Elodia blickte um Hilfe suchend zu Balduin, doch der Höfling sah sie ausdruckslos an.
»Nein«, sagte sie schließlich leise.
»An Größe.« Cabezans Hand streichelte wieder über ihren Schenkel. »Dieser Palast hier ist eine jämmerlich schlecht instand gesetzte Ruine. Vor vierzig Jahren hat ein Bauer beim Pflügen auffällig schöne Dachziegel gefunden. Er hat sie auf seinen Karren geladen und auf dem nächsten Markt verkauft. Leider dauerte es ein paar Monde, bis ich davon erfuhr. Als meine Männer auf seinen Acker kamen, waren schon alle Dachziegel ausgegraben. Und die Bauern hatten damit begonnen, Mauerwerk aufzubrechen, weil die Steine, die von den alten Baumeistern verwendet worden waren, so wunderbar gleichmäßig gearbeitet waren. Ich habe den Bauern mit seiner Familie lebendig begraben lassen, damit sie vor ihrem Tod genügend Zeit hatten, darüber nachzudenken, dass alles, was in der Erde meines Königreichs ruht, mir gehört!« Elodia starrte auf einen Fleck auf der Bettdecke. Sie hörte gut zu und versuchte zu vergessen, dass sie nackt war und diese grässliche Hand ihren Schenkel liebkoste und immer häufiger auch über ihre Scham strich.
»Dieser Palast hier ist das Haus, dessen Dachziegel der Bauer gestohlen hat«, fuhr der König fort. »Du weißt ja, der Palast liegt am Fuß eines Berges. Vor langer Zeit löste sich eine Lawine aus Schlamm vom Berghang und verschlang den Palast und alles, was darinnen war. Aber sie drückte nicht die Mauern ein. Es ist ein außerordentlicher Glücksfall. Ein Geschenk der alten Götter. Es gibt kein zweites Haus wie dieses in meinem ganzen Königreich!
Weißt du, dass man mit heißer Luft aus Öfen im Keller die Fußböden in ausgewählten Zimmern anwärmen kann? Es ist ein wunderbarer Ort für einen Krüppel wie mich. Ein Ort, um von vergangener Größe zu träumen. Ich habe die besten Handwerker und Architekten von nah und fern rufen lassen, um dieses Haus zu studieren. Ich habe ganze Wagenladungen an Silber verschwendet, um solche Paläste noch anderswo bauen zu lassen. Aber es werden bestenfalls schlechte Kopien. Die Fußbodenheizungen funktionieren nicht. Die Stuck- und Steinmetzarbeiten sehen wie von Kindern geschaffen aus, vergleicht man sie mit den Originalen. Was hast du aus dieser Geschichte gelernt, Mädchen?«
Die Hand des Königs hielt still. Fast hätte sie ihm in die Augen gesehen. Sie ahnte, dass es nicht gut wäre, wenn sie wieder keine Antwort fand. Der König prüfte sie, auch wenn sie nicht erkennen konnte, mit welchem Ziel. »Mir scheint, die Geschichte besagt, dass die Geschenke der Götter nicht von Menschenhand nachgeahmt werden können.«
Cabezan lachte auf. »Der blau gewandete Narr, den ich mir als Hofpriester halte, würde dir für diese Antwort die Füße küssen.« Er kniff ihr ins Bein. »Obwohl er ein frommer Mann Tjureds ist, ganz Vorbild, ganz von seiner eigenen Heiligkeit durchdrungen, wette ich, seine Küsse würden langsam höher wandern. Ich glaube nicht, dass es viele Männer geben wird, die deinen Reizen widerstehen können, Mädchen. Du bist außergewöhnlich, so wie das hier.« Er drehte sich zur Seite und zog einen kurzen Dolch unter seinem Kissen hervor, dessen Klinge mit ei nem merkwürdigen, blaugrauen Wellenmuster überzogen war.
»Einen Dolch wie diesen kann keiner meiner Schmiede im ganzen Königreich erschaffen. Er ist wie dieses Haus. Ein Relikt vergangener Größe. Es muss eine Zeit gegeben haben, da waren die Menschen bedeutender. Und ihre Könige mächtiger.
Wenn man weiß, wo man suchen muss, dann findet man überall Zeugnisse dieser Zeit.
Auf dem Meeresgrund, nahe bei Marcilla oder in den Bergen in dem Tal, das man den Steinernen Wald nennt. Meist sind die Zeugnisse der Vergangenheit tief in der Erde verborgen. Hunderte Männer suchen für mich danach.«
Elodia hatte davon gehört, dass der König Ritter und Handwerker in den Steinernen Wald geschickt hatte und dass sie dort von einem Geisterritter angegriffen worden waren.
