»Melvyn. Tu das nicht! Wir brauchen dich stark und gesund, hörst du. Ich werde noch heute eine Botschaft an Emerelle schicken. Sie wird Shandral seine Herrschaft nehmen. Wir werden ihn finden. Glaub mir, Melvyn! Nach der Schlacht ...« Er stockte. Er durfte sich nicht noch tiefer in Lügen und Intrigen verstricken. Für ihn gab es kein nach der Schlacht mehr. Er hatte kein Recht, Melvyn irgendetwas zu versprechen. »Ich werde dir helfen, so lange ich mein Schwert führen kann«, sagte er mit flauem Gefühl.
Der Elf blickte auf. Er hatte die Augen seiner Mutter. Wolfsaugen! »Wir werden Shandral gemeinsam jagen?«
»So lange mich meine Beine tragen, das schwöre ich dir.« Ollowain fühlte sich erbärmlich.
Melvyn sah zu ihm auf, und all seine Seelenqual lag in seinem Blick. »Ich hätte niemals zu ihr gehen dürfen. Ich ... Ich wünschte, ich wäre ein Mann wie du. Der Ritter der Königin, der ehrenhafteste Krieger Albenmarks. Ich will dein Schüler sein, Ollowain. Lehre mich zu sein wie du.«
Jedes der Worte traf den Schwertmeister wie ein Dolchstoß. Einen Augenblick war er unfähig zu antworten. Endlich brachte er ein trockenes Ja hervor.
Melvyn schob die Krallen zurück. »Ich vertraue dir. Ich ... Es ist ... Ich fühle mich so schuldig. Weißt du, anfangs ...« Er senkte den Blick. »Es war ein Spiel, um das endlose Warten abzukürzen. Ich weiß, was man sich über mich erzählt ... Aber ich liebe sie wirklich. Ich kann es nicht ertragen, daran zu denken, was Shandral ihr angetan hat. Es ist ein Gefühl, als reiße man mir mit glühenden Zangen das Fleisch vom Leib. Ich ... Bitte hilf mir! Ich kämpfe für dich. Ich werde jeden deiner Befehle befolgen. Aber hilf mir, sie von Shandral fortzuholen.«
Ollowain konnte darauf nicht antworten. »Sorge dafür, dass deine Männer bereit sind. Die ersten Späher sollen schon heute Mittag aufbrechen.«
Melvyn wartete einige Herzschläge, ob er noch mehr sagen würde. Als nichts kam, nickte er enttäuscht und wandte sich zum Gehen.
»Schick uns zwei Krieger mit einer Trage, damit wir Obilee in mein Quartier bringen können«, rief Nardinel ihm hinterher.
Sie hörten seine schweren Schritte auf den Holzdielen. Dann war er fort, ohne ihr geantwortet zu haben. »Ich hole die Träger.«
Die Heilerin hielt Ollowain zurück. Sie sah ihn durchdringend an. Ahnte sie etwas? »Er wird uns helfen«, sagte sie ruhig.
»Aber du wirst Leylin für ihn nicht retten können.«
Der Schwertmeister räusperte sich. »So«, war alles, was er hervorbrachte.
»Diese Helme«, fuhr Nardinel flüsternd fort. »Ich kenne sie. Die Wachen Alathaias tragen solche Tiermaskenhelme. Shandral lässt in seinen Schmieden die Rüstungen und Waffen für die Streiter seiner Meisterin fertigen. Aber dieses Zimmer war mehr als nur eine Kammer, in der man die Meisterwerke seiner schwarzen Schmiedekunst ausstellte. Hast du es gerochen?«
Ollowain nickte knapp. Hatte sie sein falsches Versprechen vielleicht doch nicht durchschaut? Wie sollte sie ahnen, dass er den Tod suchte! »Der Geruch ... Ja. Opium, nicht wahr? Shandral hat es ihr wohl gegeben, um ihre Schmerzen zu lindern.«
Nardinel sah ihn traurig an. »Glaubst du, ein Mann, der seinem Weib mit Schmiedehämmern die Knie zerschmettern lässt, würde ihr danach Opium geben, damit sie die Schmerzen besser ertragen kann?«
Ollowain breitete hilflos die Hände aus. »Shandral ist verrückt. Meinem Verstand verschließt sich, was in seinem Kopf vorgeht. Vielleicht hat er seine Untat bereut? Vielleicht liebt er Leylin immer noch?«
Nardinel sah unschlüssig zur Tür hinüber. Dann bückte sie sich zu Obilee und überprüfte den Verband an ihrem Kopf.
»Sag Melvyn nicht, was ich dir jetzt anvertraue. Er würde das nicht verkraften. Aber du solltest es wissen, bevor ihr beide eine Suche beginnt, die nur in Blutvergießen und Wahnsinn münden kann. Ich fürchte, Shandral genügt es nicht, Leylins Leib zu zerstören. Wenn sie stirbt, geht sie entweder ins Mondlicht, oder aber sie wird wiedergeboren. Mit dem Leben streift sie alles ab, was man ihrem Körper angetan hat. Deshalb will Shandral ihre Seele verletzen. Er will ihr etwas antun, das sie in alle weiteren Leben verfolgt, die ihr vielleicht noch bestimmt sind. In der Kammer roch es nicht nur nach Opium. Man hat dem Opium auch weißen Weihrauch beigemischt. Richtig dosiert verursacht er starke Halluzinationen. Stell dir vor, wie Leylin hilflos im Bett liegt, schwer verletzt und außer Stande, ihr Zimmer zu verlassen. Ihre Sinne sind vom Räucherwerk benebelt. Und überall an den Wänden hängen diese Masken. Sie wird keine Helme gesehen haben. Für sie waren diese Fratzen lebendig. Vielleicht hat sie sie sogar flüstern hören. Er will Leylin in einem Ausmaß zerstören, das du dir nicht einmal vorstellen könntest, Ollowain. Es wäre besser gewesen, sein Pferd hätte ihn zu Tode gequetscht.«
Der Schwertmeister wollte das nicht hören. Was konnte er noch tun? Er würde die Gräfin Caileen zu sich befehlen. Vielleicht konnte er sie dazu bringen, Melvyn bei seiner Suche zu helfen. Sie musste ihren Fürsten doch kennen. Der Adel hatte sich von Shandral abgewandt. Sie wäre gewiss eine gute Verbündete.
