Graf Fenryl lenkte sein Pferd den Hügel hinauf. Sein Gesicht war aschfahl. Wie die meisten Hauptleute hatte er nur wenig geschlafen. Der Marsch nach Norden war besser geglückt, als Ollowain zu hoffen gewagt hatte. Sie hatten das Ende des Flusstals Stunden früher erreicht, als geplant war. So war den Truppen Zeit für eine letzte Rast geblieben, auch wenn wohl kaum jemand geschlafen hatte.
»Schwertmeister?« Der Graf trug seinen Falken auf der linken Faust. Das Tier blickte Ollowain eindringlich an. Es hatte wunderschöne, bernsteinfarbene Augen.
»Schwertmeister, ich bin mit Schneeschwinge geflogen. Ihr Heerlager ... Es ist nicht, wie wir erwartet haben. Sie haben es verlegt.«
Ollowain hob eine Braue. Seit dem Aufbruch aus Feylanviek hatte er allen Spähern verboten, das Heerlager der Feinde zu überfliegen. Nichts sollte den Argwohn der Trolle wecken.
»Haben sie sich etwa zurückgezogen?«
»Nein, im Gegenteil. Sie sind nur knapp drei Meilen von uns entfernt. Das Lager bildet einen weiten Halbkreis, dessen Hörner auf die Flussmündung weisen. Man könnte meinen, sie erwarten uns.«
Ollowain stutzte, aber er war nicht ganz so überrascht, wie Fenryl vielleicht erwartet hätte. Schon an Emerelles Hof hatte es Gerüchte gegeben, Geschichten über eine verdeckte Revolte. Jemand unterstützte die Trolle. Er hatte das bei seinen Planungen berücksichtigt. Sie würden es schwerer haben, aber ein Sieg war noch möglich. »Wir werden trotzdem angreifen«, sagte er ruhig.
»Schwertmeister, sie bereiten sich auf uns vor. Wir haben sie nicht überrascht. Wir werden nicht in ihre Lager preschen, wie wir es geplant hatten. Sie werden uns in geordneten Schlachtreihen erwarten. Du kennst sie! Erinnere dich an Phylangan.«
»Vertraue mir, mein Freund. Ich erinnere mich an Phylangan. Und ich gebe eine Schlacht nicht verloren, die noch nicht einmal begonnen hat.« Ollowain spürte den Sanhalla in seinem Haar. Den Südwind, der von den Hängen der Berge blies. Er war ihr wichtigster Verbündeter. Und er hatte sich nicht gegen sie gewandt.
»Bei allem Respekt, Feldherr, aber was du planst, ist kein Kampf, sondern ein Glücksspiel. Wenn die Trolle Schild an Schild stehen, dann sind sie wie eine hölzerne Mauer. Selbst die besten Reiter Albenmarks können nichts gegen sie ausrichten. Die Pferde werden scheuen und seitlich vor diesem Hindernis ausbrechen. Wenn die Trolle kaltherzig sind und stehen bleiben, obwohl ein Sturm aus Stahl ihnen entgegenprescht, dann haben wir verloren. Verlieren sie bei diesem Anblick den Mut, und ihre Schlachtreihe zerbricht, dann gibt es keinen Kampf, sondern ein Massaker. Wir beide wissen, dass den Trollen als Krieger mancher Makel anhaftet. Sie sind grausam und undiszipliniert. Nur eines sind sie gewiss nicht: Feiglinge! Sie müssen nur stehen bleiben, um zu siegen. Hoffen wir, dass sie das nicht wissen.«
»Ich verspreche dir, sie werden nicht stehen bleiben.« Fenryl setzte zu einer Antwort an, schüttelte dann aber doch nur den Kopf. »Du bist der Feldherr, Ollowain.«
»Fenryl, vertraue mir. Wir werden siegen. Und nun schick Boten nach den anderen Befehlshabern. Ich erwarte euch in einer halben Stunde auf diesem Hügel. Dann werde ich euch meinen vollständigen Schlachtplan vorstellen.«
Der Graf wendete ohne ein weiteres Wort sein Pferd und ritt davon. Auch Ollowain lenkte seinen Schimmel den Hügel hinab. Er ritt zu der langen Reihe von Kutschen, die aus dem Flussbett ausgeschert war und nun Aufstellung auf der Ebene nahm. Auf jeden fünften Wagen war eine Speerschleuder montiert. Ihre Geschosse mit den dreikantigen Stahlspitzen waren stark genug, einen Troll und dessen türgroßen Schild noch auf hundert Schritt zu durchschlagen. Doch es waren nicht diese Geschütze, die Ollowain so siegessicher machten. Er sah sich nach dem Kobold um, dem er das Kommando über die Wagen übertragen hatte. Dem Einzigen unter all seinen Kriegern, der vielleicht ahnte, was heute geschehen würde.
Auf den Wagenpritschen herrschte hektische Betriebsamkeit. Ollowain reckte sich im Sattel und sah sich nach Misht um. Melvyn hatte ihm den Kobold als vertrauenswürdig empfohlen. Misht war ein Handwerker gewesen, bevor er sich der Räuberbande des Wolfselfen angeschlossen hatte. Er verstand es zu organisieren.
