»Ich bin Kommandantin Schlüsselchen«, rief Ganda den Kriegerinnen und Kriegern an den Armbrüsten zu. »Ich bin zurückgekehrt, um meinen Platz in der Herde einzufordern. Bringt mich zu Elija!«
Zwei Kriegerinnen schwenkten ihre Armbrüste auf sie ein. Zwischen den Plattformen auf den Rücken der Hornechsen wurden Flaggensignale getauscht. Früher hatte es einmal einen eigenen Wimpel für sie gegeben, der einen roten Schlüssel auf gelbem Grund zeigte. Heute nahmen sie für sie den Wimpel mit der Bedeutung fremd. Das zu sehen, machte ihr mehr zu schaffen, als sie erwartet hatte.
Schließlich gab ihr eine Kriegerin mit einem roten Turban ein Zeichen, sich entlang der Front der Hornechsen zu bewegen.
»Du findest Elija auf Wolfsbeißer!«, rief die Lutin.
Ganda schnaubte verächtlich. Sie wollten sie also auf die Probe stellen! Eine Fremde könnte nicht wissen, zu welcher Echse sie gehen musste. War es nur die Schlacht, die ihre Sippe so misstrauisch machte? Zu ihrer Zeit hatte man Fremde nie so unfreundlich empfangen.
Die Hornschildechsen musterten sie aufmerksam mit ihren großen, meergrünen Augen. Manche klapperten mit den Schnabelschnauzen. Der Rauch und der Kampfeslärm machte sie unruhig. Immer wieder erklang das ängstliche Blöken der Kälber aus der Mitte des Kreises.
Ganda blieb vor einer Echse mit graugrünem Schnabel stehen. Breite gelbe Streifen wie stilisierte Sonnenstrahlen schmückten den Hornkragen. Wolfsbeißer war schon alt gewesen, als Ganda geboren wurde. Selbst jetzt, inmitten der Schlacht, strahlte er eine majestätische Ruhe aus.
Die Lutin nahm Augenkontakt mit ihm auf und streckte dann vorsichtig die Hand aus, um ihm über die fleischige Lippe zu streicheln, in die der Hornschnabel überging. »Fürchten dich die Wölfe noch immer, Starkschnabel?«, fragte sie zärtlich. »Alt wie ein Fels kommst du mir vor und genauso stark. Ich weiß noch, wie ich im Schatten zwischen deinen Beinen mit Grashüpfern gespielt habe. Kennst du mich noch?«
Die große Echse legte den Kopf schief. Die weiten Nüstern bebten. Fauchend schnaubte das Reptil. Dann schoss die raue, lila Zunge hervor. Ihre Berührung fühlte sich an, als reibe grober Sand über Gandas Haut.
»Komm herauf!«, erklang eine Stimme über ihr. Auf das Geländer der Bambusplattform stützte sich ein junger Lutin. Er zwinkerte ihr freundlich zu. Etwas an ihm kam Ganda vertraut vor. Selbst für einen Lutin war der junge Mann recht extravagant gekleidet. Seine Hose war mit goldenen Blumen bestickt. Statt eines Gürtels trug er eine breite, rote Bauchbinde, aus der die Griffe des Häutermessers und des Nackenstechers hervorlugten. Seine Lederjacke war mit roten Litzen abgesetzt. Um den Hals hatte er einen schmuddelig weißen Seidenschal geschlungen. Die Jacke klaffte weit offen, sodass man seinen flachen Bauch sehen konnte. Ein hübscher Kerl, dachte Ganda beiläufig. Sie kletterte die Leiter hoch und duckte sich unter dem Geländer hindurch.
Der Krieger schnalzte mit der Zunge. »Du siehst gut aus, Tante Ganda. Du ...« Sein Blick verharrte auf ihrer Silberhand.
»Bei den Alben, was ist denn das?«
Ganda überging die Frage. »Tante?« Der Lutin lächelte breit.
»Nikodemus. Ich war noch ein Junge, als die Elfen dich verschleppt haben, Kommandantin. Das hat sich inzwischen geändert.« Ganda trat einen Schritt zurück und musterte ihn noch einmal von den Ohrenspitzen bis zur Sohle. Niemals hätte sie in dem selbstsicheren jungen Kobold den schüchternen Jungen von einst erkannt. Jetzt verstand sie, warum er einen so nachhaltigen Eindruck bei Rika, der Flusshexe, hinterlassen hatte.
Er deutete über die Schulter. »Mein Bruder erwartet dich, Kommandantin Schlüsselchen.« Nikodemus beugte sich vor und flüsterte. »Pass auf dich auf. Er hat heute wieder seine Stimmungen. Er ist wütend, weil die Trolle sich dermaßen das Fell gerben lassen. Sei vorsichtig mit dem, was du sagst. An solchen Tagen weiß man nie, wie er sich verhalten wird.«
»Danke«, entgegnete sie knapp. Zumindest daran hatte sich also nichts geändert. Elija war auch früher schon für seine Launen berüchtigt gewesen, auch wenn Nikodemus das als Kind vielleicht nicht hatte wahr haben wollen.
Plötzlich umarmte der junge Lutin sie. Er drückte sie fest an sich. Ganda schob die spitze Fuchsschnauze in seinen offenen Kragen. Er duftete angenehm nach Schweiß, Fuchsfell und dem unverwechselbaren Geruch der Hornechsen. Die Lutin musste mit den Tränen kämpfen. Fast ihr ganzes Leben hatte sie dieser Geruch umgeben. Sie war zu Hause! Kein Duftwasser der Elfen roch so köstlich.
