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Emerelle faltete die Hände und legte sie in ihren Schoß. Sie dachte an den Bericht, den Elodrin ihr über die Vorfälle während des Festes der Kentauren geschickt hatte. »Ich fürchte, du verkennst die Lage, Reilif. Nicht einmal ich hätte die Macht, ihn inmitten seiner Truppen festnehmen zu lassen. Diese Krieger sind bereit, sich für Ollowain in Stücke hacken zu lassen. Ihren Feldherrn aus ihrer Mitte zu holen, ist unmöglich.«

»Bist du sicher, dass du noch die Herrin Albenmarks bist, Emerelle?«, fragte der Hüter des Wissens scharf.

»Ist es klug, das herausfinden zu wollen, indem du mich beleidigst?« Emerelle erhob sich und klatschte in die Hände. Das Tor zum Thronsaal schwang auf, und Wachen erschienen auf der Schwelle. »Der Hüter des Wissens möchte zu seiner Kammer begleitet werden.«

Reilif hob drohend die zweite Schriftrolle. »Es gibt einen Vertrag zwischen dir und Iskendria. Darin hast du dich verpflichtet, unser Recht anzuerkennen, und uns Beistand versprochen, wenn wir Flüchtigen nachsetzen. Ich fordere die uns verbriefte Unterstützung ein, Herrin! Oder gelten Gesetze und Verträge in Albenmark nicht mehr?«

»Ich erkenne das Urteil der Hüter des Wissens an. Und ich werde Ollowain verhaften lassen, sobald er ins Herzland zurückkehrt. Als Königin bin ich dem Recht verpflichtet, selbst wenn meine Gäste sich nicht dem Gesetz der Höflichkeit verpflichtet fühlen. Ist deinen Forderungen damit Genüge getan, Reilif?«

Der Hüter des Wissens verbeugte sich steif. »Mit deiner Erlaubnis werde ich verweilen, bis man Ollowain an mich ausliefert, Herrin.«

»Zu den Gesetzen der Gastfreundschaft gehören neben Rechten auch Pflichten, Reilif. Ich ermahne dich, dich an deine Pflichten zu erinnern, sonst erlöschen auch deine Rechte. Du hast mein Wort als Königin, dass Ollowain an dich überstellt wird, sobald er das Herzland betritt. Und er soll in dieser Halle vor seinen Henker geführt werden. Ich akzeptiere das Todesurteil über den Schwertmeister als gültig, auch wenn ich die Art, in der euer Tribunal Urteile in Abwesenheit der Angeklagten fällt, als äußerst fragwürdig empfinde. Ich werde meine Schreiber und Rechtsgelehrten beauftragen, die Verträge mit Iskendria zu überprüfen und nach Möglichkeiten zu suchen, sie für die Zukunft aufzukündigen. In deinen Forderungen und deinem Auftreten kann ich nicht mehr den Geist jenes Iskendria entdecken, mit dem Albenmark sich einst verbunden fühlte. Du darfst nun gehen, Reilif.«

Der Hüter des Wissens blieb ungerührt stehen. »Ich fordere das Buch zurück, das uns gestohlen wurde.«

Emerelle spürte die Wärme des Albensteins auf ihrer Brust. Das Rauschen des fallenden Wassers war lauter geworden. Feine Gischt sprühte in den Thronsaal. »Du wirst das Buch zusammen mit dem Kopf des Schwertmeisters erhalten. Und nun erlaube ich dir, dich zurückzuziehen.«

Der Hüter des Wissens verbeugte sich erneut. Vor der hohen Tür verharrte er. Ohne sich umzudrehen, sprach er. »Wenn ich den Thron besteige, dann bin ich in Fesseln aus Papier geschlagen. Es sind die Fesseln der Gesetze Albenmarks, und mögen sie euch auch schwach erscheinen, so binden sie mich fester als jeder Stahl, denn würde ich sie nicht achten, hieße meine Herrschaft Willkür, und ich wäre es nicht wert, weiterhin das Szepter Albenmarks zu führen. Erinnerst du dich an diese Worte, Emerelle? Du hast sie an jenem Tag gesprochen, als du zum ersten Mal auf den Thron gewählt wurdest. Sie stehen niedergeschrieben in den Geschichtsbüchern Iskendrias. Gelten sie noch für dich? Oder haben Jahrhunderte der Herrschaft das Papier deiner Fesseln zu Staub zerfallen lassen?«

Emerelle gab sich nicht die Blöße, darauf zu antworten. Die Wachen führten Reilif ab, der keinen weiteren Widerstand leistete. Seine Worte hatten sie zutiefst getroffen. Hatte er Recht? War ihre Herrschaft Willkür geworden? Oder waren es die Jahrhunderte, die den Geist der Gesetze unter Bergen von Papier erstickt hatten? Wie hatte es geschehen können, dass Recht und Gerechtigkeit nicht mehr übereingingen?

