Emerelle hatte nur schwer der Versuchung widerstanden, Ganda mit Hilfe der Silberschale zu suchen. Wenn es stimmte, was Meliander auf den letzten Seiten seines Buches geschrieben hatte, dann hätte die Silberschale sie gewiss zu der Lutin geführt. Und die Schale hätte Bilder gezeigt, die es Emerelle leichter gemacht hätten, die Koboldfrau zu verurteilen.
Die Königin hatte sich Ollowains Willen gefügt, die Lutin aus dieser Sache herauszulassen. Er und seine verfluchte Ritterlichkeit ...
Er hatte sich auch schützend vor sie gestellt. Seine klare Art hatte sie immer fasziniert. Sein Festhalten an den Grundsätzen der Gerechtigkeit. All das waren Eigenschaften, die ihn zu dem Mann machten, der seit Jahrhunderten ihr Herz gefangen hielt, obwohl er sie in seinen Reinkarnationen nie als seine frühere Liebe wiedererkannt hatte. Und nun schickte sie ihn auf den Richtblock! Sie, die ...
Das hohe Tor des Thronsaals schwang auf. Meister Alvias trat ein. Distinguiert wartete er am Tor darauf, dass sie ihn anblickte und zu sprechen aufforderte.
»Nun?«
»Reilif, Hüter des Wissens in der Bibliothek von Iskendria, ist eingetroffen und wünscht eine Audienz, Herrin. Soll ich ihn hereinbringen?«
Die Königin nickte. Sie hatte eine verzweifelte letzte List ersonnen, um Ollowain zu retten. Es war ein Spiel mit den Gesetzen. Aber was sie tat, tat sie in bester Absicht. Und sie würde sich dabei an das niedergeschriebene Recht halten.
Wenig später geleitete Alvias eine Gestalt in langer schwarzer Kutte in den Thronsaal. Das Gesicht des Hüters des Wissens blieb im Schatten seiner Kapuze verborgen. Er blieb respektvolle zehn Schritt vor dem Thron stehen. Der Hofmeister blieb an seiner Seite. »Ihr wisst, weshalb ich komme, Herrin?«
»Ja. Mich verwundert allerdings, dass du so spät kommst.«
»Ich bin den Dieben sofort gefolgt, Herrin.«
Emerelle stutzte. Reilif hatte fünfzehn Jahre gebraucht. War ihm das nicht klar? Sie entschied, dieses Wissen zunächst für sich zu behalten. »Du kommst wegen des Buches Die Wege der Alben, das mein Bruder Meliander verfasst hat.«
»So ist es, Herrin. Ich fordere Gerechtigkeit. Den beiden Dieben war klar, welche Gesetze in der Bibliothek gelten und welche Strafe sie erwartet, wenn sie unsere Schriften stehlen. Iskendria steht jedem offen, und in aller Regel erlauben wir unseren Besuchern, Abschriften von jedem Text zu fertigen, den sie zu sehen wünschen. Doch gegen den Diebstahl von Büchern gehen wir mit aller Härte vor.«
»Verwehrt ihr euch mit derselben Vehemenz dagegen, Diebesgut in euren Bücherschatz aufzunehmen? Oder gilt diesbezüglich zweierlei Maß in Iskendria?«
Reilif hob ruckartig den Kopf. Jetzt konnte Emerelle sein Kinn und seinen schmalen, verkniffenen Mund sehen. Die obere Gesichtshälfte blieb weiterhin im Schatten der Kapuze verborgen. »Solltest du einen Vorwurf gegen die Hüter des Wissens erheben wollen, möchte ich dich bitten, ein wenig konkreter zu werden, Herrin.«
Emerelle wusste, seit sie das Buch ihres Bruders gelesen hatte, dass sie dem Kobold Cabak, seinem treuen Diener, Unrecht getan hatte. Sie hatte ihm nicht geglaubt, als er seine Unschuld beteuert hatte. Sie erinnerte sich auch, dass sie damals zornig darüber gewesen war, dass ein Dieb, den sie mit einem Teil seiner Beute gestellt hatte, es immer noch gewagt hatte, so vehement auf seiner Unschuld zu bestehen. Jetzt würde sie Cabak, der seit vielen Jahrhunderten tot war, ein zweites Mal Unrecht tun. Doch es geschah, um den Lebenden zu dienen. »Die Wege der Alben wurde von meinem Bruder Meliander verfasst. Nach seinem Tod hat man das Buch gestohlen. Dieses Buch hätte niemals nach Iskendria gelangen dürfen. Oder ist der Wissensdurst der Bibliothekare nun so groß, dass man sich zum Hehler von Diebesgut macht?«
Reilif räusperte sich und zog eine Schriftrolle aus dem weiten Ärmel seiner Kutte. »Ich bin erschüttert, einen solchen Vorwurf aus deinem Munde zu hören, Herrin. Und deine Worte treffen mich umso mehr, da ich den Verdacht hege, dass du das Ansehen der Bibliothek beschmutzt, um einen wirklichen Dieb vor seiner gerechten Strafe zu bewahren. Würdest du deiner Herrin bitte dieses Schriftstück bringen, Alvias. Es dokumentiert unseren rechtmäßigen Anspruch auf das Buch Die Wege der Alben.«
Der Hofmeister brachte ihr wortlos die Schriftrolle. Emerelle öffnete das Dokument. Schon der erste Blick verriet ihr, dass es tatsächlich in der Handschrift ihres Bruders verfasst war. Er erklärte, dass Die Wege der Alben ein Geschenk an die Bibliothek von Iskendria sei.
