Ein muffiger Erdgeruch hing in der Kammer. Alfadas hatte dieses Grab bauen lassen. Es lag inmitten des Erdhügels am Rand des königlichen Dorfes Firnstayn. Die Grabkammer war mit dicken Kiefernbalken verschalt. Zwei Fackeln spendeten warmes, gelbes Licht. Kälte sickerte durch den Gang, der hinaus in die Nacht führte. Wenn sie die Kammer verließ, würde sie mit einem schweren Rollstein verschlossen werden. Und dann würde man den Tunnel ganz mit Erde auffüllen. Draußen an der Hügelflanke würde man die ausgestochenen Grassoden wieder an ihren Platz legen, und in zwei Wochen würde niemand, der es nicht wusste, mehr erkennen können, wo genau der Eingang zum königlichen Grab lag.
Sie erhob sich müde. Aus Erzählungen wusste sie, wie sie als kleines Mädchen in einem blauen Kleid an diesem Fjord gespielt hatte. Und wie sie bei einem Fest dem Bä-
renbeißer namens Blut auf die verletzte Schnauze gelangt hatte und alle Gäste vor Schreck den Atem anhielten, aus Angst, der große Hund würde sie zerfleischen.
Angeblich hatte sie auch an der Seite ihrer Mutter Asla gestanden, als das Wolfspferd in das alte Langhaus des Alfadas eingedrungen war. An all dies konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie war zu klein gewesen. Die Trolle hatten ihr schon damals Alfadas genommen, als ihre Familie während der Kämpfe im Elfenwinter auseinandergerissen wurde. Damals, als die Schlachten beendet waren, hatte ihre Mutter Asla entschieden, mit ihr und Kalf in ein einsames Tal weitab von jeder Siedlung zu flüchten. Ihre Mutter hatte ihr nie erklärt, warum sie das getan hatte.
Kadlin wusste, dass Asla Kalf, den Jäger und Fischer, von ganzem Herzen geliebt hatte. Und sie selbst hatte Kalf die meiste Zeit ihres Lebens für ihren Vater gehalten.
Sie blickte in das Antlitz ihres leiblichen Vaters. Selbst im Tod wirkte es noch müde und ausgezehrt. Er war ein einsamer Mann gewesen. Er hatte nie wieder eine Frau genommen. Lange hatte er nach ihr und Asla gesucht. Er hatte ihren vermeintlichen Tod nie verwunden. Kadlin fand, ihre Mutter hätte ihr früher sagen sollen, wer ihr leiblicher Vater war. Sie hätte selbst wählen sollen, wo sie leben wollte.
Sie blickte zu den beiden leeren Totenlagern, die für sie und Asla gemacht waren. Sie sahen aus wie schmale Betten. Das Leinenzeug war mit dunklen Stockflecken übersät.
Ihr Totenlager war klein. Das Bett eines Kindes. Darauf lag eine halb verbrannte Puppe, die einst ihr gehört hatte. Alfadas hatte sie in den Trümmern ihres niedergebrannten Hauses gefunden, als er von seinem Feldzug in die Snaiwamark zurückgekehrt war. Auf Aslas Lager lag eine Kette aus bunten Perlen. Ihr Vater hatte sie nie vergessen. Deshalb war sie in den Norden gegangen, um seine Leiche zu holen.
Sie war es ihm schuldig gewesen.
Sie küsste ihn auf die Stirn. Sie würde nie mehr in die Grabkammer kommen, schwor sie sich. Nicht, solange sie lebte. »Wir sehen uns in den Goldenen Hallen. Ich weiß, du bist dort und wartest.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab. Mit festem Schritt verließ sie die Totenkammer. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Kaum dass sie den Hügel verlassen hatte, begannen die Krieger ihrer Leibwache damit, den Zugang zum Grab zu verschließen.
Lambi hatte auf sie gewartet. »Du warst lange dort unten.«
»Ja.« Sie wollte allein sein. Und doch wusste sie, dass sie zur Totenfeier musste.
»Wirst du Frieden mit den Trollen halten?«, fragte er ohne Umschweife. »Alle wissen das mit dem Herzen ... «
»Sie wollten ihn damit ehren, behauptet Melvyn.«
»Ich glaube das auch.«
Kadlin dachte darüber nach. »Ich werde es dem Herzog nicht verzeihen.«
»Aber du wirst Frieden halten?« Sie schwieg.
»Verdammtes Gör! So warst du schon als Kind!«, entfuhr es ihm.
»Soweit ich gehört habe, hat man dich von mir ferngehalten, als ich noch ein Kind war.«
»Dein Vater hat mir so oft von dir erzählt, dass es mir vorkommt, als seiest du meine eigene verzogene Tochter!«
Die Worte waren zu viel. Ihr stieg ein Kloß in den Hals, und sie biss sich rasch auf die Lippen, um nicht loszuweinen.
