Der Hang jenseits des Kiefernbruchs war verwüstet. Mannshohe Wurzelstrünke ragten aus dem aufgerissenen Boden. Geröll und klaffende Löcher machten es schwierig, hier einen Weg zu finden. Ein Stück den Hang hinauf beobachtete sie eine Gruppe Hasen. Plötzlich verharrten die Tiere. Kadlin hatte sich vorsichtig bewegt, und der Wind blies ihr entgegen. Eigentlich konnten die Hasen sie nicht bemerkt haben. Sie suchte am Himmel nach dem Schattenriss eines Greifvogels, doch da war nichts.
Dann hörte sie einen Ast brechen. Etwas bewegte sich in einem Dickicht aus Büschen und Brombeergestrüpp etwa hundert Schritt entfernt. Die Hasen sprangen auf und waren binnen weniger Herzschläge verschwunden.
Wieder krachte ein Ast. Das Geräusch klang unheimlich laut im stillen Wald. Das Hämmern des Spechtes war verstummt. Kadlin zog die Sehne auf ihren Bogen und nahm einen Pfeil aus dem Köcher an ihrer Hüfte. Sie hatte das Gefühl, dass dort oben jemand absichtlich Lärm machte. Das war gewiss kein Tier! Jemand wollte sie anlocken.
Die leichte Brise erstarb. Der Wald lag totenstill. Sie hörte nicht einmal mehr das Schnaufen von Björn. Doch den hatte sie ein gutes Stück hinter dem Kiefernbruch zurückgelassen. Wahrscheinlich nutzte er die Gelegenheit, aus ihrem Blickfeld zu sein, und hatte eine kleine Pause eingelegt.
Die feinen Härchen in Kadlins Nacken sträubten sich. Sie wurde beobachtet! Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft. Es stank nach Aas. Der Kiefernduft überdeckte den Aasgestank fast. Er war mehr Ahnung als Gewissheit.
Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie hinauf zu dem Brombeerdickicht. Ein scharfer Knall hallte über die Waldschneise. Jemand hatte einen dicken Ast zerbrochen.
Plötzlich erklang hinter ihr ohrenbetäubendes Gebrüll. Sie fuhr herum und riss den Bogen hoch. Aus dem Chaos zersplitterter Stämme brach ein Schneelöwe hervor. Eine riesige, grauweiße Bestie.
Kadlin wich zurück. Sie hob den Bogen und schoss, doch der Pfeil war schlecht gezielt. Sie streifte die dichte Mähne des Löwen, ohne Schaden anzurichten.
Ohne den Blick von der Bestie zu wenden, hetzte sie die Schneise empor. Immer wieder strauchelte sie über Wurzeln. Ein Teil der Pfeile fiel aus ihrem Köcher. Mit fliegender Hast legte sie ein neues Geschoss auf die Sehne.
Der Schneelöwe folgte ihr. Beängstigend schnell stürmte er vor, setzte über einen Wurzelstrunk hinweg und hatte sie fast erreicht.
Kadlin zog die Bogensehne bis zur Wange durch. Sie zielte auf das rechte Auge des Löwen. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Sie sah nicht mehr das tödliche Raubtier, sondern nur noch ihr bernsteinfarbenes Ziel.
Der Pfeil schnellte davon. Die Bestie duckte sich zum Sprung, und das Geschoss verfehlte sein Ziel. Es zog eine tiefe, blutige Furche über die Stirn der Raubkatze und verfing sich in der dichten Mähne. Der Schneelöwe stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus. Helles Blut sickerte ihm ins rechte Auge und troff zu seinen Lefzen hinab.
Kadlin wich ein Stück zurück. Ihre Rechte tastete nach dem Köcher mit den Pfeilen. Noch einen Schuss, solange er wütend ist, dachte sie. Das ist die letzte Gelegenheit! Die gefiederten Pfeilschäfte glitten ihr zwischen den Fingern hindurch. Sie machte hastig ein paar Schritte zurück, um etwas mehr Abstand zu gewinnen.
