Langsam entfernte sich der Hufschlag. Sie lebte noch! Vorsichtig hob Ganda den Kopf. Hundert Schritt entfernt waren noch andere Streitwagen. Sie konnte auch Kentauren sehen, die flüchtenden Trollen hinterherpreschten. Rauchsäulen woben dunkle Narben auf den strahlend blauen Himmel.
Vorsichtig erhob sich die Lutin. Sie hatte sich nichts gebrochen. Ihr Esel gab jämmerliche, japsende Laute von sich. Als sie das Tier im hohen Gras liegen sah, musste sie würgen. Die Sicheln hatten ihm dicht unter dem Rumpf die Beine abgetrennt. Die blutigen Stümpfe zuckten, als wolle er immer noch laufen. Die Augen des Esels waren so weit aufgerissen, dass die Iris von einem weißen Kranz umgeben war.
Ganda zog ihr Messer aus dem Gürtel und kniete neben dem verstümmelten Tier nieder. Sanft strich sie ihm über den Hals.
»Ich wünschte, ich hätte dich niemals hierher gebracht. Bitte verzeih mir.« Sie tastete nach der dicken Ader an der Vorderseite des Halses und schlitzte sie der Länge nach auf. Dunkles Blut spritzte über ihre Hände. Sie kraulte den Esel zwischen den Ohren und redete beruhigend auf ihn ein, bis dessen Beinstümpfe aufhörten zu zucken und er ganz still lag.
Müde stemmte sich die Lutin auf die Beine und ging dem Hügelkamm entgegen. Es war zu spät, um noch umzukehren. Sie hätte fliehen sollen, als ihr die schreienden Trolle entgegengekommen waren. Oder als sie gesehen hatte, wie die Rudelführer mit langen Bullenpeitschen auf ihre Männer eingedroschen hatten, um sie aufzuhalten und sich wieder zum Kampf zu stellen. Selbst als ihr der Kentaur in der Bronzerüstung begegnet war, wäre es noch Zeit gewesen zu fliehen. Der irre Glanz in den Augen des Pferdemannes hatte ihr eisige Schauer über den Rücken gejagt. Aber nein, sie war blind für all das gewesen. Sie hatte die Rauchsäulen am Horizont als ihr Ziel gewählt und war auf sie zu geritten.
Die Lutin erreichte den breiten Hügelkamm. Als sie den Hang hinabstieg, schmatzte die Erde unter ihren Füßen, so hatte sie sich voller Blut gesogen. Überall lagen tote Trolle. Vereinzelt gab es auch Kentauren. Ein Stück entfernt erhoben sich die Trümmer eines umgestürzten Streitwagens über das Leichenfeld. Obwohl die Schlacht noch in vollem Gange war, zankten schon dutzende Krähen um die besten Happen.
Ein Stück entfernt hatten ein paar hundert Trolle eine Hügelkuppe besetzt und trotzten verzweifelt einer Schar von Kentauren, die in rasendem Galopp den Hügel umrundete und die Trolle dabei mit einem Hagel von Pfeilen eindeckte.
Mehr als eine Meile entfernt kamen lange Reihen von silbern glänzenden Reitern eine Hügelflanke hinab. Das Chaos der Schlacht schien sie nicht zu berühren. Bunte Banner wehten über ihren Häuptern. Ein wahrer Wald von Lanzen ragte über ihnen auf. Wie auf einem Paradefeld kamen sie geritten. Dann senkten sich die Lanzen der vordersten Reihe. Undeutlich konnte Ganda eine dunkle Linie vor den Elfenrittern erkennen, die an den Enden auseinander franste.
Ganda wandte den Blick ab. Sie wollte nicht sehen, was dort geschah. Sie verschloss auch ihre Ohren vor dem Stöhnen der Verwundeten. Sie konnte hier nicht helfen. Es waren viel zu viele. Sie wünschte, ihre Sinne würden ihr den Dienst verweigern! Sie wollte diese Schrecken nicht in sich aufnehmen.
Ein Schatten glitt über sie hinweg. Über ihr flogen riesige Adler dahin. Sogar ein Lamassu war zu sehen. Nicht einmal der Himmel war vom Krieg verschont geblieben!
Ganda standen Tränen in den Augen. Halb blind lief sie zwischen den Toten dahin. Sie erklomm einen weiteren Hügel. Ein vertrauter Laut beflügelte ihre Schritte: das ängstliche Blöken einer jungen Hornschildechse. Nie zuvor war sie auf diesem Hügel gewesen oder auch nur im Hügelland südlich des Mordsteins, und doch war sie nach Hause gekommen. Dort unten zwischen den Hügeln war ihre Herde. Schon von weitem erkannte sie den alten Zweistoß, den Leitbullen, am gezackten rotorangefarbenen Rand der großen Hornplatte, die seinen Nacken schützte. Die Herde war groß geworden! Es gab viele Jungtiere.