»Du hast den Elfenwinter überlebt, du hast in der Schlacht an der Nachtzinne gekämpft, du hast ein Wolfspferd erschlagen. Du bist der einzige lebende Mensch, der zur Schwelle der Goldenen Hallen ging und wieder zurückkehrte. Und du bist nur mit deinem verrückten Bruder in Orgrims Herzogtum gereist, um Alfadas zurückzuholen.
Ihr zwei habt euch einem ganzen Heer von Trollen gestellt. Das ist genug für ein Leben. Das wären sogar für zwei Leben genügend Heldentaten. Niemand wird die Heldensaga glauben, die Isleif dichtet, wenn du noch mehr vollbringst.«
»Wer ist Isleif?« Sie hatte sich jetzt fast wieder in der Gewalt und war froh, dass ihr Lambi Gelegenheit gab, über etwas anderes als ihren Vater sprechen zu können.
»Isleif ist ein sehr talentierter junger Skalde, den ich in einer Schenke in Gonthabu kennengelernt habe. Er hatte schon von sich aus damit begonnen, eine Saga über dich zu dichten. Ich habe sie ein wenig verbessert.« Er deutete zum Langhaus des Königs hinauf. »Er ist auch dort oben. Es wäre an der Zeit, dass du dir selbst einmal anhörst, was er über dich dichtet.«
»Ich habe kein Interesse an Lügengeschichten.«
»Es ist besser, wenn sich Könige zu Lebzeiten selbst darum kümmern, welche Lügen über sie verbreitet werden, als wenn es andere tun, wenn sie tot sind! Stell dich nicht an wie ein bockiges Kind. Sei eine Königin! Weißt du ... « Plötzlich brach seine Stimme.
»Für meinen Jungen gibt es kein Grab. Und für die, die mit mir gekommen sind, um dich zu holen und die von den Trollen erschlagen wur den, wird auch niemand einen Grabhügel errichten. Wir trinken in dieser Nacht auch zu ihrem Andenken. Komm mit und erweise ihnen Ehre. Oder geh mit deinem Bruder, der unten am Fjord auf dich wartet. Aber dann komm nie wieder, hörst du! Wenn du in dieser Nacht nicht auf dem Thron von Alfadas sitzt und ein paar verdammt an-rührende Worte für unsere Toten findest, dann bist du es nicht wert, unsere Königin zu sein!«
Sie packte ihn bei den Schultern. »Ich werde nicht davonlaufen. Aber ich muss Melvyn verabschieden. Dann komm ich zum Fest. Ich verspreche es dir.«
»Ich warte hier«, brummte er missmutig.
Es war nur ein kurzes Stück Weg hinunter zum Wasser. Hinter sich hörte sie das Zischen der Spaten, die ins aufgeworfene Erdreich glitten. Und das dumpfe Geräusch der Erde, die in den Tunnel geworfen wurde. Sie hatte das Gefühl, dass all ihre Trauer wie ein zweites Kind in ihr lag. Ein Druck in ihrem Magen. Eine große, lebendige Kugel.
Sie legte die Hand auf ihren Bauch. Das Kind war reglos. Sicher schlief es. In den Fiebertagen auf dem Schlitten hatte sie es oft gespürt. Es war stark. Es würde leben!
Melvyn wirkte verloren. Er stand ganz allein am Ufer. Sein Umriss zeichnete sich schwarz gegen das Wasser ab, auf dem sich der Mond spiegelte.
Als sie an seine Seite trat, war sie plötzlich verlegen um Worte. Sie hätte sich gefreut, wenn er geblieben wäre. Aber sie wusste, dass er das nicht konnte. »Sie schließen das Grab jetzt«, brachte sie endlich hervor.
Er nickte. Auch er schien bedrückt. Vielleicht mochte er auch keine Abschiede.
»Wolkentaucher wartet auf dich?«
Ihr Bruder deutete in Richtung des Hartungskliffs auf der anderen Seite des Fjordes.
Majestätisch erhob sich der steile Berg über das Wasser. Ein Kreis aus uralten Steinen krönte sein Haupt. »Er ist dort oben. Wenn du gehst, wird er mich holen kommen.«
Sie wollte ihm noch so viele Dinge sagen. Doch der Festlärm von der Königshalle erinnerte sie daran, dass auch ihr keine Zeit mehr blieb. »Ich wollte mich noch dafür bedanken, dass ich noch all meine Finger und Zehen habe.«
»Du hast gutes Heilfleisch.«
»Du weißt, dass ich sie ohne deine Zaubermacht verloren hätte. Und mit erfrorenen Wangen hätte ich für den Rest meiner Tage wie ein junges Mädchen ausgesehen, das bei jedem Wort, das man an es richtet, schamhaft errötet.«
»Ich glaube, dass du auch mit grauem Haar noch wie ein junges Mädchen sein wirst.