Emerelle trat an das Stehpult, das hinter der hohen Lehne ihres Throns verborgen stand. Eilig brachte sie ein paar Zeilen zu Papier, die ihr das Herz diktierte, auch wenn sie sich bemühte, dass die Worte nicht allzu verräterisch waren. Sorgsam faltete sie die Botschaft und siegelte sie. Dann trat sie zu Alvias. »Diese Nachricht muss Ollowain erreichen!«

»Das Heer marschiert bereits, Herrin. Es wird schwer sein, zu ihnen durchzukommen. Wenn du gestattest, werde ich höchstpersönlich dein Bote sein.«

Emerelle nickte. »Ich danke dir. Noch ein zweiter Bote muss in dieser Stunde aufbrechen. Er soll Alathaia aufsuchen und der Fürstin von Langollion ausrichten, dass es mir eine Freude wäre, sie als meinen Gast begrüßen zu dürfen.«

»Alathaia«, sagte Alvias. Den deutlich gesprochenen Namen noch einmal zu wiederholen, war die einzige versteckte Kritik, die er sich erlaubte. Nichts an seiner Miene, dem Tonfall seiner Stimme oder seiner Körperhaltung verriet seine Gedanken.

»Ja, Alathaia«, wiederholte Emerelle. Sie wusste, was es hieß, die Herrscherin über Langollion um Hilfe zu bieten, doch ihr blieb keine andere Wahl mehr.

»Dein Wunsch ist mir Befehl, Herrin.« Alvias verneigte sich und verließ mit eiligen Schritten den Saal.

Das Wasser tröpfelte nur noch in dünnen Rinnsalen von den Wänden. Fröstelnd rieb sich Emerelle die Arme. Sie hatte die papiernen Fesseln abgestreift. In dieser Nacht hatte die Willkür Einzug gefunden in den Thronsaal.

Der Vormarsch auf den Mordstein

»... Auch mit dem Abstand von Jahrhunderten muss der schnelle Schlag, den der Schwertmeister Ollowain im dritten Trollkrieg gegen das Heerlager am Mordstein führte, als beispielhaft gelten. Weniger als drei Tage lagen zwischen dem Beginn der Planung und dem Aufbruch der Truppen, die den Überfall durchführen sollten. Der Verband bestand aus circa 8000

Kentauren, 1754 Mann schwerer elfischer Reiterei, 382 Streitwagen aus Arkadien sowie 281 Kutschen, auf denen Ausrüstung und circa 1200 Koboldarmbrustschützen und etliche Torsionsspeerschleudern transportiert wurden. Des Weiteren waren 412

Minotauren sowie 587 berittene elfische Bogenschützen, bei denen es sich mehrheitlich um Normirga handelte, an der Operation beteiligt, sowie eine Spähertruppe, zu der neben mehreren Schwarzrückenadlern sogar ein Lamassu gehörte. Trotz der beachtlichen Größe dieser Streitmacht war das Heer der Trolle den Verbündeten immer noch um etwa das Fünffache überlegen.

Um einen überraschenden Schlag zu führen, marschierten die Verbündeten bei Nacht. Ein Schirm von Spähern deckte die meilenlange Marschkolonne. Falkner ließen ihre Greifvögel aufsteigen, um Raben und andere Vögel, die Trollen als Kundschafter dienen mochten, vom Himmel zu vertreiben. Die Schwarzrückenadler konnten unter Führung des Maurawan Melvyn alle Späher der Trolle stellen, die sich dem Heerzug näherten. Der Augen ihres Heeres beraubt, wären der junge Trollkönig Gilmarak und seine Beraterin Skanga wohl dem Untergang geweiht gewesen, hätte es nicht einen Verräter unter den Verbündeten gegeben. So aber kannten die Trolle nicht nur Tag und Stunde des Angriffs, sie wussten sogar um die genaue Zusammensetzung der Truppen Albenmarks. Und sie waren bereit, als das Heer der Verbündeten am dritten Morgen, nachdem es Feylanviek verlassen hatte, aus dem trockenen Flussbett des Myra hinaus auf die Ebene südlich des Mordsteins marschierte. Sie hatten einen Plan ersonnen, wie das ganze Heer Albenmarks zu vernichten war....«

Vom Krieg mit den Trollen,
von: Caileen, Gräfin zu Dorien,
Talsiner Goldschnittausgabe, s. 603

Von der Logik des Krieges

Ollowain war auf einen flachen Hügel geritten, der sich dicht neben dem ausgetrockneten Flussbett erhob. Er blickte nach Osten. Bald würde sich der erste Silberstreif am Himmel zeigen. Es war der Augenblick des Zwielichts, in dem das Ringen zwischen der Nacht und dem neuen Tag noch nicht entschieden war. Die Dunkelheit wich zurück, doch noch zeigte sich die Sonne nicht. Die Wagen und Reitertruppen hatten die Schwalben aufgeschreckt, deren Bruthöhlen in dem gegenüberliegenden Steilufer verborgen waren. Wie schwarze Sicheln zogen sie über die Reiter hinweg.