Vorsichtig setzte Emerelle den Fuß auf den ersten Trittstein. Das Wasser verströmte einen Modergeruch. Nicht weit entfernt sah sie zwei Krokodile am Ufer liegen und dösen. In ihrer neuen Heimat würden die Grauhäute nicht nur als Traumfänger kämpfen müssen. Hier erwarteten sie auch greifbare Gefahren. Emerelle dachte an all die Geschichten, die sie über den Jadegarten gehört hatte. Krokodile waren nicht das einzige Übel, das man hier fürchten musste.
Siebzehn Trittsteine führten über den seichten See bis zum Eingang der Pyramide. Die Kraft der Erdbeben, deren Zeugnisse sich allerorten im Tal fanden, war auch hier unübersehbar. Risse fanden sich im bleichen Mauerwerk des flachen Bauwerks mit seinen stämmigen Säulen. Schmutzschlieren zogen sich über den Boden des Eingangs und über die weite Rampe, die in die Tiefe führte. Drachen mochten keine Treppenstufen. Wege, die auch sie benutzten und die ein Gefälle überbrückten, waren stets als Rampen angelegt worden. Deshalb lag der Eingang fast zweihundert Schritt vor der Pyramide. Die Rampe führte in sanftem Gefälle zum Thronsaal, der tief unter dem Prachtbau lag.
Als Emerelle zwischen den Säulen hindurchtrat, fröstelte es sie. Die Geschichte schien hier stillzustehen. Weihrauchduft lag in der Luft. Die Fresken an den Wänden erstrahlten in so üppigen Farben, als seien sie eben erst vollendet worden. Sie zeigten einen gewaltigen Sonnendrachen, dessen Flügel mit bunten Mustern fast wie bei einem Schmetterling bedeckt waren. So sehr Trolle Metalle verabscheuten, Drachen hatten sie geliebt. Der Drache auf dem Bild trug Schmuck. Goldringe durchbrachen die Ränder seiner Flügel. Prächtige Reife umfassten seine Füße. In die tödlichen Krallen waren komplexe Spiralmuster graviert. Sie waren eitel gewesen!
An den Wänden des Gangs, der mit leichter Neigung abwärts führte, leuchtete das warme Licht von Bannsteinen. Zum Weihrauchduft mischte sich nun auch der Gestank brackigen Wassers.
Emerelle beschleunigte die Schritte und verschloss sich den Bildern. Sie hatte diese Zeit tief in ihrem Herzen begraben. Die Schrecken der Drachenkriege, den Tod ihrer Mutter und Fairachs, all das war um sie herum nun wieder lebendig. Der Schrecken und der Glanz des Zeitalters, in dessen höchste Blüte sie hineingeboren war.
Der Gang öffnete sich in eine weite Halle. Wuchtige Säulen erhoben sich, um eine Decke zu tragen, die weit über ihr in der Dunkelheit verborgen blieb. Wasser war in die Halle eingedrungen. Das Licht dreier Feuer, die in goldenen Räucherpfannen brannten, brach sich im makellosen Schwarz seiner Oberfläche. Blaugrauer Rauch schwebte in dichten Schwaden über dem Wasser.
Inmitten des überfluteten Saals erhob sich eine flache Insel aus dem Wasser. Der Drachenthron. Leichte Vertiefungen waren in die steinerne Insel eingearbeitet. Sie war vollkommen auf die Körpermaße des Königs angepasst worden. Dort hatte er einst gelegen, halb zwischen Träumen und Wachen. Er hatte Gärten ersonnen und künftige Schlachten im Krieg gegen die Devanthar überdacht.
Jetzt wartete auf dem Drachenthron die Gazala. Sie hatte ihre schlanken Gazellenbeine nach hinten gestreckt und stützte sich auf ihren Handflächen ab. Den Oberkörper zurückgebogen, das Kinn herausfordernd vorgestreckt, hatte sie etwas zutiefst Animalisches. Gewundene Hörner wuchsen aus ihrer Stirn und krümmten sich in weitem Bogen ihrem Rücken entgegen. Die Gazala war nackt. Sie hatte sich allein in Farben gekleidet. Verschlungene Muster in Weiß, Scharlachrot, Dunkelblau und hellem Grau bedeckten ihren gebräunten Leib. Ihre Augen waren geschlossen.
Weihrauch umspielte sie.
Emerelle war sich sicher, dass die Gazala wusste, dass sie eingetroffen war. Sie war eine Seherin. Viel zu klug und begabt. Sie und ihre Schwester waren einst eine Gefahr gewesen. Es war besser, wenn die Zukunft ungewiss blieb. Firaz und Samur aber hatten sie jedem entblößt. Auch wenn sie, nach Art der Orakel, manches Mal in viel-deutigen Versen sprachen, so mochte der Kluge in ihren Worten doch stets die Wahrheit zu finden.
