Der Elf sah nicht besser aus als der Kentaur. Auch er hatte einiges abbekommen, was ihn aber nicht weiter zu stören schien.
Ollowain betrachtete die beiden und wünschte sich, noch einmal so jung und frei zu sein. Bei einem Ballspiel alle Übel dieser Welt vergessen zu können, das war beneidenswert. Dennoch würde er Melvyn in dieser Nacht nicht aus den Augen lassen.
Die Wahrheit
Obilee hatte sich immer für sehr langmütig gehalten. Als aber Shandral endlich auf ein Lager in seinem großen Stadthaus gebettet wurde, war sie mehr als nur erleichtert. Der Fürst war während des Transports aus seiner Ohnmacht erwacht und hatte den Rückweg stöhnend und fluchend hinter sich gebracht. Wobei seine Flüche selbst die hart gesottenen Kentauren sichtlich eingeschüchtert hatten.
»Du gestattest, dass ich mich ein wenig in deinem Haus umsehe, Fürst? Unser Feldherr ist um deine Sicherheit besorgt, und ich bin verantwortlich für dein Wohlergehen.«
»Darum wird sich Madrog schon kümmern! Schick nach meinem Koboldhauptmann! Warum ist er noch nicht hier?«
Das Lager des Fürsten war von Kobolddienerinnen in schlichten, meergrünen Kleidern und mit weißen Hauben umgeben. Auch einige Wachen standen in den Ecken und gaben sich alle Mühe, ihrem Fürsten nicht aufzufallen. Offensichtlich fürchteten sie, Shandral könne sie für den Unfall zur Verantwortung ziehen.
»Sag deinem Ollowain, dass ich ihn durchschaue. Das war ein Mordanschlag, und ich werde ihn dafür zur Verantwortung ziehen! Die Blutfäule soll er bekommen! Ich bin kein Mann des Schwertes, aber ich bin nicht wehrlos! Er wollte, dass ich unter meinem Pferd zerquetscht werde, dieser niederträchtige Speichellecker der Königin. Er wird den Tag noch verfluchen, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Sag ihm das!«
Obilee atmete tief aus und versuchte gleichmütig zu bleiben.
»Ich werde Ollowain berichten, was du gesagt hast. Gestatte, dass ich mich nun zurückziehe.«
Shandral machte eine wedelnde Handbewegung und zuckte vor Schmerz zusammen. »Ja, fort mit dir! Ich kann euch widerliche Schleimer nicht mehr ertragen. Weg ...« Er versetzte einer Koboldfrau eine Ohrfeige, die sie von seinem Bett stürzen ließ.
»Passt auf, was ihr tut, ihr elendes Gewürm. Die Nächste, die mir mit ihren ungewaschenen krummen Fingerchen Schmerzen bereitet, lasse ich an die Hauswand nageln!« Er breitete die Arme aus. »Los schneidet das Hemd auf! Und dann ruft nach einem richtigen Heilkundigen. Schleppt mir bloß keinen Quacksalber ins Haus!«
Obilee zog sich aus dem Zimmer zurück. Shandral war eigentlich kein hässlicher Mann. Doch seine Seele schien durch und durch verrottet zu sein. Jetzt offenbarte sich sein wahres Gesicht. Welch ein Albtraum musste es sein, zu seinen Dienern zu gehören. Sie würde Emerelle von ihm berichten. Er war eine Schande für alle Elfenfürsten. Vielleicht konnte die Königin ihn seiner Herrschaft berauben oder ihn zumindest in die Schranken weisen?
Obilee trat auf den Flur hinaus. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt. Eine enge Treppe führte hinab in die Eingangshalle. Überall waren Diener, doch es herrschte Totenstille. Obilee war schon im Gemach des Fürsten aufgefallen, dass die Koboldfrauen dicke Filzschuhe trugen. Sie bewegten sich lautlos. Und jeder, der der Elfe begegnete, senkte den Blick.
Der Flur machte kurz hinter der Tür zu Shandrals Zimmer einen scharfen Knick. Dieses unübersichtliche Haus war wie dafür geschaffen, sich zu verstecken. Sollte Melvyn tatsächlich hierher kommen, dann könnte er sich wohl ohne weiteres verbergen.
Obilee zögerte nur kurz, dann ging sie den Flur hinauf, statt über die Treppe zur Eingangshalle zu eilen. Ollowain hatte sie gebeten, auf Shandral zu achten, und ganz gleich, was sie vom Fürsten von Arkadien hielt, sie würde ihre Aufgabe erfüllen, so gut es ging. Wenigstens würde sie sich die umliegenden Zimmer ansehen.
Als sie um die Ecke bog, änderte sich das Licht. Lampen aus dunkelblauem Glas säumten die Wände. Nach ein paar Schritten machte der Flur erneut einen Knick. Es gab keine Türen. Zu ihrer Linken hing ein schwerer Gobelin, der eine düstere Klippenlandschaft zeigte. Eine Galeere, an deren Heck rote Lampen glommen, hielt auf die Steilklippen zu.