Die Königin atmete schwer aus. Meliander musste das kommen gesehen haben. Wie konnte er nur diese Urkunde verfassen, wenn er den Bildern der Silberschale nicht mehr traute? Um Fassung bemüht, rollte Emerelle das Pergament zusammen und reichte es Alvias, der wartend neben ihrem Thron stand.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen, Reilif. Die späteren Untaten des Lutin Cabak haben meinen Blick für die Wahrheit verstellt.«
»Ich hoffe, dass nicht auch dein Blick für Gerechtigkeit verstellt ist.«
»Hüte deine Zunge!«, sagte Alvias scharf. »Niemand beleidigt ungestraft unsere Herrin!«
»Lass es gut sein, mein Freund.« Emerelle war überrascht, dass Reilif sich zu einer solchen Frechheit hatte hinreißen lassen. Er erinnerte sie in diesem Augenblick an eine der Allegorien auf den Tod, die man zuweilen als Illustration in alten Handschriften fand. Eine hagere, gesichtslose Gestalt in schwarzer Kutte, die reglos hinter den Lebenden lauerte und wartete.
»Ich habe ein schriftliches Geständnis des Schwertmeisters Ollowain. Er hat das Buch aus Iskendria entwendet, weil er der Meinung war, dass es dort nicht in Sicherheit sei. Er berichtete mir von einigen Morden, die wohl begangen wurden, um jemanden zu finden, der das Buch zu öffnen vermag.«
»Seine Beweggründe interessieren mich nicht«, entgegnete Reilif kühl. »Auch sein Status ist nicht von Belang. Ich fordere seine Auslieferung oder aber, dass hier in Albenmark das Urteil vollstreckt wird, das über ihn verhängt wurde.«
»Ihr habt schon ein Urteil.« Emerelle war ebenso überrascht wie schockiert. »Wie konntet ihr wissen, ob er es war? Und wie konntet ihr ein Gericht einberufen, ohne ihm Gelegenheit zu geben, zu euren Anschuldigungen Stellung zu beziehen?«
»Wenn er einen Brief hinterlassen hat, in dem er sich selbst als den Dieb des Buches Die Wege der Alben bezichtigt, dann haben wir uns wohl nicht geirrt. Und was das Urteil angeht, haben wir in das Dokument noch keinen Namen eingetragen. Das werde ich nun nachholen, wenn du mir Tinte und Feder bringen lässt.« Reilif holte eine zweite Schriftrolle hervor, diesmal aus dem anderen Ärmel seiner Kutte. »In Anbetracht seines Ranges hat Ollowain wohl ein Recht darauf, durch Schwert oder Beil gerichtet zu werden. Würdest du mir den Dieb bitte vorführen lassen, Herrin, damit ich ihm das Urteil der Hüter des Wissens verkünden kann?«
»Ich fürchte, das ist im Augenblick nicht möglich. Der Schwertmeister befindet sich in Feylanviek. Er versammelt dort die Heere Albenmarks für eine Schlacht gegen die Trolle.«
»Dann musst du Krieger schicken und ihn festnehmen lassen, Herrin.«