Nossew kratzte sich schon wieder. Langsam bekam Misht ein mulmiges Gefühl. An diesem Bartorakel war leider etwas dran. Vor vier Monden, als die Trolle ihre Bande fast gestellt hatten, hatte sich sein Gefährte auch dauernd gekratzt.
Der Kobold prüfte, ob sein Magazin auf der Armbrust richtig eingerastet war. Dann rüttelte er leicht daran, damit sich beim Durchladen keiner der Bolzen verklemmte.
Misht richtete sich leicht auf, um besser auf die Straße blicken zu können. Das Lärmen der Schmiede löschte alle anderen Geräusche der Nacht. Vor einer Stunde etwa hatten sie dort wieder zu arbeiten begonnen, kurz nachdem man Shandral gebracht hatte. Misht hätte gern gewusst, was mit dem Mistkerl los war. Der Fürst war von einem Kentauren getragen worden, und eine sehr nervöse junge Elfe war auch dabei gewesen. Die Kleine hätte sie fast auf dem Dach entdeckt.
Kaum waren sie im Haus verschwunden, da war ein Dutzend Boten in alle Richtungen gelaufen. Shandral brütete etwas aus. Um das zu ahnen, brauchte man kein Bartorakel.
Misht streichelte den Schaft seiner Waffe. Einen Armbrustbolzen zwischen die Augen, das war die Medizin, die Shandral brauchte. Melvyn hatte ihnen erzählt, was der Fürst seinem Weib angetan hatte.
Misht blickte hinüber zu der Schmiede am Wehr. Was, zum Henker, trieben die dort? Welchen Grund gab es, mitten in der Nacht wieder die Arbeit aufzunehmen?
Nossew kratzte sich schon wieder den Bart.
»Hör mal, sollten wir nicht Melvyn benachrichtigen? Hier stimmt doch was nicht. Man sollte auch mal nachsehen, was in der Schmiede vor sich geht.«
Nossew deutete zu dem Balkon, über den Melvyn in den Palast eingedrungen war. Spinnenmänner duckten sich dort hinter die Brüstung. Sie hielten ihre Armbrüste schussbereit und beobachteten die Straße und die umliegenden Häuserdächer. Jetzt entdeckte er auch einen bei dem Kamin auf dem Dach des Westflügels.
»Was brüten die für eine Schurkerei aus?« Nossew antwortete natürlich nicht. Stattdessen spuckte er seinen Harzklumpen aus und klebte ihn auf eine Schindel am Dachfirst. Dann steckte er sein Fähnchen auf.
»Manchmal wäre es schon eine Hilfe, wenn du die Zähne auseinander bekämst!« Sein Kamerad deutete die Straße hinauf. Ein ganzer Zug Wagen kam von dort. Man hatte die Räder mit Lumpen umwickelt, damit die Eisenbeschläge auf dem Pflaster weniger Lärm verursachten. Doch bei dem Getöse der Schmiede wäre das nicht notwendig gewesen. Lautlos glitten die Kutschen heran. Es waren große Wagen.
Das Portal des Palastes öffnete sich. Kobolde mit Fackeln und weitere Spinnenmänner mit Armbrüsten eilten auf die Straße. Jetzt erschien auch Shandral auf der Schwelle. Er stützte sich schwer auf einen schwarzen Stab und beaufsichtigte, wie Kisten zu den Kutschen getragen wurden. Auch einzelne Möbelstücke und Bilder wurden aus dem großen Haus geschafft.
Nossew räusperte sich.
»Was?« Misht sah zu seinem Gefährten. Dieser kratzte sich aufreizend zwischen den Beinen. »Was ist los? Verdammt, kannst du nicht mal sagen, was du hast? Musst du pinkeln?«
Sein Kamerad grinste.
»Nein. Doch nicht jetzt. Verdammt, klemm dir dein Ding zwischen die Schenkel und beiß die Zähne zusammen. Du kannst doch jetzt nicht ...«
Nossew kletterte vom Dach.
»Das tust du nicht!«
Sein Kamerad verschwand im Dunkel. Leise vor sich hin fluchend, widmete sich Misht wieder dem Treiben bei Shandrals Stadtpalast. Die ersten Kutschen fuhren ab. Zuletzt waren noch etliche Kobolddienerinnen auf die Kisten auf der Pritsche geklettert. Der Drecksack kniff also den Schwanz ein, dachte Misht. Schade, er hätte gerne miterlebt, wie Melvyn diesem Schinder das Licht ausgeblasen hätte.