Der Schwertmeister ritt die Front der Kutschen ab und bewunderte das Koboldvolk. Ein Troll war fast fünfmal so groß wie ein Kobold, und er wog wahrscheinlich mehr als das Zwanzigfache. Aber das schien die kleinen Krieger nicht zu beunruhigen. Die Kutscher saßen auf ihren Böcken, kauten Kautabak, schwatzten oder würfelten. Manche nahmen ein deftiges Frühstück aus Wurst, Käse und Zwiebeln zu sich. Sie alle wussten, dass sie heute gegen einen Feind antreten mussten, der sie einfach zerquetschen würde, wenn er bis zu ihren Reihen durchbrach. Aber wenn man sie in ihrer stoischen Ruhe so sah, musste man glauben, es sei ein Tag wie jeder andere. Sie störten sich auch nicht an der Anwesenheit des Feldherrn. Keiner sprang auf und salutierte oder nahm zumindest eine militärische Haltung ein. Einige der Kutscher nickten ihm zu. Das war alles. Ollowain schmunzelte. Mit dieser vermeintlichen Respektlosigkeit brachten sie Elodrin zur Weißglut. Aber der Schwertmeister wusste, er würde sich auf sie verlassen können, wenn die Schlacht begonnen hatte. Das war alles, was für ihn zählte. Er brauchte keine zackigen Paradekrieger. Er brauchte Kämpfer, die in besonnener Ruhe ihre Befehle ausführten, auch wenn rings um sie die Welt aus den Fugen zu geraten schien.
Eine keifende Stimme ließ Ollowain aufblicken. Ein Stück voraus hüpfte ein Kobold auf einer Wagenpritsche auf und ab und führte sich auf, als habe ihn die Tollwut gepackt.
»Keine Pfeife, du Missgeburt! Ich habe es euch allen oft genug gesagt! Was ist los mit dir? Hast du einen Arsch in deinem Schädel statt einem Hirn?«
Misht trampelte noch immer auf etwas herum, das Ollowain zwischen den großen bunten Seidenkugeln auf der Pritsche nicht erkennen konnte.
»Das wirst du mir büßen, du aufgeblasener kleiner Straßenräuber«, zischte der Kobold, mit dem Misht sich angelegt hatte. Der Kerl hatte ein erstaunlich breites Kreuz.
Ollowain sah, wie sich die Schultermuskeln spannten. Der Kerl hob die Fäuste. »Das war eine Meerschaumpfeife aus Vahlemer. Die war ein Vermögen wert, du Bastard.«
Misht spuckte ihm vor die Füße. »Heb eine Hand gegen mich, und ich schnitz dir aus deinem Schädel einen Pfeifenkopf!«
»Krieger«, mischte sich Ollowain ein. »Höre auf deinen Hauptmann. Dann werden wir heute siegen, und ich verspreche dir, aus Vahlemer wird man dir eine Pfeife schicken, auf der dein Name steht.«
Der aufsässige Kobold drehte sich um und sah ihn geringschätzig an. »Was soll ich mit einer Pfeife, auf der mein Name steht? Auf so eine Idee kann auch nur ein Elf kommen. Was bringt mir das an einsamen Abenden, meinen Namen anzuglotzen? Auf meiner Pfeife war ein Meermädchen, das hatte zwei Titten, da fielen dir die Augen aus dem Kopf. So eine Pfeife will ich!«
Ollowain lächelte. »Weißt du was? Wenn wir siegen, schicke ich dich auf meine Kosten nach Vahlemer in ein Hurenhaus am Hafen. Da kannst du dann solche Brüste einmal anfassen, statt dich in einsamen Nächten mit einer Pfeife zu vergnügen.«
Die Koboldkrieger rings herum brachen in grölendes Gelächter aus, während der Streithahn einen hochroten Kopf bekam.
Ollowain erhob die Stimme, sodass man ihn nun in weitem Umkreis hören konnte. »Ich weiß, dass es in diesem Heer viele Kentauren und Elfen gibt, die auf euch herabsehen. Von heute Abend an wird das anders sein. Ganz gleich welche Heldentaten meine Reiterscharen heute vollbringen: Ihr werdet es sein, die die Schlachtreihen der Feinde aufbrechen. Ihr werdet heute für Albenmark den Sieg erringen. Und so großmäulig all jene sein mögen, die auf einem Pferdearsch sitzen oder sogar selbst einen haben, sie werden im Herzen wissen, dass es die Kobolde waren, die heute die Trolle vom Feld gejagt haben. Ich vertraue auf jeden Einzelnen von euch. Macht mich stolz. Macht euch stolz! Siegt!« Wieder einmal wünschte sich Ollowain, er könnte Reden schwingen wie Lambi, der Heerführer seines Freundes Alfadas. Seine Worte hatten keinen allgemeinen Jubel bewirkt. Aber immerhin grinsten die meisten Kobolde, als sie sich auf den Kutschenpritschen wieder an ihre Arbeit machten.