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Die Schamanin fluchte stumm. Sie würde sich noch einmal mit Alathaia treffen müssen. Vielleicht wusste die Elfenfürstin Rat. Immerhin bestanden die Shi-Handan zur Hälfte aus ihren Vertrauten. Skanga hasste den Gedanken, ausgerechnet sie um etwas bitten zu müssen. Gewiss hatte sie selbst schon versucht, Shi-Handan zu erschaffen, und war gescheitert. Schließlich fehlten ihr wesentliche Teile des Wissens.

Das Erbe

»Wir müssen ihr die Hände abnehmen!«

»Bist du verrückt? Sie prügelt dich mit den Stümpfen tot, wenn du es versuchst.«

»Wenn man überhaupt etwas tut, dann sollte man die Arme gleich unterhalb der Ellenbogen absägen«, mischte sich eine dritte Stimme ein.

»Hast du vielleicht eine Säge mit dir herumgeschleppt?«, entgegnete die erste Stimme, offensichtlich eine Frau.

»Wir könnten das Messer des anderen kleinen Riesen nehmen. Das hat er behalten.«

»Und wie willst du einen Riesenknochen durchtrennen?«, merkte die zweite Stimme an. Ein älterer Nörgler, dem man es offensichtlich nie recht machen konnte.

»Wenn man durch das Ellenbogengelenk schneidet, muss man keinen Knochen durchtrennen. Und sieh dir nur an, wie weit die Verbrennungen reichen. Viel gesundes Fleisch wird sie dabei nicht verlieren.« Die dritte Stimme schien einem Mann zu gehören. Er sprach mit großer Begeisterung.

»Man sollte warten, bis sie aufwacht, und sie fragen«, wandte der Nörgler ein.

»Das ganze tote Fleisch wird ihr Blut vergiften. Und wenn das nicht passiert, wird sie zu viel Flüssigkeit über die verbrannten Flächen verlieren. Sieh dir mal an, wie viel von diesem durchsichtigen gelben Sabber aus ihren Verbrennungen tropft. Die ist bald so trocken wie ‘ne alte Jungfer. Ich sage euch, die Arme müssen ab. Gleich am Ellenbogen!«

Durch den Schleier der Schmerzen klangen die Stimmen wie aus weiter Ferne.

Emerelle war am Rande der Ohnmacht. Sie vermochte dem Sinn der Worte, die sie hörte, kaum zu folgen. Den Anfang des Gesprächs hatte sie nicht wahrgenommen.

Das Fleisch ihrer Hände war miteinander verschmolzen. Die Haut der Handflächen war zu Rauch geworden. Der Albenstein lag in den Überresten ihres verbrannten Fleischs eingebettet. Er und das Erbe ihres Vaters würden helfen, sie zu heilen, wenn ihr genug Zeit blieb. Sollten die Kobolde allerdings versuchen, ihr die Arme zu amputieren, bestanden wohl beste Aussichten, dass sie verbluten würde. Oder sie würde am Schock sterben.

»Wir könnten sie auch einfach liegen lassen«, sagte der Nörgler.

»Und dann?«, wollte die Frau wissen. »Was machen wir dann? Zurückgehen? Ohne Wasser werden wir nicht weit kommen. Wenn sie hier stirbt, dann wird unser ganzes Volk mit ihr sterben.«

»Wir könnten versuchen, zum Jadegarten zu kommen«, wandte der Nörgler ein. »Der Sturm flaut ab. Es ist nicht mehr weit. Weniger als einen Tagesmarsch, schätze ich. Wir sollten dann noch den anderen Riesen töten. Der große Riese hat es schon hinter sich.

Dann sind wir wieder frei.«

»Und der Drachenreiter?«, wandte die Frau ein. »Den müssten wir auch umbringen.

Und wie viele von uns werden sterben? Wir haben fast kein Wasser mehr. Wir alle sind geschwächt. Wer überlebt den Marsch durch die Wüste? Acht von zehn? Oder vielleicht nur sieben? Wenn du jemals ein Kind geboren hättest, dann würdest du nicht so leichtfertig über Leben sprechen.«

»Da ich nie eines geboren habe, kann ich für alle denken, statt im Kampf um ein einzelnes Leben das Schicksal unseres Volkes aus den Augen zu verlieren«, entgegnete der Alte gelassen. »Welche Wahl haben wir denn? Hier sitzen und nichts tun? Hier sitzen und ihr die Arme abschneiden und hoffen, dass sie das überlebt? Oder alle Riesen und den Drachenreiter töten und hoffen, dass die meisten von uns durchkommen?«

»Weißt du, was uns im Jadegarten erwartet?«, fragte der jüngere Mann, derjenige, der sich gerade noch mit großer Begeisterung dafür ausgesprochen hatte, ihr ein Messer durch die Armgelenke zu stoßen. »Gibt es noch Drachen?«

»Wenn es noch welche gibt, dann haben die sich wirklich lange nicht mehr sehen lassen. Nein, die großen Drachen sind alle tot«, sagte die Frau entschieden. »Es würde Geschichten über sie geben, wenn sie noch da wären. Es war nie ihre Art, sich zu verstecken. Sie mussten niemanden fürchten.«

»Für uns würde auch ein einzelner, kleinerer Drache genügen«, wandte der Nörgler ein.

