Es wird zu seiner Vergangenheit, obwohl sie niemals stattgefunden hat. Wie ich schon sagte, Ollowain ist ein leeres Gefäß, das gefüllt sein will. Und es ist diesem Gefäß ganz gleich, was du hineinfüllst. Es kann nicht zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden.
Ich denke, die ersten Geschichten, die hineingegeben werden, haben das größte Gewicht. Sie legen das Fundament, auf dem sich seine Persönlichkeit aufbauen wird.«
Falrach hatte Schwierigkeiten, das alles zu verstehen. »Er ist also tot.«
»Alles, was ihn ausmachte. Aber der Körper, in dem deine Seele und alle Erinnerungen an dein Leben erwachten, will ihn zurückhaben. Nur - da gibt es nichts mehr, was man zurückholen könnte. Deshalb wird er einen neuen Ollowain ausformen. Aber es wird nicht der sein, der er einmal war.«
»Aber seine Seele ... « Er hob hilflos die Hände.
»Seine Seele und die Erinnerung an sein Leben sind nicht dasselbe. Ihr beide habt dieselbe Seele. Aber ihr habt zwei verschiedene Leben. Und sein Leben wurde gelöscht. Es gab in alter Zeit eine Stadt mit Namen Tildanas. Dort versammelten sich jene Zauberweber, die sich den dunklen, abseitigen Pfaden der Magie verschrieben hatten. Sie erschufen auch die Traumscheiben, Scheiben aus Ton, auf denen immer dichtere Reihen von Schriftzeichen erscheinen, wenn man sie betrachtet. Manche Weise sagen, ihr ursprünglicher Zweck sei es gewesen, die Erinnerungen von Sterbenden zu erhalten. Aber sie konnten auch wie eine Waffe benutzt werden. Wer sie unwissend betrachtet, dem wird die Persönlichkeit gestohlen. Und er merkt es nicht einmal. Ich denke, Ollowain wurde ein Opfer dieses Zaubers in abgewandelter Form.«
»Gibt es denn einen Gegenzauber?«
Die Gazala sah ihn zweifelnd an. »Vielleicht. Wenn man die Traumscheiben, oder was auch immer Ollowains Erinnerungen in sich aufnahm, wiederfinden könnte. Möglicherweise könnte man ihm sein Bewusstsein dann zurückgeben. Aber es würde nur schwer möglich sein. Tildanas versank vor langer Zeit im Meer. Manche sagen, es war das Werk der Devanthar, weil sie die Magie fürchteten, die dort ersonnen wurde. Das Wissen seiner Zauberweber gilt als verloren. Einige Traumscheiben sind jedoch in der Bibliothek von Iskendria erhalten geblieben. Aber niemand weiß mehr, wie sie erschaffen wurden.«
Falrach betrachtete seine verletzten Hände. Ollowain würde also zurückkommen. Das hieß, er würde ein zweites Mal sterben. Und wie es schien, konnte er nichts dagegen tun.
»Ich kann dich von Ollowain befreien«, sagte Firaz erneut.
Falrach fragte sich, ob auch sie sich der dunkleren Seite der Magie zugewandt hatte.
Welche Geheimnisse hatte es in diesem Tal, in dem sie so lange gefangen gewesen war, wohl zu entdecken gegeben? Überall fanden sich Zeugnisse der alten Drachenmagie.
Hatte sie von deren Zaubern gelernt?
»Das wäre, als würde Olowain noch einmal ermordet werden.« Er hob den Blick von seinen Händen. Aber dafür würde er selbst leben, dachte er. Und er war zuversichtlich, dass er Emerelles Herz ein zweites Mal gewinnen könnte.
»So wäre es nicht«, widersprach die Gazala heftig. »Ollowain ist tot! Das ist eine Tatsache. Und solange man die Traumscheiben, oder was immer auch seine Erinnerungen in sich aufgenommen hat, nicht wiederfindet, kann man ihn nicht zurückholen.
