Noch zehn Schritt! Nikodemus duckte sich instinktiv, obwohl ihm klar war, dass es ihm kaum helfen würde. Er hob schützend die Arme. Eine absurde Geste angesichts der überwältigenden Macht, die binnen eines Herzschlags über ihn hereinbrechen würde. In der Not klammert man sich an jeden Strohhalm, dachte er. Dann wunderte er sich, wie lange es dauerte, bis das Verhängnis kam. War es ein schlechter Scherz des Schicksals? Wurde sein letzter Augenblick gedehnt, damit er sich aller Facetten von Todesangst voll bewusst werden konnte? Würde jetzt sein Leben noch einmal an ihm vorüberziehen? Seine endlosen Stunden mit Meister Gromjan, der ihn in der weiten Steppe des Windlands Magie gelehrt hatte. Seine verlorene Liebe Liza, die schon lange nicht mehr auf ihn wartete.
Nichts von alldem geschah. Endlich blinzelte er und blickte zwischen den Armen empor, überzeugt, der Sturm habe auf diesen Augenblick gewartet, um ihm mit glühendem Sand sein Augenlicht auszulöschen.
Gelbbraunes Zwielicht umfing ihn. Der Sand war keine drei Schritt entfernt. Das Toben des Sturms war durch ein leises, kratzendes Geräusch ersetzt. Eines von diesen Geräuschen, die einem, obwohl kaum wahrnehmbar, eine Gänsehaut verursachen. Es sah aus, als habe den Sturm eine Wand aus Glas aufgehalten. Manchmal zogen silbrige Schlieren darüber. Er blickte auf. Sehr hoch über ihren Häuptern wölbte sich das Glas zu einer Kuppel.
Als er zu Emerelle sah, stockte ihm der Atem. Zwischen den gefalteten Händen, die sie dem Himmel entgegenstreckte, war ein Licht, das Haut und Fleisch durchdrang. Er sah die Knochen ihrer Hand als Schatten, eingebettet in einen dunkelrosa Schimmer.
Die Gelenke und selbst die Armknochen bis fast zum Ellenbogen waren zu sehen. Ein feiner Rauchfaden stieg zwischen den gefalteten Händen auf. Ganz gerade, bis er in der Wölbung der hohen Kuppel verschwand. Fast schien es, als sei sie an einem Faden aus Rauch aufgehängt.
Sie stand genau in der Mitte ihres schützenden Gefängnisses.
Neugierig streckte Nikodemus die Hand nach der magischen Wand aus, die sie beschützte. Ein Schlag traf seine Finger. »Bist du verrückt?« Dobon war bei ihm, und der alte Kobold war außer sich. »Du bist doch ein Drachenrei ter! Du müsstest es am besten wissen, was es heißt, den Drachenatem zu berühren!«
Nikodemus sah den Alten verärgert an. »Und was heißt es?« Jetzt ruhten die Blicke der Grauhäute nicht mehr auf Emerelle, sondern auf ihm. Selbst die Kinder gafften.
»Der Drachenatem entkleidet jeden, der in den Jadegarten will. Erst reißt er dir die Kleider vom Leibe. Dann die Haut. Zuletzt bleiben nur noch deine blankpolierten Knochen. Es ist ein Zauber, alt wie die Drachen selbst. Er wurde einst von ihrem König gewoben. Und auch wenn die großen Drachen schon seit vielen Generationen gegangen sind, so bestehen ihre Zauber doch fort. Niemand kann die Orte betreten, die sie für sich allein geschaffen haben. Nur diejenigen, die sie zu sich rufen, sind vor dem Drachenatem geschützt. Alle anderen wird er verderben.«
»Das sind Märchen«, murmelte Nikodemus, um sich Mut zu machen. »Das ist nur ein Sandsturm. Sonst nichts.«
»Halt einen Finger hinaus, wenn du mir nicht glaubst«, beharrte der Alte.
Der Lutin zögerte. Er sah zu Emerelle. Eine blasse, blaue Flamme leuchtete zwischen ihren Händen auf und verschwand. Einen Herzschlag später war sie wieder da.
»Niemand kann den Drachen widerstehen!«, sagte Dobon mit Bestimmtheit. »Ich habe bis zuletzt nicht geglaubt, dass sie uns in den Jadegarten bringen will. Ich dachte, sie hätte sich eine der anderen verborgenen Oasen als Ziel gesucht. Eigentlich hätten wir gar nicht so nahe kommen dürfen. Hier war niemand mehr, seit...«
Eine riesige, blutige Gestalt trat durch den Bannkreis. Sand flutete hinter ihr durch die Öffnung, die sein Leib geschlagen hatte. Alle wichen vor dem Ungeheuer zurück. Ein Schrei ließ Nikodemus herumfahren. Eine junge Koboldfrau mit einem Muster wie ein Spinnenetz über ihren nackten Brüsten war zu weit zurückgewichen. Sie war mit einem Fuß durch den Zauberbann getreten. Die Macht des Sturms zog sie heraus. Zwei Frauen versuchten sie festzuhalten. Immer gellender erklangen die Schreie des Opfers.