Eine Elfe mit langem, schwarzem Haar wurde aus dem Haus gebracht. Sie schien zu schlafen. Man hatte sie mit breiten Lederriemen auf eine Trage gefesselt. Sie wurde in einen geschlossenen Wagen gebracht. Ob das wohl das Weibsbild war, dem Melvyn nachgestiegen war?
Misht blickte über die Schulter. Sein Kamerad blieb verdammt lange weg.
Weitere Kutschen fuhren ab. Jetzt verließen auch die Spinnenmänner die Dächer. Misht sah sich nervös um. Er sollte mitbekommen, wohin Shandral verschwand. Er hatte einen Verdacht
... Nur noch fünf Kutschen warteten. Immer mehr Spinnenmänner kamen aus dem Haus. Es blieb keine Zeit mehr, noch länger zu warten.
Vorsichtig erhob sich der Kobold und schlich geduckt am Dachfirst entlang. Wenn Nossew ihm nur den Rücken frei gehalten hätte!
Die letzten Spinnenmänner glitten die Hauswand hinab. Jetzt fuhren auch die verbliebenen Kutschen an. Shandral stieg in den Verschlag des letzten Wagens.
Misht sprang auf ein tiefer gelegenes Dach. Eine Schindel löste sich unter seinen Füßen und rutschte davon. Doch der Lärm der Schmiedehämmer überdeckte jedes Geräusch.
Einer der Spinnenmänner war spät dran und rannte der letzten Kutsche hinterher. Mit Mühe erwischte er noch einen Griff und sprang auf eines der Trittbretter. Sein dunkelgrauer Umhang wehte im Fahrtwind. Der Kerl hielt sich nur mit einer Hand fest. Mit der anderen kratzte er sich den Bart, als ginge es dabei um sein Lebenslicht.
Misht hielt den Atem an. Nossew! Was machte der verdammte Idiot denn auf der Kutsche! Er musste doch auch ahnen, wohin die Fahrt ging.
Lumpengebinde löste sich von den Hinterrädern, als der überladene Wagen in eine enge Kurve ging.
Misht sprang wieder auf ein tiefer gelegenes Dach. Jetzt rannte er, ohne auf seine Deckung zu achten. Die Kolonne überquerte eine gedeckte Holzbrücke. Wie fernes Donnergrollen klang der Hufschlag der Pferde auf den Bohlen.
Am anderen Ufer des Kanals stieß eine Abteilung von Armbrustschützen zu den Flüchtlingen. Die Waffen geschultert, die Umhänge aufgerollt und um die Brust gebunden, marschierten sie im Gleichschritt. Shandral nahm seine sämtlichen Truppen mit.
»Komm, Nossew, spring ab! Das war jetzt genug. Die merken, wer du bist!«
Die Kutsche des Fürsten wurde langsamer, weil sich die Wagen stauten.
Misht sprintete über das moosglatte Schindeldach der gedeckten Brücke und holte wieder auf. Über die Wagen hinweg konnte er den Platz des Silberlichts sehen.
Der Kutscher des Fürsten schimpfte wie ein Kesselflicker und drosch mit seiner langen Gerte auf die anderen Wagenlenker ein. Schwerfällig bewegten sich die überladenen Gefährte, und es entstand eine Gasse, weit genug, die Kutsche des Fürsten durchzulassen.
Ganz deutlich sah Misht seinen Kameraden, der immer noch auf dem Trittbrett stand. Was wollte Nossew beweisen? Es war unmöglich, inmitten von Shandrals Gefolge unentdeckt zu bleiben.
Die Kutsche fuhr zur Mitte des Platzes. Aus bunten Steinen war ein riesiger Stern in das Kopfsteinpflaster eingelassen. Städte, so groß wie Feylanviek, entstanden an den Kreuzungen bedeutender Handelswege. Der Ort war hier im trocken gelegten Sumpfland angesiedelt, weil der Mika bis zu dieser Stelle selbst bei Niedrigwasser schiffbar war. Er lag hier, weil ganz in der Nähe die Honigstraße durch die Steppe führte, der uralte Handelsweg von Nord nach Süd. Und er lag hier, weil dies einer der wenigen Plätze in der Steppe war, wo sich ein großer Albenstern befand. Ein wenig außerhalb gab es sogar noch einen zweiten, an dem sich sechs der goldenen Pfade kreuzten. Wer das nördliche Windland bereiste, der kam fast unweigerlich nach Feylanviek, ganz gleich, ob er auf einer Staubpiste unterwegs war, zu Wasser reiste oder sich den goldenen Pfaden durch das Nichts anvertraute. Und wer es eilig hatte, die Stadt wieder zu verlassen, der kam zum Sternplatz.