»Geh jetzt, Tantchen«, drängte Nikodemus. »Er wartet nicht gern.« Ganda löste sich aus der Umarmung. Wolfsbeißer bewegte sich, und die Plattform schwankte ein wenig. Ganda musste nach dem Geländer greifen, um ihr Gleichgewicht zu halten. Nikodemus hatte das nicht nötig. Er grinste sie an. Wer hätte gedacht, dass aus dem kleinen Lümmel einmal so ein gut aussehender Lutin werden würde! Als Ganda das schwarze Zelt umrundete, fühlte sie sich zunehmend unwohler. Früher hatte sie sich ganz gut darauf verstanden, wie man Elija zu nehmen hatte. Ob er sich wohl sehr verändert hatte? Der Anführer der Lutin wandte ihr den Rücken zu. Er blickte auf ein weites Feld hinaus, auf dem sich ein großes Rudel Trolle ein erbittertes Gefecht mit den Streitwagen der Elfen lieferte. Elija hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ganda spürte, dass er um ihre Anwesenheit wusste. Aber er ließ sie warten. Strafte sie mit seinem Schweigen.
Elija hatte sich einen weiten, rotbraunen Ledermantel lose um die Schultern gehängt. Aus der linken Tasche lugte eine rote Mütze hervor. Um den Hals des Kobolds war ein weinroter Schal geschlungen. Eine abgewetzte blaue Hose mit breiten roten Streifen über den Nähten war nachlässig in hohe Schaftstiefel gestopft. Ob er ein Hemd trug, konnte Ganda nicht sagen, solange er ihr den Rücken zuwandte.
Die Trolle behaupteten sich im Kampf gegen die Streitwagen. Als die Elfen sie nicht zu überrennen vermochten, zogen sie sich zurück.
»Die Masse triumphiert über die Arroganz der Elite«, sagte Elija endlich. Dann wandte er sich um. Seine Brust war mit wulstigen Schmucknarben übersät. Silber sprenkelte das Haar seiner Schnauze. Seine Augen musterten die Lutin kalt durch die kleine Brille.
Alt war er geworden, das war Gandas erster Gedanke. Und die Kälte, mit der er sich umgab, war noch schneidender.
»Ja, meine Brust ... Wir alle müssen Opfer bringen. Bei unseren Verbündeten gilt man nur dann als richtiger Mann, wenn man so etwas klaglos über sich ergehen lässt. Sie schmieren einem eine graue Paste in die Wunden. Es heißt, ihre Schamaninnen hätten da hineingepinkelt. Und das ist noch eine der angenehmeren Zutaten. Die Wunden heilen schlecht, und es bilden sich diese üblen Narben. Unsere Verbündeten haben ein eigenwilliges Verständnis von Schönheit. Das ist der Preis ...«
Er sah ihre Hand. »Und wie ist es dir im Kerker ergangen?«
Ganda stutzte. Wusste er es wirklich nicht besser? Glaubte er die Geschichten, die er über sie geschrieben hatte, am Ende gar selbst? Es war unmöglich, in seiner Miene zu lesen. Nichts verriet, ob er scherzte oder es ernst meinte.
Die Lutin hob ihre Silberhand und streifte den Ärmel ihres Kleides zurück. »Jeder zahlte seinen Preis«, sagte sie, ohne sich damit auf irgendetwas festzulegen.
Er trat dicht vor sie. Sein Atem roch nach Knoblauch. Vorsichtig berührte er die silberne Hand. »Sie haben dir übel mitgespielt, die Elfen ...«
»Ja.«
»Gut, dass du ihnen entkommen bist.«
Ganda war das Versteckspiel leid. »Ich war nicht ihre Gefangene. Ich ...«
Er legte ihr sanft die Hand auf die Lippen. »Ich will das nicht hören. Weißt du, jeder erschafft sich seine eigene Welt. Sie setzt sich aus Wahrheit, Missverständnissen und Lügen zusammen. Deshalb bleiben wir letztlich immer einsam. Niemand teilt wirklich die Welt eines anderen. Es gab eine Zeit, da habe ich dich für eine Verräterin gehalten, Ganda. Du warst unsere beste Pfadfinderin. Du weißt, wie dringend wir dich gebraucht hätten. Du bist gesehen worden, wie du zweimal in einer Nacht in Emerelles Burg gegangen bist. Du weißt ja, wir Lutin haben unsere Augen überall. Niemand hat dich jemals wieder von dort fortgehen sehen. Ich habe hunderte Male versucht, in die Burg zu gelangen. Doch Emerelle schätzt mich nicht. Sie hat es verstanden, mich fern zu halten. Um unsere Spitzel weiß sie jedoch nicht. Selbst in ihrem Fechtsaal wird sie beobachtet. Dich zu finden, war dennoch unmöglich. Ich hatte Angst, dass du tot bist. Doch auch dafür gab es keine Zeugen. Gerüchte machten die Runde, dass du unsere Sache verraten hättest. Du als meine Vertraute! Ich musste etwas dagegen unternehmen. Also machte ich dich zur Märtyrerin. Kommandantin Schlüsselchen, von den Elfen verschleppt, weil sie eine der Größten unseres Volkes war. Eine Heldin im Kampf gegen die Knechter. So hast du mir weiterhin gedient und unsere Sache vorangebracht. Zerstöre das nicht, Ganda. Für unsere Kampfgefährten bist du die Lutin, die ihren Folterknechten entkommen ist. Die Aufrechte, die in all den Jahren, die man sie im tiefsten Kerker von Burg Elfenlicht gefangen hielt, niemals unsere Sache verraten hat. Die Kriegerin, die ihren Wächtern entkam und zu uns zurückkehrte, um wieder den Kampf gegen die Unterdrücker aufzunehmen. Die Stunde des Sieges ist nicht mehr fern, Ganda. Bald schon wird sich die Einheitsfront aller Kobolde erheben und die Herrschaft der Elfen hinwegfegen.«