Der Gedanke an seinen großen Bruder machte Nikodemus ein wenig eifersüchtig. Elija fiel immer alles zu. Er konnte reden, bis man nicht mehr wusste, wo einem der Kopf stand. Nie hatte Nikodemus erlebt, dass es seinem Bruder nicht gelungen wäre, einen Kobold von der Sache der Rotmützen zu überzeugen. Es war Elija gewesen, der den Kommandanten Skorpion angeworben hatte und die Eiserne Kommandantin. Sie hatte ein schreckliches Ende genommen, die Eiserne. Und obwohl es hieß, sie und der Skorpion seien ein Paar gewesen, hatte sich der Kommandant ruhig verhalten.
Er hätte das nicht getan, dachte Nikodemus. Wieder blickte er zu Ganda. Unglaublich, wie gut sie noch aussah! Dabei musste sie doch etwa genauso alt sein wie sein Bruder Elija. Er sah sie gern an. Das hatte er schon damals getan, als er noch ein Rotzlöffel gewesen war. Sie hatte sich nichts dabei gedacht. Wahrscheinlich hatte sie nicht einmal geahnt, dass er in sie fast genauso verliebt gewesen war wie in Liza.
Warum verliebte er sich nur immer in die Weiber, die nichts von ihm wissen wollten? Ach, Liza! Sie war jetzt irgendwo im Herzland. Sie hatte sich freiwillig gemeldet, um dort im Untergrund für die Sache der Rotmützen zu streiten. Sich zu ihnen zu bekennen, war seit einer Weile nicht mehr ganz ungefährlich. Einige der Elfenfürsten ließen sie verfolgen. Er musste wieder an die Eiserne denken. Sie war eine Märtyrerin geworden, eine Heldin. Ihren Namen würde man noch in hundert Jahren kennen.
Nikodemus blickte auf. Ganda schlenderte in seine Richtung. Wieso hatte sie sich nur sofort wieder Elija an den Hals geworfen? Der wusste mit den Weibern doch kaum etwas anzufangen!
Ein bisschen unheimlich war sie ihm mit ihrer silbernen Hand. Was sie in den Kerkern der Elfen wohl erlebt hatte? Ob es sehr unhöflich war, sie direkt danach zu fragen?
»Na, reiche Beute gemacht?«
Nikodemus legte das Schwert ins Gras und lächelte etwas verlegen. »Es ist nicht gut, dass wir morgen schon wieder losziehen müssen. Hier liegt ein Vermögen auf der Steppe.«
»Das wird auch noch dort liegen, wenn wir in ein paar Tagen zurückkommen. Aber das Fleisch muss fort. Ich verstehe zwar nicht ganz, was der Sinn dieses Geschäftes ist, aber den Trollen ist es sehr wichtig. Man muss wohl ein Troll sein, um zu begreifen, welchen Nutzen man von Vorratslagern hat, an die man gar nicht ohne weiteres herankommt.«
Nikodemus war in die Hintergründe dieses Geschäftes eingeweiht. Es hatte mit der Erschaffung der Einheitsfront zu tun, mit Trollen und Viehherden, die davonliefen, dem Winter, langen Märschen, wunden Füßen, leeren Bäuchen und ... Hmmm. Vielleicht hatte er doch nicht den Überblick über alle Einzelheiten. Aber Ganda würde er nichts erzählen. Wenn Elija sie noch nicht eingeweiht hatte, dann hatte das gewiss einen Grund. Da würde er sich nicht einmischen.
»Ein Vermögen liegt da auf der Steppe«, sagte er noch einmal.
»Und es ist nicht egal, ob wir es erst in einer Woche einsammeln. Die Waffen und Rüstungen müssen gefettet werden. Das Zeug rostet sonst. Und wer weiß, wer sich hier heranmacht, wenn wir weg sind. Die Elfen haben sogar auf ihren Rüstungen Edelsteine. Manche jedenfalls. Und du würdest gar nicht glauben, wie viele Bekloppte mit einer prallen Geldbörse in die Schlacht ziehen. Wirklich, Ganda! Das ist ungeheuerlich. Statt das Geld bei ihrer Familie oder Sippe zu lassen, nehmen sie es mit, wenn es ans Hälse-Durchschneiden geht. Da weiß man doch nicht, ob es einen mal selber erwischt. Da kann man sein Geld ja gleich verschenken.«
»Ich schätze, die wenigsten Krieger machen sich so tiefschürfende Gedanken. Krieger wird man, weil man in seiner Sippe keinen Platz mehr hat.«
Nikodemus kratzte sich an der linken Augenbraue. Also, das klang ihm zu abfällig. Krieger waren schon wichtig! Sie waren die Helden. Und jedes Volk brauchte Helden! »Ich finde, man wird auch dann Krieger, wenn man sich mit Leib und Seele seinen Idealen verschreibt, wie wir es getan haben. Wir sind eine ganze Sippe von Kriegern.« Er deutete zum Lager der Hornschildechsen. »Jeder dort würde ohne zu zögern sein Leben für unsere Sache geben. Sogar die Echsen.«
Ganda grinste.
