Ein trockener, staubiger Geruch hing in der Luft. Sollte er nach Emerelle rufen? Wo steckten die beiden?
Seine Augen gewöhnten sich einfach nicht an die Dunkelheit. Es war, als läge ein Zauber auf diesem Turm, der ihn verbergen sollte. Was für eine hirnverbrannte Idee, mit diesen beiden Elfen mitzuziehen. Er hätte es besser wissen müssen. Wenn es hart auf hart kam, durfte man sich als Kobold niemals auf Elfen verlassen. Die dachten an das kleine Volk stets zuletzt, wenn überhaupt.
Vielleicht sollte er umkehren? Aber dann würde er vor den Grauhäuten wie ein Feigling dastehen. Das kam nicht infrage! Mit ausgestreckten Händen tastete er sich vorwärts. Auf dem Boden lag Geröll. Aber auch andere Dinge waren dort. Einmal knirschte etwas metallisch, als er daran stieß. Dann trat er auf einen dicken Teppich.
Beklommen sah er zurück. Jetzt konnte er auch den Eingang nicht mehr entdecken.
Was war das? Das Tor zum Hof, in den Sternenlicht fiel, hätte sich deutlich gegen die Finsternis dieser Halle abzeichnen müssen.
Irgendwo knirschte etwas. Nikodemus hielt den Atem an. Er war hier nicht allein! Das Geräusch war von links gekommen. Also würde er nach rechts ausweichen. Er machte einen Schritt, dann noch einen … Da wurde er gepackt und hochgehoben!
Er versuchte seinen Angreifer zu beißen, doch eine starke Hand drückte ihm die Schnauze zu. »Vor dir war ein Loch im Boden.«
Das war die Stimme des Verrückten, der nicht länger glaubte, Ollowain zu sein.
»Du bist nicht in Gefahr.«
»Wo ist Emerelle?«
»Sie ist nach oben gegangen.«
Wie er sich gedacht hatte. Elfen scherten sich einen Dreck um Angehörige des kleinen Volkes.
»Sie hat mich geschickt, dich zu holen.«
Nikodemus knurrte leise. Na gut, meistens scherten sich Elfen einen Dreck um Kobolde. »Warum ist es hier so verflucht dunkel?«
»Wegen all der Toten«, sagte der Elf niedergeschlagen. »Es war keine Zeit, sie zu bestatten. Deshalb wurde dieser Zauber gewirkt, um sie vor den Blicken zu verbergen.«
Nikodemus überlegte, ob es wohl sehr kaltherzig wäre, nachzufragen, von was für Toten hier die Rede war. Und vor allem, was sie umgebracht hatte. Indessen trug Falrach ihn lautlos durch die Halle. Es war demütigend, wie ein kleines Kind herumgetragen zu werden! Aber er hielt die Schnauze. Fragte nicht nach Toten und beschwerte sich auch nicht. Elfen waren einfach zu empfindlich, um mit ihnen vernünftig reden zu können.
Es war, als stoße man mit dem Kopf durch die Oberfläche eines Gewässers, so plötzlich änderte sich das Umfeld. Es war noch dunkel, aber vor ihnen fiel ein warmer Lichtschein durch eine Zimmertüre. Sie befanden sich auf einem Flur. Und endlich setzte Ollowain ihn ab!
»Dort vorne ist Emerelle«, sagte der Elf und deutete auf die erleuchtete Tür.
Nikodemus sog misstrauisch witternd die Luft ein. Sie war trocken. Auch hier roch es nicht nach Verfall. Nur nach Magie. Vorsichtig näherte er sich der Tür. Sie war eine von mehr als einem Dutzend an dem Flur. Jede der Türen sah anders aus. Sie waren mit Intarsien geschmückt oder aus verschiedenfarbigen Hölzern gearbeitet. Nur eine einzige stand offen.
Das Zimmer, in dem Emerelle sich befand, war geräumig, aber nicht riesig. Ein Elf hätte wohl gesagt, dass es exquisit eingerichtet war. Sie mochten leere Zimmer, in denen nur wenige Möbel und einzelne Kunstwerke standen. Hier gab es ein schmales, recht unspektakuläres Bett. Einen Tisch mit geschwungenen Bronzebeinen und einer Platte aus grünem Stein. Daneben ein Ding, das halb Stuhl und halb Bank war, mit einem hohen Rückenteil. Es sah hübsch aus und ungemütlich.
Eine meergrüne Lacktruhe mit aufgemalten, springenden Delfinen rundete die Einrichtung ab. Ein langer Schild mit Kampfspuren zierte die Wand. Dahinter eine Lanze. An anderer Stelle hingen gekreuzte Schwerter. Auf dem Tisch stand eine Steinskulptur, die eine abstrakte, sich windende Form zeigte, ohne dass man benennen konnte, was genau sie darstellte. Von dem Stein ging das Licht aus. Nikodemus hatte ähnliche Steine schon zuvor gesehen.
