Der Lutin kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn bei dem Anblick überkam. Hatte der Sturm mit besonderer Macht Madras Gesicht angegriffen? So, wie er mit einem Fangarm den Elfen verschlungen hatte? Ohne Zweifel waren die Verletzungen im Gesicht besonders schwer.
»Du musst sie hochheben. Vorsichtig. So wie du die Kinder hochgehoben hast. Sie wirkt einen Zauber, der uns alle am Leben erhält. Mir scheint, sie ist nicht ganz bei sich. Der Zauber darf nicht gestört werden. Hast du das verstanden.«
Statt zu antworten, ging Madra in die Knie. Ganz langsam streckte er einen Arm vor.
Er zeigte grob in Nikodemus’ Richtung.
»Du sollst die Hand nehmen und ihn führen«, sagte Dobon. Zum ersten Mal klang Panik in seiner Stimme. »Wir könnten auch alle gemeinsam versuchen, sie hochzuheben.«
Von der Vorstellung, dass Dutzende Koboldhände nach ihr griffen, um Emerelle schwankend in die Höhe zu heben, hielt Nikodemus gar nichts. Er vermied es, noch einmal hinaufzusehen. Er ahnte, was Dobon in Angst versetzte.
Vorsichtig nahm er die Hand seines Freundes. Der Troll zuckte bei der leichtesten Berührung zusammen, gab aber keinen Schmerzenslaut von sich. Nikodemus führte Madras Hand zur Hüfte der Elfe. Madras zweite Hand fand allein ihren Weg.
»Du musst sie ganz sacht hochheben!« Der Geruch nach verbranntem Fleisch wurde immer durchdringender. Das gleißende Licht verhinderte, dass man Emerelles Finger deutlich sah. Aber sie wirkten dünner.
Der Troll stieß einen grunzenden Laut aus, als er die Elfe anhob. Madra bewegte sich unbeholfen. Er drehte sich. Nikodemus achtete darauf, dass er in seinen Spuren ging.
Er hoffte, dass der Troll geradeaus gegangen war und nicht orientierungslos durch den Sturm getappt war. Ihm war bewusst, dass das wohl zu viel der Hoffnung war. Was konnte man von jemandem erwarten, der geblendet und vor Schmerz wahrscheinlich halb wahnsinnig war?
»Die Höhle liegt etwas weiter links«, sagte Dobon. Er hatte sein Volk dicht um Emerelle geschart.
»Du bist dir sicher?«
»Ich habe mein ganzes Leben in der Wüste verbracht. Hier die Richtung zu verlieren, bedeutet das Ende. Vertraue mir.«
Das sagte der Anführer eines ganzen Stammes von Lügnern! Aber hatte er eine Wahl?
Nikodemus war sich nicht ganz sicher, aber auch der Schutzkreis, den der Zauber der Elfe dem Sturm abtrotzte, schien enger geworden zu sein. »Wenn du dich irrst, sind wir tot.«
»Wenn wir nicht losgehen, weil wir über den Weg streiten, sind wir noch sicherer tot!«
Dem ließ sich nichts entgegensetzen. Nikodemus stellte sich neben Madra. Mit leichtem Druck gegen dessen Schenkel brachte er den Troll dazu, die Richtung zu ändern. Überall im Sand war dessen Blut. Seine eigenen Hände waren ganz klebrig vom Blut. Madra schwankte leicht. »Geh! Halt bitte durch!« Wieder drückte er ihm auf den Schenkel. Er sah, wie seine Berührung Blut aus dem rohen Muskel presste.
Der Troll ging sehr langsam. Seine geschundenen Füße hoben sich kaum vom Boden.
Behutsam führte Nikodemus ihn um Felsstücke herum, die aus dem Sand ragten. Und Dobon achtete darauf, dass sie dabei nicht die Richtung verloren.
Die Elfe hielt sich ganz steif. Man hätte meinen können, dass der Troll eine lehmverschmierte Statue trug. Die blassblauen Flammen, die um ihre Finger spielten, verloschen nicht mehr. Nikodemus fragte sich, wie man die Willenskraft aufbringen konnte, einen glühenden Stein festzuhalten. Vielleicht war das Fleisch ihrer Hände miteinander verschmolzen, und sie konnte gar nicht mehr loslassen?
Quälend langsam kam sie voran. Der Lutin hatte das Gefühl, dass der Sturm immer heftiger gegen den magischen Schutzwall anstürmte. Das wütende Gebrüll war lauter geworden. Und immer häufiger zeigten sich die silbernen Schlieren, die ihm schon zu Anfang aufgefallen waren.
Plötzlich stieß jemand hinter ihm einen aufgeregten Ruf aus.