»Ich will nach dieser alten Größe greifen«, sagte Cabezan. »Ich will sein wie die vergangenen Herrscher. Hast du die Tür dieser Kammer gesehen? Sie ist verzaubert.
Wenn man sie nicht freiwillig öffnet, dann kann sie niemand überwinden. Ich habe sie in Iskendria kaufen lassen. Eine ganze Schiffsladung voll Silber musste ich dafür hergeben. Meine Suche nach der verlorenen Größe ist unglaublich teuer. Sie verschlingt Gold und Silber, und was ich dafür zurückbekomme, bringt dem Königreich zunächst nur wenig. Meine Philosophen und Alchemisten untersuchen diese Dinge. Die besten Handwerker, die man für Gold anwerben kann, studieren sie und versuchen es den alten Meistern gleichzutun. Wenn das einst gelingt, wird sich jedes Goldstück hundertfach wieder auszahlen. Weißt du, wenn man ein Leben hat wie ich, dann ist alles, was geblieben ist, der Wil e. Mein Körper ist eine Ruine. Ich kann kaum aus eigener Kraft stehen. Aber mein Geist ist klar. Und ich bin unsterblich!
Mir ist es bestimmt, die Menschheit wieder zu alter Größe zu führen. Einst waren wir genauso mächtig wie Elfen und Dämonen mit ihrer finsteren Magie. Und wir werden es wieder sein! Dabei wirst du helfen.«
Er winkte Balduin. »Das Reden dörrt mir die Kehle aus. Bring mir Wein!«
Sein Diener gehorchte und verschwand augenblicklich zwischen den sanft wogenden Stoffbahnen. Bald waren nur noch seine Schritte zu hören. Er verließ die Kammer nicht. Wieder fragte sich Elodia, wie groß dieser Raum wohl sein mochte.
»Glaubst du an die alten Götter oder an Tjured?«
»Ich bete zu Tjured und den alten Göttern.«
»Ha, das ist der richtige Geist! So halte ich es auch. Wobei mir die alten Götter lieber sind. Dieser Tjured ... « Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was von ihm und seinen Priestern zu halten ist. Wusstest du, dass in mehreren seiner Refugien alle Priester auf rätselhafte Weise verstorben sind? War das die Rache unserer alten Götter? Wenn ja, was ist ein Gott wert, der seine eigenen Priester nicht beschützt? Oder hat er es selbst getan? Aber warum? Was mögen seine Priester getan haben, dass sie eine so grausame Strafe verdienen? Unsere alten Götter sind da leichter zu verstehen. Meine Krieger haben einmal einen seiner Priester ermordet. Einen Wunderheiler, der sich geweigert hat, mir zu helfen. Ich glaube, weil dies geschah, wurde ich mit Unsterblichkeit und ewigem Siechtum beschenkt. Er ist ein verdammter Bastard, dieser Tjured.« Er hustete.
Balduin kehrte mit einem goldenen Pokal zurück. Der König trank gierig daraus. Wein rann ihm über das Kinn und über sein weißes Nachtgewand. Als er absetzte, hielt er ihr das Gefäß hin. »Komm, trink aus einem Becher mit mir.«
Sie nahm den Pokal und drehte ihn ein wenig, damit ihre Lippen auf keinen Fall den Rand dort berührten, wo Cabezans Lippen gewesen waren.
Der Wein war stark. Er rann warm durch ihre Kehle. Als sie absetzte, fühlte sie sich ein wenig benommen.
»Du ekelst dich also vor deinem König«, sagte er nüchtern. Er nahm ihr den Pokal ab und stellte ihn auf einen kleinen Tisch neben seinem Bett.
Elodia schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Es war offensichtlich, dass es stimmte. Auch der Weinbecher war also eine Prüfung gewesen.
»Man hat mir erzählt, dass du dich für deinen Bruder verkauft hast. Ist das richtig?«
Ihr stieg die Schamesröte in die Wangen. Sie brachte kein Wort hervor. Endlich nickte sie.
Seine Hand kroch in ihren Schoß. »Wenn ich dir verspreche, dass es deinem Bruder gutgehen wird, wirst du dann diese Hand küssen? Nicht den Ring. Die Hand!«
Sie sah auf die schwärende, offene Wunde auf dem Handrücken.
»Nun?«
»Ich werde es tun!«
Cabezan hob die Hand. »Worte sind billig, Mädchen. Tue es! Jetzt!«
Sie atmete tief ein. Dann hielt sie die Luft an. Sie nahm die Hand des Königs und führte sie an die Lippen. Er drückte sie fest gegen ihren Mund. Sie spürte das klebrige Wundsekret auf den Lippen.