Er sah Emerelle nach. Sie trug keine Waffe. Sie trug nicht einmal mehr ordentliche Kleider. War sie verrückt geworden? Madra war anderer Meinung gewesen. Mit jedem Tag, den sie in Gesellschaft der Elfe verbracht hatten, hatte er vor Emerelle mehr Respekt gewonnen. Zuletzt war er der Überzeugung gewesen, dass sie auf einer großen Suche war und dass es sich auf jeden Fall lohnen würde, in ihrer Nähe zu sein, wenn sie fand, wonach sie suchte. Was das war, hatte der Troll nicht benennen können.
Er vermisste Madra. Dieser riesige Trottel. Er hätte einfach in der Höhle bleiben können, statt noch einmal hinaus in den Drachenatem zu laufen. Er hatte sie alle gerettet, dessen war sich Nikodemus sicher. Emerelle hätte es nicht mehr bis zur Höhle geschafft. Aber Madra hatte das nicht wissen können. Bestimmt nicht! Es war nur seine Dickköpfigkeit gewesen, die ihn hinausgetrieben hatte ... Oder hatte er doch etwas geahnt?
»Ich vermisse dich, mein Freund«, murmelte er leise. Es auszusprechen, machte es leichter, seine Trauer zu ertragen. Dass er einen Troll Freund nannte ... Er wurde noch sentimental. Ein Kommandant konnte sich so etwas nicht leisten. Er war seinem Bruder verpflichtet und der großen Erhebung der Kobolde. Und nicht einem Troll...
Er hatte neben Madras Leiche einen Hosenknopf gelegt. Er hatte nichts anderes gehabt, worauf er verzichten konnte. Und ohne den Knopf, nur vom Gürtel allein gehalten, hatte er nun dauernd das Gefühl, seine Hose würde ihm noch während der nächsten paar Schritte bis zu den Knöcheln herabrutschen. Immer wieder packte er sich an den Hosenbund und zog sie hoch. Das war den Grauhäuten auch schon aufgefallen, und sie machten Spaße über ihn. Den Knopf als Andenken bei Madra zu lassen, war wirklich eine verrückte Idee gewesen. Auf diese Weise würde er ihn ganz gewiss so schnell nicht vergessen, dachte Nikodemus, und zog die Hose wieder hoch.
Der Elf, Ollowain, lief an ihm vorbei und eilte an Emerelles Seite. Die Grauhäute ließen sich Zeit. Sie waren erschöpft, ja, aber sie gingen mutwillig immer langsamer. Er konnte sie verstehen. Gewiss dachten sie, dass doch die beiden Riesen nachsehen sollten, wer die Lichter in der Festung entfacht hatte.
Nikodemus begann auch zu laufen. Wenn er seinen Namen groß machen wollte, dann musste er vorne dabei sein. Madra war tot. Wer sollte jetzt bezeugen, dass er je einen Troll geritten hatte? Er brauchte eine neue Heldentat. Vielleicht könnte er Emerelle das Leben retten? Sein Bruder würde das nicht schätzen, aber von so einer Tat würde man sich noch in hundert Jahren erzählen.
Heute Morgen noch war ihm egal gewesen, was mit Emerelle geschah. Ja, er hatte herbeigesehnt, dass Skanga schnell käme, damit die Quälerei und die endlosen Mär sehe endlich ein Ende hätten. Aber die schwarze Brücke hatte ihm die Augen geöffnet.
Dort hatte er begriffen, was königlich war. Emerelle mochte die Grauhäute nicht, dessen war er sich ganz sicher. Niemand mochte sie! Und dennoch hatte sie sie über den Abgrund getragen.
Die Festung war weniger als fünfzig Schritt entfernt, als die beiden Elfen anhielten und sich berieten. So konnte er zu ihnen aufschließen. Außer Atem erreichte er sie.
»Leise«, zischte Ollowain ihn an. »Was willst du hier?«
»Ich muss mit Emerelle reden. Es ist...«
»Nicht jetzt!« Sie selbst hatte geantwortet. »Wenn du mitkommen willst, dann sei leise.
Falrach, du gehst zuerst hinein!«
Der Elf zog seinen Dolch. »Mein Schwert ist mir leider abhanden gekommen. Das wird…«
Emerelle legte ihm die Hand auf den Waffenarm. »Steck ihn weg. Du brauchst keine Waffen. Du bist die Waffe!«
Er lächelte melancholisch. »Das war Ollowain.«
»Das gilt auch für dich. Vertraue dir.« Sie gab ihm einen Kuss. Kurz, aber leidenschaftlich. »Ich vertraue dir, Falrach.«
Nikodemus fand das alles im höchsten Maße befremdlich. Elfen waren eindeutig schwerer zu verstehen als Trolle. Ganz besonders diese beiden. Er hatte das Gefühl, dass viel Ungesagtes zwischen den beiden schwang. Als Falrach ging, wirkte er irgendwie größer. Es war aberwitzig, das wusste Nikodemus. Aber der Kuss und die Worte hatten ihn irgendwie wachsen lassen.
