Der enge Saumpfad weitete sich jetzt. Er hatte sie um einen weiten Felsvorsprung geführt, so dass sich nun ein Blick auf einen Abschnitt des Tals ergab, der für sie während des ganzen Aufstiegs unsichtbar geblieben war. Die Himmelsbrücke und das Sonnentor, so hatten die Drachenelfen es einst genannt. Emerelle erinnerte sich an die Stimme ihrer Mutter. Sie hatte oft von den Drachenelfen erzählt. Von all den Wundern, die nur sie sehen durften.
Emerelle selbst war noch den Alben begegnet, doch in jener Zeit, als die Ordnung, die sie hatten erschaffen wollen, zerbrach. Als das strahlende Reich der Drachen versank und die Alben sich von den Geschuppten abwandten und nur wenig später von ihrer ganzen Welt.
Die Himmelsbrücke war eine schmale Ader aus schwarzem Basalt. Entblößt vom weicheren weißen Gestein spannte sie sich über einen Abgrund, den Wind und Wasser in Jahrtausenden geformt hatten. Nur zehn Zoll maß die Brücke an ihrer engsten Stelle. Wer dort stand, über sich das unermessliche Blau des Firmaments und unter sich zweihundert Schritt bis zum Boden, der hatte das Ge-fühl, mitten im Himmel zu stehen. Die Schlucht verengte sich an dieser Stelle. Dadurch wurde der Wind verstärkt. Er zerrte mit tausend unsichtbaren Händen an jedem, der es wagte, seinen Fuß auf den Basalt zu setzen. Ihre Mutter Nandalee hatte erzählt, der Weg über die Brücke sei eine der Prüfungen der Drachenelfen gewesen. Manch mutiger Krieger scheiterte hier. Diese Brücke war weit schlimmer als die breitere Shalyn Falah.
Ein Stück entfernt konnte man die Reste einer Basaltbrücke erkennen, die in die Schlucht gestürzt war. Ein Anblick, der die Zweifel über die verbliebene Brücke noch vertiefte.
Jenseits der Brücke lag das Sonnentor. Es war aus weißem Felsgestein, in das der Wind ein weites, rundes Loch gefressen hatte. Auch das umliegende Gestein war korrodiert, so dass man einen riesigen Ring vor sich sah. An sieben Abenden im Jahr füllte die untergehende Sonne den inneren Kreis. Der merkwürdige Fels war eine Laune der Natur, und doch war es ein tiefes, mystisches Erlebnis, die Sonne gefangen in einem Steinring zu sehen. Wer bis dorthin gelangte, der hatte es geschafft, der hatte sich die Anwartschaft darauf erworben, ein Krieger der Drachen zu werden.
Emerelle blickte hinab ins Tal. Natürlich waren die Knochen der Gescheiterten längst vergangen. Die Himmelsbrücke und das Sonnentor waren Relikte eines vergangenen Zeitalters. Es gab keine Drachen mehr, und auch ihre Ritter waren längst nur noch der Stoff von alten Geschichten, die so fantastisch klangen, dass viele argwöhnten, sie seien von Dichtern und Aufschneidern ersonnen.
Emerelle ging an den Grauhäuten vorbei bis zur Brücke. »Das hier ist der Weg. Wer die Brücke überschreitet, der ist frei von mir. Jenseits des Sonnentors erwartet euch ein Tal, in dem ihr alles, was ihr zum Leben braucht, im Überfluss finden werdet.«
»Herrin, wir sind nicht so schwer wie du. Uns wird der Wind in den Abgrund zerren.«
Dobon, der Sprecher, stand inmitten der Zögernden. Emerelle war sich fast sicher, in seiner Stimme die Stimme des Nörglers wiederzuerkennen, der geraten hatte, sie ihrem Schicksal zu überlassen, als sie wehrlos in der Höhle gelegen hatte. Ihre Erinnerung an das Gespräch war nur undeutlich. Letzte Gewissheit würde sie nie haben.
Aber Dobon war der Anführer der Grauhäute. Er musste es gewesen sein! Wer sonst hätte den Mut und die Unverfrorenheit gehabt, einen solchen Vorschlag zu machen?
Bei dem Gedanken an das Gespräch überkam sie heiße Wut. »Ich werde die Brücke überqueren. Was ihr tut, ist nun eure Angelegenheit.« Sie deutete hinab in das Tal.