Was in dir entstehen wird, ist nicht Ollowain! Das musst du ganz klar sehen. Du tötest ihn nicht! Mit solchen Gedanken musst du dich nicht belasten. Aber das, was in jenem erwächst, das danach lechzt, sich mit Erinnerungen an Ollowain zu füllen, wird deine eigene Persönlichkeit verdrängen. Und es wird keine Frage nach Moral stellen. Du bist der echte Falrach! Und du wirst durch eine Kunstgestalt, die sich für Ollowain hält, ermordet werden, wenn du dich nicht wehrst, solange es noch an der Zeit dazu ist!«
Falrach zögerte. Er blickte auf den Metallsplitter zu seinen Füßen. »Was war das in dem Sack?«
»Zerbrochene Heldenschwerter. Es gibt eine Menge davon oben in der großen Eingangshalle der Festung. Eigentlich waren sie schartig und nach all der Zeit nicht mehr sehr scharf. Aber diese Pyramide sammelt die magische Kraft des Tals. Hier wirken seltsame Zauber. Auch nach all den Jahren verstehe ich sie nicht alle. Bringt man eine stumpfe Klinge nach hier unten, dann wird sie nach einiger Zeit wieder scharf. Frag mich nicht, warum es so ist. Der Splitter, den du in Händen hältst, ist einzigartig. Dies ist Sternenerz, das in die Wüste gefallen ist. Elfenschmiede haben daraus einst ein wunderbares Schwert erschaffen.«
»Die Toten oben ... Wer hat sie angegriffen?«
»Auch da bin ich mir unsicher. Aber es scheint, als hätten die Drachenelfen gegeneinander gekämpft.« »Warum?«
Sie breitete in vielsagender Geste ihre Hände aus. »Ich kann die Fragen der Lebenden beantworten. Die der Toten nicht.«
Falrach nahm den Metallsplitter in die Hand. Auf einer Seite war ein verschlungener Kreis in den Stahl ziseliert. Die andere Seite war blank. »Warum hast du mich in diesen Sack voller scharfer Schwertsplitter greifen lassen?«
»Weil ich Firaz von den Gazala bin. Meine Prophezeiungen sind so genau, dass selbst die Herrscherin Albenmarks sie fürchtete. Einige primitive Wald- und Wiesenhexen benutzen Knochenbeutel und geben sich als Wahrsagerinnen aus. Das ist so, als blicke man an einem klaren Sommertag aus dem falschen Winkel in einen stillen Teich. Man sieht sein eigenes Spiegelbild. Oder besser gesagt, als falsche Seherin eine Projektion seiner eigenen Erwartungen. Den Grund des Gewässers aber, den sieht man nicht. Das, was man sucht, wird durch das Spiegelbild überlagert. Ich bin der Meinung, dass man tiefer und klarer sehen kann, wenn man einen Fokus nutzt, der mit dem, dessen Schicksal man ergründen will, in Verbindung steht. Du bist Falrach, ein Spieler und berühmter Feldherr. Du steckst im Leib Ollowains, des Schwertmeisters der Königin.
Schwerter sind dein Schicksal. Deshalb musstest du in diesen Beutel greifen.«
»Schwerter sind mein Schicksal«, wiederholte er leise und sah auf den Splitter in seiner Hand. »Mein Gefühl sagt mir, dass ich ein Mörder werde, wenn ich dich bitte, dies leere Gefäß, wie du es nennst, zu zerstören.«
»Man kann nichts ermorden, was schon tot ist. Du solltest es genau andersherum betrachten. Das, was anstelle Ollowains in dir erwachsen wird, das wird dich mit Gewissheit töten. Daran kann es keinen Zweifel geben. Ungewiss ist nur, was das für eine Persönlichkeit sein wird.
Die Trolle haben einige eindrucksvolle Namen für den Schwertmeister gehabt. Da hieß er …«
Falrach schnitt ihr mit einer harschen Bewegung das Wort ab. »Das sind Dinge, die ich über ihn nicht hören möchte. Ich glaube, ich habe dich und deine Warnung jetzt gut verstanden. Und da Schwerter ja mein Schicksal sind, soll dieses hier über meine Zukunft entscheiden.« Er hielt den Splitter hoch. »Der Kreis bedeutet, ich stelle mich der Gefahr durch den wiederkehrenden Olowain. Die blanke Fläche aber heißt, dass du das leere Gefäß in mir zerstörst, damit ich in Frieden, wenn auch mit schlechtem Gewissen lebe.« Er lächelte. »Zu meinen guten Eigenschaften gehört, dass sich ein schlechtes Gewissen bei mir nie sehr lange hält.«
Sie sah ihn mit undeutbarer Miene an. Er schnippte den Splitter hoch, fing ihn auf und lege ihn auf seinen Handrücken. Einen Atemzug lang zögerte er es hinaus. Dann zog er die Hand weg, mit der er den Splitter gefangen hatte, schirmte ihn aber gegen den Blick der Gazala ab.
»Und?«
Er ließ das Bruchstück des alten Schwertes zu Boden fallen. »Wie es scheint, werde ich mich Ollowain stellen müssen.«
Die Gazala sah ihn traurig an. »Du entscheidest über dein Schicksal, nicht ein Stück Metall.« Sie bückte sich, hob den Splitter auf und hielt ihn Falrach hin. »Nimm ihn, er wird deine Liebe beschützen.«