»Willkommen, gefallene Königin!« Die Stimme der Gazala war durchdringend. Es war eine von jenen dunklen, leicht rauchigen Frauenstimmen, die Emerelle stets ein unangenehmes Gefühl bereiteten. Es war eine Stimme, die einen durchdrang. Deren Worte tief im Inneren vibrierten.
Emerelle trat in das Wasser. Es war warm. Der Schmutz gab ihm eine schlammige, weiche Dichte. Es streichelte über ihre Beine. Ihre Zehen gruben sich in weiches Sedi-ment. Ihre Schritte ließen dunkle Wolken unter der Wasseroberfläche aufsteigen.
Sie spürte eine flüchtige Berührung. Etwas hatte kurz ihre Wade gestreift. Die Elfe zwang ihren Ekel nieder und ging weiter.
»Blutegel, Wasserratten, Schlangen und eine Vielzahl von Würmern und kleinen Insekten.« Die Worte bohrten sich in ihre Eingeweide.
Emerelle hatte sich in Gedanken gefragt, was in diesem Wasser lebte. Aber sie hatte es nicht wirklich wissen wollen! So war sie schon früher gewesen. Gerne hatten Firaz und ihre Schwester Samur mehr Wahrheiten ausgesprochen, als man wissen wollte.
Bis zu den Hüften reichte Emerelle nun das Wasser, und der Boden war immer noch leicht abschüssig. Wie tief war es? Die Elfe blickte auf, doch diesmal schwieg die Seherin. Firaz hockte sich hin. Wegen der Gazellenbeine sah es seltsam aus. Die Winkel, in denen sie die Gelenke knickte, schienen nicht zu stimmen.
»Du solltest der Silberschale neben deinem Thron nicht zu sehr vertrauen. Sie ist nicht aufrichtig. Sie zeigt nur die dunkle Seite der Zukunft.«
»Ich weiß«, entgegnete Emerelle.
»Und von mir erhoffst du dir eine Antwort zu Ollowain. Ausgerechnet von mir, die du mich vor mehr als dreißig Jahren verbannt hast. An einen Ort, an dem außer mir niemand lebt. Dreißig endlose Jahre kam niemand, um mich nach der Zukunft zu fragen.«
Emerelle blieb stehen. Sie hatte sich der Gazala auf etwa sieben Schritt genähert. Das trübe Wasser reichte ihr nun bis zu den Brüsten. »Allein wirst du in Zukunft jedenfalls nicht mehr sein«, entgegnete die Elfe. »Das Volk der Grauhäute wird von heute an im Jadegarten leben.«
»Sie werden mich nicht stören«, erwiderte die Gazala mit einem eigenartigen Lächeln.
»Ich hasse dich, Emerelle, denn du hast mein Leben zerstört. Aber dies ist ein Orakel, und du hast eine weite, gefahrvolle Reise gemacht, um hierherzukommen. Ich werde dir eine Frage beantworten. Nur eine einzige! Wähle gut!«
Emerelle musste nicht überlegen. Die Gazala wusste ja bereits, wonach sie fragen würde. »Wie kann ich Olowain zurückholen?«
Firaz sah sie durchdringend an. Ihre Augen waren von einem warmen, hellen Braun. Ihre Iris füllte das ganze Auge. Kein Weiß war zu sehen.
Die Elfe fühlte sich unter dem Blick unbehaglich. Etwas stimmte nicht.
Firaz stieg ins Wasser. Sie kam zu ihr. Sie trat so nah an sie heran, dass Emerel e den Atem der Gazala auf dem Gesicht spüren konnte. »Ich habe dich viele Jahre lang tief gehasst, denn du hast mein Leben zerstört. Und das nur, weil ich tat, was mir bestimmt war. Mein Hass hat mich dazu verführt, deine Zukunft zu erkunden. Deshalb wusste ich, dass du kommen wirst. Und ich wusste, was du fragen wirst. Ich sage dir das alles, damit du mir glaubst, wenn ich dir jetzt antworte. Meinen Hass habe ich lange abgelegt. Ebenso meine Furcht um den Tod. Denn ich weiß schon seit langem, wann ich sterben werde und wie es geschehen wird. Als junge Frau war ich so dumm, meine Schwester danach zu fragen. Sie hat mir ehrlich geantwortet. Seitdem liegt der Schatten des Todes, den andere erst spüren, wenn ihr Ende naht, über meinem Leben.«
Emerelle hatte das Gefühl, dass Firaz zu lange allein gewesen war. Ihre Rede erschien ihr wirr. Aber sie war ein Orakel. Und alle Orakel waren dafür berüchtigt, keine klaren Antworten zu geben. Sie beherrschte sich, die Gazala nicht zu unterbrechen.