Das Gitterwerk aus Bleiadern blendete den mörderischen Zauber. Wenn sie die Höhle verließen, müssten sie schnell sein. Sie durften nicht nach dem rechten Weg in den Jadegarten suchen. Sie mussten wissen, welche eine Schlucht nicht vor steilen Felswänden endete. Ihnen blieb wenig mehr als ein halber Tag, bevor der Drachenatem erneut über sie herfallen würde.
Wie würde der Jadegarten heute aussehen? Der Herr Albenmarks hatte sich einst dorthin zurückgezogen und Frieden gesucht. Nur Auserwählte durften ihn begleiten.
Die Drachenelfen, die Weisesten unter den Lamassu, Pegasi, die er wie Hunde hielt und über deren ausgelassene Lebenslust er spottete.
Emerelle spürte, wie ihr Herz immer langsamer schlug. Die Brandwunden nässten. Sie zogen alle Flüssigkeit aus ihrem Leib. Selbst wenn es ihr gelang, dem Schmerz zu widerstehen, würde sie innerlich austrocknen. Sie dachte an ihren ältesten Feind. An den Verräter und Lügner, der ihre Jugend bestimmt hatte. Ihr alter Zorn sollte ihr Verbündeter im Ringen mit dem Tod werden!
Als sie an all das dachte, was sie verloren hatte, schlug ihr Zorn eine Bresche durch die Lethargie des Schmerzes. Sie bäumte sich auf gegen das Dunkel. Der Schmerz überflutete sie. Bohrend, den Verstand dem Wahn entgegentreibend. Sie wollte schreien, doch ihre Kehle war so ausgedörrt, dass kein Laut über ihre Lippen kam.
»Das ist das letzte Aufbäumen vor dem Tod«, sagte der Nörgler. »Das sehe ich nicht zum ersten Mal. Gleich hat sie es überstanden.«
Sie wollte sehen, wer das war. Aber ihre Augen waren von Sand und getrockneten Tränen verklebt. Die Lider waren wie verleimt. Ihre Hände konnte sie nicht koordiniert bewegen. Sie ruckten hoch, unfähig, sich voneinander zu lösen.
Emerelle ließ ihrem Zorn alle Zügel schießen. Sie brauchte Flüssigkeit. Sie hätte die drei töten können. Ein Wort der Macht hätte sie verdorren lassen, und die Säfte der Kobolde hätten ihrem sterbenden Leib neue Kraft gegeben. Ihr kam ein Gedanke. Es waren dreihundert Kobolde in der Höhle. Bei jedem Ausatmen verlor jeder von ihnen ein wenig Feuchtigkeit. Die trockene Wüstenluft stahl diesen kostbaren Schatz.
Emerelle versuchte einen Zauber zu ersinnen, die Wüste darum zu berauben.
»Sie hält lange durch«, sagte das Koboldweib.
»Ich habe das Messer geholt«, erklang die jüngere Stimme. »Wir müssen jetzt die Arme abbinden.«
»Das ist vergebliche Liebesmüh«, murrte der Nörgler. »Lasst sie doch einfach gehen.«
Es war das erste Mal, dass Emerelle mit ihm einer Meinung war. Ihr Zauber zeigte Wirkung. Feuchtigkeit schlug sich in ihrem in stummem Schrei erstarrten Mund nieder.
Ein Band wurde um ihren rechten Oberarm geschlungen und festgezurrt. »Du musst die Klinge in die Armbeuge rammen, wenn du es richtig machen willst«, erklärte die Frauenstimme.
Emerelle spürte einen Druck, aber keinen Schmerz. Ein Keuchen entwich ihrer Kehle.
»Sie kommt zu sich.« Die Stimme ihres jungen Peinigers klang ratlos.
»Was ist das? Sieh dir ihre Hände an.«
Die Klinge traf einen Nerv, der durch die peinigende Hitze nicht zu Asche geworden war. Ein grausamer Schmerz stach gleich einem goldenen Lichtspeer durch ihr vernebeltes Bewusstsein. Sie konnte Metall über Knochen schrammen spüren. Rote Wut spülte ihre Selbstbeherrschung hinweg. Sie war nicht mehr sie selbst. Ihr Erbe brach sich mit aller Macht Bahn.
»Ihre Hände! Bei den Geistern unserer Ahnen, sieh nur ihre Hände! Das Licht! Siehst du das Licht? Sie ... « Die Worte des Nörglers vergingen in einem Schrei.