»Ich sehe jetzt selbst nach Trägern für eine Bahre«, sagte Nardinel, als er zu lange geschwiegen hatte.
Ollowain betrachtete die junge Elfe. Sie lag reglos da. Ihr Haar war von Blut verklebt. Wenigstens war sie dem Abgrund entronnen, der sich hier aufgetan hatte. Wenn auch nur knapp.
Obilees Augenlider flatterten. Sie sah ihn an. Erkannte ihn. Ihre Pupillen waren winzige Punkte. Die Lippen der Elfe bewegten sich. Ollowain beugte sich vor, dennoch konnte er ihre Worte kaum verstehen. »Ich habe sie gesehen ... Ihre Beine ...«
»Shandral wird dafür zur Verantwortung gezogen, was er getan hat. Ich weiß, was du ...« Obilee sah ihn mit schreckensweiten Augen an. Sie bot all ihre Kraft auf, um ihm etwas mitzuteilen. »Die Beine ...«, sagte sie noch einmal. Dann wurde sie wieder ohnmächtig.
Willkür
Emerelle saß allein in ihrem Thronsaal und betrachtete in Gedanken versunken die silbern funkelnden Wasserkaskaden, die in niemals versiegendem Strom die Wände hinabrannen. Seit er gegangen war, dachte sie nur noch an ihn. Sie zürnte ihm noch immer. Aber sie versuchte auch, ihn zu begreifen. Warum hatte er das getan? Wusste er nicht, wie bedeutend er für Albenmark war? Er war unersetzlich! Und das nicht nur für Albenmark ...
Ollowain kannte die Gesetze der Bibliothek. Er hätte das Buch nicht stehlen dürfen. Er wusste, welche Konsequenzen er dafür zu tragen hatte. Auch wenn der Schwertmeister das Gegenteil behauptete, war sie sich ganz sicher, dass es die Lutin gewesen war, die das verbotene Buch an sich genommen hatte. Aber gefangen in seine Ideale von Ritterlichkeit, musste er sich schützend vor Ganda stellen. Dabei war sie doch nur eine unbedeutende Lutin. Die Welt würde ihren Verlust verkraften ... Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr setzte sich in Emerelle die Überzeugung fest, dass Ollowain sie zu eben diesen Gedanken hatte führen wollen. Vielleicht nicht als bewusste Entscheidung Es war die Art, wie er die Welt sah, die in diesem unlösbaren Konflikt gipfeln musste. Wie viel waren Emerelles hehre Ansprüche an eine gerechte Herrschaft wert, wenn es letztlich doch keine Sicherheit für den Einzelnen gab? Gut, Ganda hatte wirklich gegen Gesetze verstoßen. Sie wäre zu Recht verurteilt worden. Aber Emerelle war auch bewusst geworden, dass sie bereit gewesen wäre, Ganda zu opfern, selbst wenn sie nicht die Diebin gewesen wäre. So war ihre Herrschaft. Gut erinnerte sie sich, wie sie Obilee vor Jahren erklärt hatte, dass sie als gute Herrscherin einer größtmöglichen Menge von Untertanen das größtmögliche Glück schenken wolle. Das bedeutete in letzter Konsequenz die Aufhebung aller Gesetze, an die sie sich so gern klammerte. Niemand konnte sich in einer Welt sicher fühlen, in der die Herrscher dieser Maxime folgten. Es war egal, ob Ganda schuldig war oder nicht. Wenn sie die Lutin an die Hüter des Wissens auslieferte, wäre deren Ruf nach einem Blutgericht Genüge getan. Und die Welt brauchte Ollowain mehr als die Lutin. Er war der einzige Feldherr, der die Trolle vielleicht aufhalten konnte. Siegten sie, dann bedeutete das tausende Tote, brennende Städte und endloses Leid. Trotz der Warnung in Melianders Buch hatte sie die Zukunft weiterhin in der Silberschale betrachtet. Sie hatte die endlosen Flüchtlingsströme in der Steppe und auf den Pässen der Mondberge gesehen. Das brennende Feylanviek und all die Toten. War Gerechtigkeit diesen Preis wert? Wog das Leben der Lutin so schwer wie all das? Sie kannte die Antwort. Es ging nicht nur um die Lutin. Das hatte Ollowains Verhalten ihr klar gemacht. Niemand in Albenmark konnte sich mehr sicher fühlen, wenn sie über die festgeschriebenen Gesetze noch eine ungreifbare, höhere Gerechtigkeit setzte. Ganda war der Anfang. Doch jeder konnte jederzeit wie sie zum Opfer werden, wenn die abstrakte höhere Gerechtigkeit das erforderte. Jede gerechte Herrschaft wäre damit ad absurdum geführt.