ich sie kenne.«
Der Herzog der Nachtzinne nickte. »Ich werde am Abend mit ihnen essen.«
»Du denkst an den Abend, sie fressen schon jetzt. Du planst für die Zukunft. Sie sind ganz Gegenwart. Das unterscheidet dich von ihnen.«
Orgrim sah den Elfen verwundert an. »Versuch nicht, nett mit mir zu reden. Wenn ich dir noch einmal begegne, dann werde ich dich umbringen. Jetzt schaff deine Schwester fort von hier! Und wenn ich dir einen Rat geben darf, treib dich nicht in den Wäldern der Maurawan rum.« Er sah ihm an, dass er unter den Elfen in den Wäldern am Albenhaupt aufgewachsen war. Und Orgrim war überzeugt, dass sie Ärger machen würden. Sie hatten sich nicht einmal Emerelle unterworfen. Und sie lebten an der Grenze zur Snaiwamark, der ursprünglichen Heimat der Trolle.
»Ich werde dir dein Leben schenken, wenn wir uns noch einmal begegnen, weil du meine Schwester verschont hast.«
Orgrim musste unwillkürlich lachen. »Du solltest nicht darauf vertrauen, dass es zu einem ritterlichen Zweikampf kommt, wenn du mich wiedersiehst. Falls es dir entgangen sein sollte, ich bin ein Troll. Wir duellieren uns nicht. Wir schlagen unseren Gegnern die Köpfe ein und essen ihre Leber.« Er deutete auf die ausgeweideten Toten.
»So sieht das aus, Elflein. Das ist dein Schicksal, wenn du mir nicht aus dem Weg gehst. Und jetzt nimm den Schlitten mit deiner Schwester und mach dich davon!«
Erstaunlicherweise gehorchte der Kerl. Er war ungewohnlich. Diese versponnene Sache mit den Metallkrallen. Nie hatte Orgrim einen Elfen getroffen, der mit solchen Waffen kämpfte. Für gewöhnlich versuchten sie, so viel Abstand wie möglich von Trollen zu halten, und schössen feige mit Pfeilen oder sogar mit Speerschleudern. Er musste auch an die Unzahl von Trollen denken, die vor den Mauern des Königssteins verbrannt waren. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, kämpften sie auch mit Speeren oder Schwertern. Aber auch dabei hielten sie eine Armeslänge und mehr Abstand. Mit diesen Krallen müsste sich der Elf auf eine tödliche Umarmung einlassen, wenn er es nicht schaffte, die Kehle zu erwischen. Das war selbstmörderisch. Und ziemlich mutig für einen Elfen.
Der Kleine musste sich ganz schön abmühen, um den Schlitten den anderen Hang wieder hinaufzubekommen. Endlich schickte ihm der Krieger mit dem Kettengeflecht vorm Gesicht zwei Männer zu Hilfe. Wie schwach die Menschenkinder waren und doch mutig. Er hoffte, dass die Geschichte von den heutigen Ereignissen bis ins fernste Dorf des Fjordlands getragen würde. Noch einmal könnte er sich solche Gnade nicht leisten. Das würde man in seinem Volk als Schwäche auslegen. Vielleicht war es auch genau das. Er hatte das Mädchen schon einmal entkommen lassen. Vor langer Zeit, als sie noch ein Kind war.
Er wusste mehr über sie, als er zugegeben hatte. Skanga hatte ihm von ihr erzählt. Die Menschentochter hatte sich einem Shi-Handan gestellt, und sie war bis an die Schwelle des Totenreichs gegangen, um Albenmark zu retten. Es war eine Reise gewesen, wie sie vor ihr noch niemand gewagt hatte. So sollte eine Königin sein. Er wollte sie zur Nachbarin seines Herzogtums haben und niemand anderen. Sie war würdig. So würde er es seinen Rudelführern erklären, wenn sie heute Nacht beisammensaßen. Er hatte entschieden, wer im Fjordland herrschen würde. Und er hatte die Einzige gewählt, die würdig war, an ihrer Grenze zu herrschen. Er war ein Königsmacher.
Orgrim schmunzelte. Das würde seinen Rudelführern gefallen.
Die Menschen zogen sich vom Hügelkamm zurück. Sie hatten sich um den Schlitten mit ihrer Königin geschart. Der Krieger mit dem Kettengeflecht vor dem Gesicht ging als Letzter. Er hob den Arm zum Gruß. Orgrim erwiderte die Geste nicht. So weit ging sein Respekt nicht.
Die zweite Haut
Die Schritte verhielten einen Augenblick. Dann fanden sie zu ihr. Nach den Maßstäben für Kobolde war die Frau groß. Emerelle richtete sich auf. Das Koboldweib überragte um Kopfeshöhe ihr Knie. Sie hatte eine lange, leicht nach unten gebogene Nase. Ihre Gesichtszüge waren unter grauen Lehmschichten, auf die Zeichnungen aus Asche und Holzkohle aufgetragen waren, kaum zu erkennen. Ihre Augen stachen blendendweiß aus tiefschwarzen, aufgemalten Höhlen. Ihre Pupillen waren nur winzige Punkte inmitten schmutziggrüner Iris. Ihr Haar war mit Lehm durchsetzt und zu einer spiralförmigen Frisur gedreht, die an ein Muschelhorn erinnerte. Obwohl, Frisur war eigentlich nicht das rechte Wort, denn ihre Haare wirkten wie ein solider Klumpen, der ihren Kopf nach hinten verlängerte.
Die Muschelschnüre, die sich zwischen ihren sackartigen, eingefallenen Brüsten kreuzten, wiesen sie als erfahrene Traumfängerin aus.
Sie trug einen sehr breiten Gürtel, von dem ein lehmfarbener Lumpenstreifen herabhing, der ihre Scham bedeckte. Auch waren daran etliche kleine Kürbisflaschen und Lederbeutel befestigt. Bei jeder ihrer Bewegungen schlugen einige der Kürbisfläschchen zusammen. Mit beiden Händen hielt sie einen offensichtlich recht schweren Tonkrug, der mit einem schmutzigen, feuchten Tuch versiegelt war.