»Was ist daran so lustig, Kommandantin?« »Ich habe mir gerade vorgestellt, wie Mondkragen mit einer roten Mütze aussehen würde.« Ganda grinste noch breiter. »Sehr eindrucksvoll! Sie wäre eine prima Heldin im Kampf um die Einheitsfront der Koboldvölker.«
Nikodemus versuchte sich an das Wort zu erinnern, das sein Bruder gebrauchte, um solche unbotmäßigen Bemerkungen zu brandmarken. Defätismus! Das war es. Hatte Ganda sich diesen seltsamen Humor zugelegt, um die Schrecken der Elfenkerker zu überstehen? Bestimmt! Früher war sie nicht so gewesen ... Oder? Sie war so lange fort gewesen.
»Du solltest mich auf einer meiner nächsten Reisen begleiten, Kommandantin. Es wäre sicher sehr hilfreich, wenn du von deinen Erlebnissen in den Elfenkerkern erzählen könntest. Du bist die einzige Kommandantin, die ihnen jemals entkommen ist. Wenn du den anderen Kobolden nur die Augen öffnen könntest, welche Abgründe unter den schönen Häusern und Palästen lauern.«
»Ich glaube, dafür bin ich nicht die Richtige.« »Du kannst nicht darüber reden, weil es so schlimm war, ja?«
»Genau.« Etwas an dem Tonfall, mit dem Ganda das sagte, gefiel ihm nicht. Aber wer fünfzehn Jahre in einem Elfenkerker verschwunden gewesen war, hatte wohl das Recht, ein bisschen seltsam zu sein. Nikodemus nahm das Schwert und polierte noch einmal über die Klinge. Das Abendlicht spiegelte sich rot wie Blut im Elfenstahl. Welch eine wunderbare Waffe! Bestimmt war sie von Koboldschmieden gemacht! Ob sie wohl verzaubert war? Vielleicht wurde sie niemals stumpf? Oder sie konnte durch Eisen schneiden wie durch Butter? Oder wer die Klinge trug, war unverwundbar ... Nein, das war es wohl nicht. Unverwundbar hatte der Kerl bei Leibe nicht ausgesehen! »Wie viele Rotmützen gibt es eigentlich?«, fragte Ganda nach längerem Schweigen.
»Tausende.« Nikodemus war stolz auf das, was sein großer Bruder geschaffen hatte. »Wir sind überall. In den Elfenpalästen geschieht nichts, wovon wir nicht Kenntnis hätten. Unsere Spitzel sind überall. Sogar einige Faune und Blütenfeen haben sich unserer Sache angeschlossen. Die Tage der Knechtschaft sind gezählt. Bald wird eine Zeit anbrechen, in der jeder nur noch nach seinen Taten beurteilt werden wird und nicht mehr nach dem Volk, in das er geboren wurde.«
»Ein wunderbarer Traum«, sagte die Lutin nachdenklich.
»Es liegt in unserer Hand, Träume Wirklichkeit werden zu lassen, Ganda. Wir müssen es nur wollen.«
Die Kommandantin lächelte traurig. »Ja, so einfach scheint die Welt. Aber es ist gut, einen Traum zu haben und ihn zu leben. Das ist ein kostbarer Schatz. Ich werde ihn dir nicht ...«
»Was hast du?« Ganda war plötzlich erstarrt, als habe sie eine Viper gesehen. »Ganda?«
»Das Schwert! Woher hast du das?«
»Eine wunderbare Waffe, nicht wahr? Ich bin sicher, sie hat einem Fürsten gehört und ist ein Vermögen wert.«
»Woher hast du das Schwert?«
Ganda war völlig aus dem Häuschen geraten. Nikodemus konnte sich nicht erinnern, sie jemals so aufgeregt gesehen zu haben. Was hatte sie jetzt schon wieder? »Dort drüben, wo sich das Felskliff zwischen Hügeln erhebt, habe ich es gefunden.« Er kramte in seinen Hosentaschen. »Ich habe dort auch eine wunderschöne Brosche gefunden und goldene Münzen, die an einem Pferdegeschirr hingen, und ...«
Ganda schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab.
»Bring mich dort hin! Sofort!«
»Aber es wird gleich dunkel und ...«
Die Lutin packte ihn mit ihrer Silberhand. Nikodemus keuchte auf. Sie packte zu wie ein Troll. Fast hätte sie ihm die Hand zerquetscht. »Ist schon gut, ist schon gut. Ich bringe dich hin. Ist ein ganzes Stück Fußmarsch.«
Der Weg über das Schlachtfeld war dem Lutin unangenehm. Er hatte schon oft Tote gesehen, wenn auch noch nie annähernd so viele. Die Hitze ließ die Leiber aufquellen. Mit den toten Kentauren war es am schlimmsten. Ihre Beine standen stocksteif ab, und manchmal zuckten sie oder die Kadaver furzten.