»Wir könnten den Drachenreiter mitnehmen«, sagte die Frau. »Er muss wissen, wie man mit ihnen umgeht. Sonst könnte er sie nicht reiten.«

Der Schmerz gewann die Oberhand. Er war wie Tausende kleine Baumwollkügelchen.

Er löschte jede andere Sinneswahrnehmung aus. Verstopfte ihre Ohren, bis die Stimmen zu einem unverständlichen Gemurmel wurden. Verklebte ihre Augen, so dass sie nichts sehen konnte. Hüllte ihren Körper ein, bis keine andere Empfindung mehr blieb als der rasende Schmerz, der sie hinabzog auf ein großes, dunkles Loch zu.

Sie wusste, dass der Albenstein längst erkaltet sein musste. Aber die letzte Erinnerung ihrer Nerven, bevor sie zu Asche wurden, schien unauslöschlich fortzuleben. Der Schmerz des weiß glühenden Steins, der jegliches Leben aus ihren Fingern gebrannt hatte, pulsierte immer noch durch ihren geschundenen Leib. Sie wusste, was geschehen würde, wenn sie aufgab und ihm ins Dunkel folgte.

Sie lauschte auf die Stimmen, aber sie waren in unerreichbare Ferne gerückt. Nicht einmal unverständliches Gemurmel war übrig geblieben.

Sie sind fort, redete sie sich ein und fürchtete zugleich, dass sie es war, die sich mit jedem verzweifelten Herzschlag weiter aus der Welt der Lebenden entfernte. Der Sandsturm ließ nach, hatte der Nörgler gesagt. Sie wusste, warum. Der Sturm spürte sie nicht mehr. Dies war die eine Höhle, in der sie sicher waren. Die einzige unter Dutzenden Höhlen, die sich wie riesige Wurmlöcher durch die Felskante zogen. Nandalee, ihre Mutter, hatte ihr von der Höhle erzählt. Sie selbst war auch schon hier gewesen.

Allein hatte sie den Wettlauf gegen den Drachenatem leicht gewonnen. Und doch hatte sie auch früher schon hier Schutz gesucht. Hatte abgewartet, bis der Sturm verebbte.

Sie wusste, dass es nicht lange dauern würde.

Hätte sie sich nicht mit Madra und dem Mädchen aufhalten dürfen? Der Wettlauf hatte längst begonnen, als die beiden sie mit ihrer Unvernunft alle in Gefahr gebracht hatten.

Wie viel Zeit war verlorengegangen? Fünfhundert Herzschläge? Hätte das ausgereicht, alle anderen in Sicherheit zu bringen?

Der Troll schien tot zu sein. Eine der Stimmen hatte es behauptet. So war ihr Opfer also zumindest zur Hälfte vergebens gewesen. Und wie dankten die Grauhäute es ihr! Sie dachten darüber nach, sie zu ermorden. Nur weil diese heimtückischen Bastarde nicht sicher wussten, ob sie sie noch brauchten, lebte sie noch. Sie könnten es ohne sie schaffen. Sie würden die Schlucht zum Jadegarten erreichen, bevor der Drachenatem erneut tödliche Kraft gewann. Wer bis hierherkam, der war in Sicherheit.

Dünne Bleiadern waren unter dem Fels dieser einen Höhle verborgen. Das Blei blendete den Drachenzauber. Der Sturm konnte sie hier nicht mehr spüren.

Der Sand rings um die Tafelberge, die den Jadegarten schützten, war von Magie durchdrungen. Der alte Zauber der Drachen wirkte über Jahrtausende fort. Er hatte seine Schöpfer überlebt, ohne weniger tödlich zu werden. Der Sand spürte Eindringlinge. Was genau es war, wusste Emerelle nicht. Sie vermutete, dass die Berührung von Füßen den Schutzzauber belebte. Und sie hatte die Erfahrung gemacht, dass es ganz gleich war, ob es ein einzelnes Paar Füße war oder viele Hundert. Der Sand, der mit feinen, nadelspitzen Felssplittern durchsetzt war, sammelte sich nahe bei den Tafelbergen. Alte Magie peitschte ihn auf, bis er in einer riesigen Wolke den Himmel verdunkelte. Der Sturm war wie ein Raubtier, gefangen in einem Käfig und von Wärtern gepeinigt, die mit Stachelruten nach ihm schlugen, bis das Tier in blinde Raserei geriet. Dann öffneten sie den Käfig. Wenn der Sturm eine alles vernichtende Macht gewonnen hatte, wogte er den Wanderern in der Wüste entgegen. Und selbst auf dem Weg nahm seine Stärke immer weiter zu. Erst wenn keine Füße den Sand mehr berührten, ließ er nach und erstarb.