Die Hornschildechsen hatten sich in einem weiten Kreis aufgestellt. Ihre gepanzerten Köpfe mit dem breiten Hornkragen und den drei geschwungenen Hörnern bildeten einen Wall, der selbst Trollen Respekt abnötigte. Die Tiere standen nicht Schulter an Schulter. Zwischen ihnen blieben ein bis zwei Schritt weite Lücken, sodass sie ihre mächtigen gepanzerten Schädel hin und her schwingen konnten, falls ein Angreifer tollkühn genug war, sich mit ihnen anzulegen. Die jungen Hornschildechsen hielten sich in der Mitte des Kreises. Dort befanden sich auch die Ponys und die Ziegen der Lutinsippen, die mit den Hornschildechsen zogen.
Auf die Rücken der ausgewachsenen Echsen waren Plattformen aus Bambusrohr gebaut, auf denen niedrige Zelte aus Ziegenhaar standen. Von hohen Stangen flatterten die Sippen-
und Familienbanner, aber auch Hemden und andere Wäsche, die man zum Trocknen herausgehängt hatte. Die Strickleitern zu den Plattformen waren eingeholt. Schwere Armbrüste waren auf Schwenkbeinen arretiert, bereit, jedem Feind einen Willkommensgruß mit einer Spitze aus geschliffenem Vierkantstahl zu senden. Doch niemand griff die Lutin an, und auch die Kobolde mischten sich nicht in die Kämpfe ringsherum ein.
Eine Schwadron Kentauren preschte auf der gegenüberliegenden Hügelkuppe vorbei, ohne auch nur die geringste Notiz vom Lager der Hornschildechsen zu nehmen. Das kleine Tal war wie das Auge eines Wirbelsturms. Rings herum wurde tausendfach gestorben, doch hier herrschte gespannter Frieden, und statt Kriegsbannern flatterten Unterhosen im Wind.
Ganda stieg langsam die Hügelflanke hinab. Jetzt erkannte sie auch andere der Hornschildechsen. Wolfsbeißer und Torkelschritt lebten noch. Auch Mondkragen, die junge Echsenkuh, auf deren Rücken sie einst gewohnt hatte, war bei der Herde. Ihre zähe, faltige Haut hatte das helle Grasgrün der Jungtiere verloren und mittlerweile den matten, graugrünen Ton der Alten angenommen.
Ganda klopfte das Herz. Für sie waren nur wenige Wochen vergangen, aber für ihre Sippe fünfzehn Jahre. Würde man sie überhaupt noch wiedererkennen? Wer lebte noch von ihren Freunden? Alle Kinder, die sie gekannt hatte, wären jetzt erwachsen. Wer lebte wohl auf dem Rücken von Mondkragen? Und wo würde sie unterkommen?
Auf den Bambusplattformen waren nur wenige Lutin zu sehen. Alle Alten und die Kinder waren in den Zelten verborgen. Die Frauen, die sich zeigten, trugen bunt bestickte Westen, grobe Leinenhemden und enge Reithosen so wie früher. Kleider und Röcke waren zu unpraktisch, solange man mit der Herde wanderte. Auch die Männer trugen enge Hosen und Schaftstiefel, dazu speckige Lederjacken. An heißen Tagen verzichteten sie auf Hemden. Ein locker umgeschlungener Seidenschal verhinderte, dass sie sich an den steifen Kragen die Nacken wund scheuerten.
Die meisten hatten ihre Jacken nicht zugehakt. Über ihrer Brust baumelten Amulette aus Federn, Hornplatten und allen erdenklichen anderen Dingen bis hin zu eingetrockneten Nabelschnüren oder mumifizierten Zehen. Aus ihren Gürteln ragten die Griffe des Nackenstechers und des Häutermessers, der beiden Klingen, die jeder Lutin erhielt, sobald er zum Mann wurde.
Ganda trug noch immer das rote Kleid, in dem sie in jener schicksalhaften Nacht vor Emerelle getreten war. Es war unpassend für das Leben in der Steppe. Sie spürte die Blicke, mit denen sie gemustert wurde.
Der Schwarze hatte ihr einiges über ihre Legende erzählt. Er kannte sich aus. Schließlich hatte er die Bücher und Flugschriften gedruckt, in denen Elija ihre Geschichte weit über den engen Horizont der Wahrheit hinaus gesponnen hatte. Sie war eine Heldin, die in den Kerkern der Elfen verschwunden war. Unbeugsam und tapfer, hatte sie angeblich nicht einmal unter der Folter die Sache der Rotmützen verraten. Ganda lächelte freudlos. Mit diesen Geschichten würde sie leben müssen. An sie zu rühren, hieße das empfindliche Gleichgewicht zwischen Wahrheit und Lüge zu gefährden, auf dem jene Welt beruhte, die Elija in seinen Schriften entworfen hatte.