Dobon packte ihn bei der Schulter. »Warte!«
»Uns läuft die Zeit davon!« Wütend blickte Nikodemus zurück. Die Grauhäute gruben mit den Händen im Sand. Zwei Stiefel erschienen. Ein Bein in einer weiten Hose. Falrach! Die Magie, die seine Kleider vor Schmutz bewahrte, schien auch dem schmirgelnden Sand getrotzt zu haben. So ein verdammter Glückpilz, dachte Nikodemus. Er hätte schon bei der Schlacht am Mordstein verrecken sollen. Der Lutin erinnerte sich noch gut, wie schwer verletzt der Elf gewesen war.
Als sie Fairachs Hände und Gesicht freilegten, änderte er seine Meinung. Der Elf war doch kein Glückskind. Dort, wo ihn seine Kleider nicht geschützt hatten, sah er nicht besser aus als Madra. Sein Gesicht war eine einzige blutende Wunde.
»Nehmt ihn mit!«, befahl Dobon.
Eine Gruppe Krieger umringte den Elfen und packte ihn. Sie zogen ihn über den Boden, und obwohl sie recht derb mit ihm umgingen, wachte er nicht mehr auf.
Nikodemus wurde sich bewusst, dass er jetzt völlig den Grauhäuten ausgeliefert war.
Es war niemand übrig geblieben, der ihn hätte beschützen können. Was sie wohl mit ihm anstellen würden, wenn die anderen starben?
Wie sich zeigte, hatte Dobon die Richtung gut eingeschätzt. Sie erreichten die Höhle ohne Zwischenfall. Zuerst wurden alle Kobolde hineingeschafft. Nur im Ein-gangsbereich der Höhle lag ein wenig Sand. Sie fanden die Kinder, die Madra und Falrach hierhergebracht hatten, wohlbehalten vor.
Zuletzt kamen Emerelle und der Troll. Im selben Augenblick, als die Elfe durch den Höhleneingang trat, heulte der Sturm hinter ihr auf wie ein wütendes Tier. All ihre Zaubermacht war verloschen. Nikodemus sah ihre Hände und blickte sofort wieder weg. Sie würde für immer verkrüppelt sein. Da würde ihr der Zauber, den sie in Feylanviek gewirkt hatte, um ihre abgetrennte Hand nachwachsen zu lassen, auch nichts mehr nützen. Er hatte sie nie gemocht. Sie war hochmütig und grausam. Sie verkörperte alle schlechten Eigenschaften der Elfen für ihn. Aber an diesem Tag hatte sie sich selbstlos aufgeopfert. Sie war eine Meisterin der Magie, und der Lutin war sich sicher, wenn sie es gewollt hätte, dann hätte sie leicht einen Weg gefunden, um nur sich und Falrach zu retten. War das die herausstechendste Eigenart einer guten Königin? Ihr Volk in Zeiten der Not niemals im Stich zu lassen?
Sie war nicht ganz bei sich. Schmerz und Erschöpfung hatten sie völlig ausgezehrt.
Einige Koboldfrauen führten sie zu einer Nische, weiter hinten in der Höhle. Sie versuchten ihre Hände zu versorgen, so gut es eben möglich war.
Madra ging dicht beim Eingang in die Knie. Einen Moment lang verharrte er schwer atmend, dann stürzte er nieder. Fast hätte er einen der Alten unter sich begraben, die, am Ende ihrer Kräfte, am Eingang der Höhle verharrt hatten.
Nikodemus eilte an die Seite seines Gefährten. Er hatte erwartet, seinen Freund bewusstlos vorzufinden. Dem war nicht so. Seine entstellten Lippen bewegten sich. Unverständliche Laute entrangen sich seiner Kehle. Der Lutin versuchte, ihm etwas aus seiner Kürbisflasche zu trinken zu geben, doch das meiste rann an den Lippen vorbei. Schließlich riss sich Nikodemus einen Streifen von seinem Hemd, tränkte es mit Wasser und ließ den Troll daran lutschen. So gelang es Madra, ein wenig Flüssigkeit aufzunehmen.
»Wel...pen«, stieß der Troll hervor. Er wiederholte die zwei Silben, und Nikodemus verstand das Wort ganz klar, aber es dauerte eine Weile, bis er begriff, was sein Ge-fährte wollte. Er stand auf und ging in die Höhle. Fast alle Kinder kamen mit ihm, als er sie fragte. Und das, obwohl sie wussten, wie Madra aussah.
Sie stellten sich in mehreren Reihen um den Troll. Einige der Kleineren weinten. Selbst sie begriffen, wie es um Madra stand. Der ältere Junge, den Madra in die Höhle getragen hatte, hatte einen kleinen Tonkrug mit einer fettigen, gelben Salbe mitgebracht.
Vorsichtig tupfte er sie auf die Wunden des Trolls.
Madra zitterte jetzt. Nikodemus war kein Heiler, aber er hatte bei Gromjan und später bei Ganda genug gelernt, um zu wissen, was das bedeutete. Der Troll kühlte aus. Er hatte zu viel Blut und schützende Haut verloren. Sein Körper konnte keine Wärme mehr halten.