Hinter der nächsten Biegung war der Flur mit schweren, schwarzen Samtvorhängen verhängt. Zwischen ihnen herrschte erstickende Finsternis. Die Berührung des Stoffes war der Elfe unangenehm. Er schien sich von sich aus zu bewegen, während sie voranschritt, als sei er lebendig und begierig darauf, ihre nackte Haut zu berühren. Kobolddiener gab es hier keine mehr. Ein bedrückender Duft hatte sich im Stoff verfangen. Es roch nach Ambra und Opium.
Etwas Ledriges strich der Elfe über die Lippen. Sie machte einen Satz nach vorn und duckte sich unter dem tastenden Stoff. Ihr Atem ging schwer. Sich drehend, versuchte sie dem Samt zu entkommen. Es war unmöglich, etwas zu sehen. Blind musste sie allein auf Gehör, Tastsinn und Geruch vertrauen.
Obilee dachte daran umzukehren. Doch sie war sich nicht mehr sicher, in welcher Richtung es zurückging. Sie fühlte sich wie in einem Traum gefangen. Jede Bewegung schien auf Widerstand zu stoßen, so als schwimme sie in dickem Sirup.
Plötzlich war da Licht. Ein trübes, blaues Licht, abgeschirmt durch dickes Glas, doch es war eine Sonne inmitten der Finsternis des Samts. Der Flur hatte sich verändert. Es gab keine Ecken mehr. Die Wände gingen übergangslos in die Decke über. Und das Licht entsprang keiner Öllampe. In die Wand war eine große, ovale Linse eingelassen, die wie ein lidloses Auge starrte.
Obilee kniff die Augen zusammen. Die Duftstoffe im Samt ... Man musste ihnen Rauschmittel beigemengt haben. Was war das für ein Haus? Was bezweckte Shandral damit? Obilee hatte Gerüchte über ihn gehört. Angeblich gehörte er zu den Jüngern Alathaias, jenen Elfen, die sich den verruchten, dunklen Spielarten der Magie ergeben hatten. Magier, die keine Grenze achteten und die ihre Gier nach Wissen in die tiefsten Abgründe getrieben hatte. War dieser Flur ein Abbild dessen, was in Shandrals Kopf vor sich ging? Was bezweckte er mit diesem Schreckenskabinett? Sah so die Welt aus, in der er sich wohl fühlte?
Sollte Melvyn ihn doch holen! Ein bitterer Geschmack lag der Elfe auf der Zunge. Ihre Sinne waren manipuliert. Ständig hatte sie das Gefühl, dass sich gerade außerhalb ihres Gesichtsfelds eine Schattengestalt bewegte. Und der Boden schien unter ihren Schritten nachzugeben wie zäher Schlamm. Doch wenn sie auf ihre Füße blickte, dann sah sie lediglich einen dunklen Steinboden. Hier konnte man nicht einsinken!
Sie musste fort aus diesem Haus, das genauso krank war wie sein Besitzer. Obilee blickte zu dem sich sanft wiegenden Wall aus dunklem Samt. Der Stoff schien sie zu erwarten. Angewidert dachte sie an seine Berührung. Sie zog ihr Schwert. Doch was nutzte das hier schon ...
Die Elfe entschied, weiter dem Gang zu folgen. Vielleicht fand sie ja einen anderen Weg hinaus. Und sei es nur ein Fenster, durch das sie in die Freiheit gelangen konnte.
Vorsichtig schlich sie den Gang entlang und wendete immer wieder abrupt den Kopf, um endlich den Schatten mit ihren Blicken zu fassen zu bekommen. Doch stets entwischte ihr das Trugbild. Etwas anderes konnte es nicht sein! Eine Ausgeburt ihrer Fantasie, gezeugt aus den Rauschmitteln und der Angst, die dieser seltsame Ort atmete. Der Opiumgeruch war noch immer allgegenwärtig.
Jeder Schritt fiel Obilee schwerer. Sie lehnte sich an die Wand und rang nach Luft. Eine leise Stimme drang an ihr Ohr, sie sang ein Kinderlied. Doch die Worte waren verdreht. Sie konnte es nicht richtig verstehen. Immer wieder erklang das Lied. Monoton und ohne Gefühl. Wie eine Beschwörungsformel.
Obilee folgte dem leisen Gesang, bis sie vor einer runden Tür stand, die mit feucht schimmerndem, dunkelrotem Lack überzogen war. Eine leichte Berührung genügte, und die Tür schwang auf. Opiumduft schlug der Elfe entgegen. Feiner Rauch tanzte in der Luft. Die Bewegung der Tür ließ blaugraue Wirbel durch das Zimmer treiben.
Der Elfe zuckte erschrocken zurück. Köpfe wuchsen aus den Wänden. Und noch immer erklang die Stimme.