Der Preis der Welt
Adrien stützte sich auf seine Spitzhacke und machte eine kurze Pause. Jules war nirgends zu sehen. Allerdings konnte er vom Grund seiner Grube aus auch nicht wirklich weit blicken. Sein Lehrmeister setzte sich gern stundenlang auf einen der kleinen Hügel aus Schutt und Erde und sah ihm beim Arbeiten zu. Jedes Mal, wenn Adrien erlahmte, gab es eine spitze Bemerkung. Für einen Priester konnte er bemerkenswert gehässig sein. Jules’ Worte verfehlten ihre Absicht nie. Stets holten sie auch noch das Letzte aus Adrien heraus. Aber jetzt war er ja zum Glück nicht da.
Erschöpft wischte sich der Junge mit seinen in Lumpen gehüllten Händen über das Gesicht. Obwohl es noch recht kühl war, rann ihm der Schweiß in Strömen über den Körper. Die Übungen begannen Wirkung zu zeigen. Adrien fühlte sich stärker. Die Haut seiner Hände wurde härter; nachdem sie in der ersten Woche voller blutiger Blasen gewesen war, bekam er nun Schwielen.
Ein Schatten glitt über die Grube hinweg. Besorgt sah Adrien zum Himmel hinauf. Ein Adler kreiste dort. Er winkte ihm zu. Der große Vogel war ihm in den letzten Wochen immer wieder aufgefallen. Er war der Einzige, der regelmäßig über dem Tal erschien.
Weit über ihm ballten sich dunkle Wolken.
Der Junge fluchte leise. Das war die größte aller Plagen. Der eisige Regen machte ihm mehr zu schaffen als alles andere. Er kühlte aus, verlor alle Kraft und war vor Zittern kaum noch in der Lage, die Spitzhacke zu halten. Außerdem spülte er die Erde und kleines Geröll von den Abraumhügeln rings herum in die Grube zurück. Das Loch, in dem Adrien stand, durchmaß inzwischen mehr als sechs Schritt. Der Junge hatte es auf die Anweisung seines Meisters immer wieder erweitert. Adrien hegte inzwischen einigen Zweifel daran, ob Jules ihn überhaupt an der richtigen Stelle graben ließ. Er war sich auch unsicher, ob Jules genau wusste, wonach sie suchten, und wenn ja, wo es zu finden war.
Die ganze letzte Woche hatte sich Adrien durch eine Steinschicht gearbeitet. Jules hatte behauptet, es sei der geschmolzene Stein der Halle der Strategen. Das Wort Strategen war dem Jungen fremd, und Jules hatte sich auch keine große Mühe gegeben, es zu erklären. Es schien sich um eine Halle für Feldherren oder besonders bedeutende Krieger gehandelt zu haben. Auf jeden Fall waren es Leute mit hübschen Schuhen gewesen. Nicht alle Steine waren geschmolzen. Immer fand er auch Trümmer, und gestern erst hatte er zwei Paar steinerne Füße ausgegraben, die in Sandalen steckten, deren Riemchen mit Schutzamuletten geschmückt waren. Was für Männer wohl einst in diesen Sandalen in den Krieg gezogen waren?
Der Steinerne Wald beschäftigte seine Fantasie, wann immer er noch genug Kraft zum Träumen fand. Wie hatte die marmorne Stadt ausgesehen, die einst das Tal füllte? Was für Menschen waren es gewesen, die hier lebten? Und warum wusste Jules so vieles darüber? Standen solche Dinge in Büchern? Der Priester versuchte, ihm in den Abendstunden Lesen und Schreiben beizubringen, aber Adrien fand, dass ein Ritter solchen Unsinn nicht benötigte.
Mit einem Seufzer machte er sich an seinen endlosen Kampf gegen Trümmer und Geröll. Von weiter oben musste ein größeres Gebäude den Hang hinabgerutscht sein.
Hier lag alles durcheinander. Steinfragmente, Ziegel, verbogene und halb geschmolzene Kupferplatten. Gerade wegen der Beschaffenheit des Bodens musste er seine Grube immer mehr erweitern, denn das Geröll rutschte von den Rändern nach.
Und je tiefer er kam, desto schlimmer wurde es.
Mit der Hacke lockerte er den Boden zu seinen Füßen und schaufelte dann Hände voll leuchtend roter Ziegelsplitter in zwei Ledereimer. Als er fertig war, hängte er beide Eimer in Haken an eine Stange und machte sich an den Aufstieg über die beiden Leitern, die aus der Grube führten. Unsicher schwankend erreichte er schließlich den Rand der Grube. Jules sollte ihm besser einen Korb besorgen, den er auf den Rücken schnallen konnte. Damit würde er mehr Aushub nach oben bringen können, und es wäre nicht so verdammt schwer, das Gleichgewicht zu bewahren, wie mit den Eimern an der Stange.
In mürrischer Stimmung stapfte er ein ganzes Stück den Hang hinab und schüttete dort die Eimer aus. Gestern hatte er damit angefangen. Hier konnte ihm der ganze Mist wenigstens nicht vom nächsten Regenguss in die Grube zurückgespült werden.