Auch die anderen Frauen wurden auf die Schutzwand zugezogen. Es war, als lauerte dort draußen ein gieriges Raubtier, das nichts, was einmal in seine Fänge geraten war, wieder losließ. Mehr und mehr Kobolde griffen nach ihren Armen und ihrem Körper.
Sie zerrten und stemmten sich gegen die Wut des Sturms.
Die Unglückliche wurde nun langsamer hinausgezogen. Ihre Stimme verlor an Kraft.
Die Schreie wurden leiser. Unter dem rissigen Lehm sah Nikodemus alle Farbe aus ihrem Gesicht weichen.
Wer immer dem Bannkreis bis auf einige Zoll nah kam, ließ los. Fingerbreite um Fingerbreite wurde sie hinausgezogen. Noch stemmten sich ihre Brüder und Schwestern gegen das Unausweichliche, doch der Lutin ahnte, dass der Kampf schon längst verloren war. Die Stimme der Frau war erstorben. Der Sturm hatte all ihr Blut aus dem wunden Körper gesogen.
Erschüttert sah er zu dem Riesen auf, und Dobons Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Der Drachenatem entkleidet jeden, der in den Jadegarten will. Erst reißt er dir die Kleider vom Leibe. Dann die Haut… Vor ihm stand Madra! Der Sand, durchsetzt mit messerscharfen Steinsplittern hatte den Troll gehäutet. Seine nackten, geschundenen Muskeln lagen offen zutage. Madra hatte außer einem Lendenschurz keine Kleidung getragen.
Er ging vor Emerelle in die Knie. Wieder tänzelten Flammen um ihre Fingerspitzen.
Länger diesmal. Der Rauchfaden, der zwischen ihren Händen aufstieg, war dunkler.
Es roch nach verbranntem Fleisch.
»Sie kann der Drachenmagie nicht widerstehen«, sagte Dobon, der noch immer neben ihm stand. »Weder der Riese Madra, so unermesslich seine Kräfte auch sein mögen, noch die Zauberin kann es. Wir sind verloren!«
Nikodemus hatte den Eindruck, dass die Kuppel über ih nen nicht mehr so hoch war wie zuvor. Wie lange konnte Emerelle den Albenstein noch halten, mit dem sie ihre Magie verstärkte und der ihre Hände verbrannte?
»Madra! Kannst du mich hören?«
Der Troll drehte den Kopf in seine Richtung. Ein Teil seiner Lippen war vom Sand weggeschliffen. Die großen Fangzähne lagen bloß. Blut rahmte die Zähne.
»Findest du den Weg zurück?«
Der Troll öffnete das Maul. Ein heiserer Laut entrang sich seiner Kehle. Nikodemus konnte nicht verstehen, was er sagte. Er ging zu seinem Freund. Der Troll zitterte am ganzen Leib. Blut sickerte durch das rohe Fleisch. Es vereinigte sich zu dünnen Strömen, die seinen Leib hinabrannen. Man musste kein Heilkundiger sein, um zu erkennen, dass er unrettbar verloren war. »Findest du den Weg zurück?«
Wieder das Röcheln. Es war aussichtslos!
»Ich bin es, Nikodemus.« Er sah hinauf zur Kuppel. Jetzt war sie ganz sicher niedriger.
Dobon hatte Recht. Was immer es auch war, wogegen die Königin ankämpfte, alte Magie oder doch nur ein wütender Sturm, sie würde verlieren!
Er legte die Hand auf das rohe Fleisch von Madras Wade. Er drückte zu. Die Muskeln zuckten unter seiner Berührung. »Du musst dem Druck meiner Hand folgen, Madra.«
Der Troll stöhnte auf.
»Du wusstest, dass du dazu berufen bist, ein Held zu sein. Erinnerst du dich, wie wir darüber gesprochen haben. Jetzt ist deine Stunde gekommen! Bitte, bewege dich.«
Unsicher machte Madra einen Schritt. Sich zu bewegen, tat ihm nicht gut. Deutlich sah Nikodemus, dass noch mehr Blut aus dem geschundenen, mit Staub und Sand verklebten Fleisch sickerte.
»Sehr gut! Geh noch ein Stück.« Er brachte den Troll bis unmittelbar vor Emerelle. Sie hatte sich in der ganzen Zeit, in der sie gegen den Sturm ankämpfte, nicht bewegt.
All ihre Sinne waren allein auf das verzweifelte Kräftemessen gerichtet.
»Kannst du sie sehen? Du musst Emerelle hochheben.«
Madra machte eine Bewegung, die wohl ein Kopfschütteln sein sollte. Er neigte sich ein wenig. Jetzt erst konnte Nikodemus das geschundene Gesicht in aller Deutlichkeit erkennen. Die Augen des Trolls waren nur noch Höhlen voller verkrustetem Blut.