Schweigend sahen sie ihm nach, bis er hinter den Ruinen verschwand.
»Willst du immer noch mit?«, fragte Emerelle leise. Nikodemus nickte und hoffte, dass sie keine weiteren Fragen stellen würde. Es wäre ihm schwergefallen, seine Beweggründe zu erklären. Wenn er sagte, dass er ein Held sein wollte, dann hätte sie ihn vermutlich belächelt. »Herrin, Skanga wird kommen. Sie weiß, wo wir sind.«
Die Elfe nickte. »Du hast sie also benachrichtigt.« »Es war keine Absicht.«
»Und jetzt willst du mit mir gehen und dich womöglich in Gefahr begeben.«
Er nickte. »Ja, das will ich.«
»Ihr Lutin seid ein sehr seltsames Volk, Nikodemus. Sehr seltsam.« Sie sah zu den Grauhäuten. Sie waren ein ganzes Stück entfernt stehen geblieben und warteten, was geschehen würde. »Skanga kann nicht schneller hierher gelangen als wir. Der nächste Albenstern, den sie ohne Gefahr durchqueren kann, ist eine Woche Fußmarsch entfernt. Und auch sie muss den Drachenatem überwinden. Wir sind hier sicher. Für eine kurze Zeit zumindest. Das da vorn ist nicht sie. Sie müsste frei durch die Albenpfade und das Nichts streifen können, um so schnell hierherzu-gelangen. Das vermag nicht einmal sie.«
Das ließ sich nicht von der Hand weisen, dachte Nikodemus, und dennoch fühlte er sich nicht viel besser. Sie war schließlich Skanga. Vielleicht fand sie einen Weg.
»Willst du immer noch mit? Und wem gehört eigentlich deine Loyalität?«
Nikodemus nahm sich ein wenig Zeit, die Frage zu bedenken. Seltsamerweise bedrängte ihn Emerelle nicht.
»Meine Loyalität gehört mir«, sagte er schließlich.
Die Elfe lächelte. »Wahrhaft die Antwort eines Lutin. Wollen wir gehen?«
»Ja.« Das Wort kam ein wenig zögerlich. Hatte er seinen Mut überschätzt? Er folgte der Elfe. Bald hatten sie die alte Festung erreicht. Drohend ragten die Mauern über ihnen auf. Der Boden war bedeckt mit Gesteinstrümmern und trockenem Vogelkot, der unter seinen Sohlen leise knisterte. Emerelle hingegen bewegte sich völlig lautlos. Sie war wie ein Schatten.
Das Festungstor lag seitlich hinter einem vorkragenden Turm, so dass es von der Terrasse beim Tunnel nicht zu sehen gewesen war. Die hohen Pforten standen offen.
Die Türflügel schimmerten, als seien sie aus lauterem Gold geschaffen. Reiter, die auf Pegasi einen fliegenden Drachen begleiteten, schmückten das Tor.
Nikodemus’ Fell sträubte sich. Der ganze Ort war von mächtiger Magie durchdrungen.
Einige der Zauber waren gewoben, um dem Verfall entgegenzuwirken. Andere stärkten die Mauern oder erhielten die Leuchtkraft der Malereien, die die Wände des Innenhofs schmückten.
Die Flanken des Hofs waren von Ställen gesäumt. Waren hier einmal Pegasi untergebracht gewesen? Stellte man geflügelte Pferde in Ställe?
Emerelle sah sich nicht um, sondern ging zielstrebig auf die andere Seite des Hofes zu.
Ein von Säulen getragenes Vordach verwehrte den Blick auf den Eingang zum massigen Bauwerk. Hoch über dem Hof lag ein Fenster, aus dem warmes, bersteinfarbenes Licht fiel.
Nikodemus hatte das unbestimmte Gefühl, dass Emerelle diesen Ort kannte. Sie eilte die weiten Treppenstufen zum Vordach hinauf und verschwand im tiefen Schatten.
Der Lutin hatte Schwierigkeiten, die Treppe zu bewältigen. Hier hatten keine Kobolde gewirkt, so viel war sicher. Die Stufen zu erklimmen, war ein Kraftakt. Und nirgends gab es eine Rampe oder eine Treppenflucht mit flacheren Stufen. Wer hier wohl einst den Elfen den Arsch nachgetragen hatte, dachte er gehässig.
Im Schatten des Säulendachs wartete niemand auf ihn. Nach kurzer Suche fand er den Eingang zum Hauptgebäude. Er lag in einer Achse mit dem Tor auf dem Hof. Seine Schritte hallten unnatürlich laut, als er eintrat. Er hatte das Gefühl, in einem sehr großen Raum zu stehen. Aber es gab kein Licht. Er konnte kaum die Hand vor Augen sehen.