Barinsteine nannten die Elfen sie. Mit welcher Magie man Licht in sie hineinbekam, wusste der Lutin nicht. Sie waren selten. Und ihr Licht strahlte über Jahrhunderte, wenn es einmal entzündet war.
Emerelle ging gedankenverloren in dem Zimmer auf und ab. Dabei ließ sie die Hände über die spärlichen Möbel gleiten. Die Art, wie sie sich bewegte und wie ihre Finger zärtlich über die glatten Oberflächen strichen, strahlten eine stumme Trauer aus, die Nikodemus nicht mit Fragen zu stören wagte.
Der Lutin sah zu Ollowain, der an der Tür verharrte. Der Elf machte eine flüchtige Geste in Richtung des Tischs.
Nikodemus zögerte kurz. Er hatte Sorge, dass jede Bewegung Emerelle stören könnte.
Doch dann siegte seine Neugier. Er stieg auf das seltsame Sitzmöbel. Auf dem Tisch lag ein Stück Pergament. Es war vergilbt und augenscheinlich schon sehr alt. Aber statt Fragen zu beantworten, warf es nur neue auf. Zwei Zeilen in geschwungener, altertümlicher Schrift standen dort.
Ich weiß, du wirst hierherkommen, Emerelle. Ich erwarte dich beim Drachenthron.
Die Taten der Vergangenheit
Emerelle bewegte sich vorsichtig über den Kiesweg. Es erinnerte sie an ihre Kindheit.
Ihre Mutter hatte ein Spiel daraus gemacht, ob sie es schaffte, lautlos über einen Kies weg zu gehen. Damals, als Kind, hatte Emerelle keine Ahnung gehabt, wie wenig Spiel das in Wahrheit war. Ihre Mutter hatte sie auf eine Jugend voller Fluchten vorbereitet, denn Nandalee hatte gewusst, dass sie kommen würden. Jene übermächtigen Feinde, die Herren der Welt.
Dieser Kiesweg war in erstaunlich gutem Zustand, wenn man bedachte, wie lange er nicht mehr gepflegt wurde. Alles in diesem Tal war von der Magie der Drachen durchdrungen. Der Garten war einmal für die Ewigkeit angelegt worden. Es war ehrfurchtgebietend, zu sehen, wie die Drachenmagie im Duell mit Zeit und Natur Bestand bewahrt hatte. Emerelle hatte Zweifel, dass sie Schutzzauber von ähnlicher Macht wirken könnte. Der Kiesweg führte durch einen Dschungel. Dazu war der große Garten inzwischen geworden. Rechts und links des Weges hatten sich Böschungen aus neuer, tiefschwarzer Erde gebildet. Das Resultat eines jahrtausendelangen Zyklus aus Vergehen und Wiedererstehen. Kaum eine Wurzel hatte den Kiesweg durchbrochen.
Nur an wenigen Stellen lagen verfaulende Blätter oder spross ein Grasbüschel. Es war genug, um sich mühelos ohne ein Geräusch über den Weg aus schneeweißen Kieseln zu bewegen. Und doch war er immer noch ein Zeugnis der Drachenmacht.
Emerelle hatte Falrach und Nikodemus zurück zu den Grauhäuten gebracht. Die Festung war sicher. Für eine Nacht würde sie den Grauhäuten ein gutes Quartier bieten. Die Elfe hatte ihren beiden Gefährten nicht gesagt, wohin sie gehen würde, aber sie ahnten es gewiss. Die weiße Pyramide beherrschte das ganze Tal. Es war offensichtlich, dass man den Drachenthron dort finden würde. Und Emerelle wusste genau, wer sie darauf erwartete.
Die Geräusche des Dschungels drangen auf sie ein. Das Zirpen von Insekten, die Balzrufe eines Affen. Einmal das schrille Klagen einer Nachtschwinge. Es roch nach Morast, nach verfaulenden Blättern und dann wieder nach schweren Blüten.
Der See, der nahe der Pyramide lag, hatte seine Uferbefestigungen gesprengt. Er griff hinaus in den Park. Seine streng abgezirkelten Grenzen waren verschwunden. Auf einer neuen Insel stand ein einzelner Mangobaum. Der Duft seiner Früchte überlagerte jeden anderen Geruch.
Jemand hatte Trittsteine in das flache Wasser gelegt. Sie führten zum Eingang der Pyramide, jenem gewaltigen Tor, das sich weit vor der Pyramide erhob. Ein Tor, das groß genug war, einen Sonnendrachen zu verschlucken.
Die Pyramide war ein künstlich erschaffener Berg. Die Idealform eines Berges! Einst hatten die Urahnen der Drachen in großen Höhlen gelebt. Zuletzt aber hatten sie sich ihre Berge und Höhlen selbst erschaffen. Sie hatten Landschaften geformt, und wer ein kundiges Auge hatte, der vermochte das Wirken der Drachen auch nach vier Jahrtausenden noch an vielen Orten Albenmarks zu erkennen.