»Dorthin zu gehen, ist keine Lösung. Ein paar Wochen, und ihr habt alles Wild erlegt und jeden Busch und jede Palme kahlgefressen. Dann müsst ihr erneut hierherkommen. Ihr seid nun eurem Schicksal überlassen. Erinnert dich das an etwas, Dobon?«
Der alte Kobold mit der gebrochenen, unförmigen Nase trat dicht vor sie. »Du hast uns also reden gehört, Herrin. Und nun willst du Rache? Bedenke, dass nur noch ich und meine Tochter übrig sind. Den, der dir helfen wollte, hast du schon gemordet. Mein Volk ist nicht schuldig. Sie wissen nicht, was gesprochen wurde. Sind mein Leben und das meiner Tochter der Preis? Wirst du meinem Volk dann helfen?«
»Nimm deine Tochter bei der Hand. Geh mit ihr über die Brücke. Zeig mir, wie viel Mut du jetzt noch hast.«
»Du bist grausam, Herrin. Hattest du je ein Kind? Kannst du ermessen, was es heißt, es bei der Hand zu nehmen und mit ihm in den Tod zu gehen?«
»Du, der du mich hilflos meinem Schicksal überlassen wolltest, wagst es, von Grausamkeit zu sprechen?«
Der alte Kobold wich vor ihrem Zorn nicht zurück. Er sah sie fest an. »Ich wollte dich töten, um mein Volk vor deiner Willkür zu schützen. Nenne das grausam, wenn du willst. Aber sage mir, welchen Nutzen hat deine Grausamkeit jetzt? Wen beschützt du?«
Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Noroelle, das war ihr einziger Gedanke. Die Elfenmagierin war einst ihre Freundin und Vertraute gewesen. Auch zu ihr war sie grausam gewesen. Und davor hatte es so viele andere gegeben. Al die Verbannten. Alle, die an ihrem Willen zerbrochen waren, bis hin zu ihrem Bruder.
Sie atmete schwer aus. Sie hatte nichts ohne Grund getan. Noroelle hatte ein Dämonenkind geboren und es versteckt, selbst nachdem sie wusste, dass es die Kraft haben könnte, Albenmark zu zerstören. Sie hatte ihre Strafe verdient! Genau wie alle anderen auch. Sie war die Herrscherin Albenmarks gewesen. Es war die Pflicht von Herrschern zu strafen, wo es notwendig war!
Oder war das nur eine Ausrede? Hatte sie wirklich einen Hang zur Grausamkeit? Jetzt war sie nicht mehr die Herrin Albenmarks. Stand es ihr zu, über die Grauhäute zu richten? Sie begriff, dass sie zwar ihre Krone abgelegt hatte, nicht aber ihren Willen zu herrschen. Es war ihr Leben gewesen, so unendlich lange ... Konnte sie ein anderes Leben führen?
Ihr Blick suchte Falrach. Er sah sie vorwurfsvoll an. Olowain hätte sich schützend vor die Grauhäute gestellt. Doch der weiße Ritter war tot. Vergangen für immer. Er konnte nicht zurückkehren, so wie Falrach nach all den Jahrtausenden. Von Ollowain war nichts geblieben als sein Leib.
Trauer schnürte ihr die Kehle zu. Jetzt erst begriff sie, wie sehr sie den weißen Ritter gebraucht hatte. Oft hatte er ihr die Gnade abgetrotzt, die ihrem verhärteten Herzen fehlte. Olowain konnte nur fortleben, wenn sie es schaffte, seinen Großmut in ihr Herz zu lassen. Er musste in ihr leben. In ihren Taten.
Das war alles, was noch von ihm geblieben war.
Diese schwarze Brücke, inmitten weißer Felsen, war ihr Scheideweg in ein anderes Leben. Sie war noch immer die Gefangene ihrer Krone und dessen, was ihre unendlich lange Herrschaft aus ihr hatte werden lassen. Es war an ihr, dies abzulegen.
Dobon stand vor ihr. Aber jetzt war das Koboldmädchen an seiner Seite, das sie mit Lehm eingerieben und auf das Ritual der Traumfänger vorbereitet hatte. War sie seine Tochter?
Emerelle kniete nieder. »Nimm deine Tochter bei der Hand.«
Dobons Unterlippe zitterte. Seine Gesichtzüge wurden weich. Er widersprach nicht. Er streckte Imaga seine knorrige alte Hand entgegen. Auch sie fügte sich widerspruchslos in ihr Schicksal.
Emerelle begann zu singen. Leise und mit geschlossenen Augen. Sie öffnete sich ganz der Berührung des Windes. Es war sehr lange her, dass sie diesen Zauber das letzte Mal gewoben hatte. Wer sich darauf verstand, vermochte selbst Stürme damit zu besänftigen, solange sie nicht magischer Natur waren wie der Drachenatem.
Als der Wind in der Schlucht erstarb, nahm sie Dobon bei der Hand und führte ihn gemeinsam mit Imaga über die Brücke. Dann kehrte sie zurück und nahm die nächsten Kobolde bei der Hand. So ging sie wieder und wieder. Sie trug die Kinder auf ihren Armen. Erlaubte ihnen, mit ihrem Haar zu spielen. Mit jedem Mal, das sie über die Brücke ging, wurde ihr das Herz ein wenig leichter.