Ruhe, ermahnte sie sich und atmete tief aus. Sie legte einen Pfeil auf die Sehne und machte noch einen weiteren Schritt zurück, als etwas mit eisernem Griff ihren linken Knöchel umschloss. Sie wurde nach hinten gerissen. Der Pfeil schnellte in den Himmel davon. Ein grausilberner Schatten glitt über sie hinweg. Die Zeit schien langsamer zu fließen, als habe der Schicksalsweber beschlossen, ihr eine letzte Frist zu gewähren, um sich von der Welt zu verabschieden. Überdeutlich sah sie die Schlammspritzer und Kletten im Bauchfell des Schneelöwen. Seine riesigen Pranken mit den gekrümmten, hellen Krallen, die ihr gleich das Fleisch vom Leib reißen würden. Den langen Schwanz, der in einer schwarzen Quaste endete.
Kadlin schlug hart auf den Boden. Zersplitterte Wurzelstränge stießen durch ihr ledernes Jagdhemd und schrammten über ihr Fleisch. Über ihr war der Himmel. Wunderbar weit, wolkenlos und von einem strahlenden, hellen Blau.
Geröll stob knirschend zur Seite, als der Schneelöwe hinter ihr landete. Ihr Sturz hatte ihr eine winzige Gnadenfrist verschafft. Sie ließ den Bogen fallen, den sie immer noch umklammert hielt, und zog das Jagdmesser aus ihrem Gürtel. Sie würde sterben, aber der Löwe sollte dafür bluten, dass er sich ausgerechnet sie als Beute ausgesucht hatte.
»He, du flohzerfresssene Missgeburt! Komm her zu mir! Kämpf wie ein Mann!« Björn war hinter dem Kiefernbruch hervorgekommen und schwenkte herausfordernd seine Saufeder. Er schrie aus Leibeskräften. Und tatsächlich, der Löwe wandte sich von Kadlin ab. Knurrend ging er dem jungen Krieger entgegen.
Kadlin versuchte aufzustehen. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Knöchel. Ihr Fuß war verstaucht. Noch einmal mühte sie sich, hochzukommen, knickte aber sofort wieder ein. Fluchend griff sie nach ihrem Bogen.
Björn und der Schneelöwe umkreisten einander. Der Herzogssohn war tief in die Knie gegangen und hielt die Saufeder flach über dem Boden. Ihre Spitze folgte jeder der Bewegungen des Löwen.
Kadlin wagte es nicht, Björn zu rufen. Jeden Augenblick würde der Löwe angreifen. Wenn sie Björn jetzt ablenkte, mochte das sein Tod sein. So wie die beiden standen, konnte sie nicht schießen. Das Risiko, Björn zu treffen, war zu groß.
Die Raubkatze stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus. Björn zuckte vor ihr zurück. Im selben Augenblick sprang der Löwe vor. Mit der Vorderpranke hieb er nach der Spitze der Saufeder und fegte die Waffe zur Seite.
Dann prallte er mit seinem ganzen Gewicht gegen Björn. Der junge Krieger stürzte.
Kadlin ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Der Schuss war schlecht gezielt. Er traf den Löwen in den rechten Hinterlauf. Fauchend fuhr die Raubkatze herum. Björn lag reglos am Boden. Sein Jagdhemd war von den Krallen des Löwen zerfetzt.
Voll kalter Wut griff Kadlin nach einem neuen Pfeil. Sie musste den großen Bogen waagerecht halten, weil sie sich nicht aufrichten konnte. So vermochte sie ihn nicht mit aller Kraft zu spannen. Aber sie war zumindest nicht wehrlos.
Hinkend kam der Schneelöwe auf sie zu. Von seiner Schnauze troff Björns Blut.
Kadlin atmete aus und schoss. Der Pfeil traf den Löwen dicht unter der Mähne in die Brust.
In den Augen der Bestie funkelten Wut und Mordlust. Ohne den Blick vom Löwen zu wenden, tastete Kadlin nach den Pfeilen, die neben ihr auf dem Boden verstreut lagen. Mit etwas Glück würde sie noch einen Schuss haben. Die Raubkatze spannte die Muskeln zum Sprung. Kadlin zog die Sehne durch.
Eine riesige, graue Gestalt tauchte hinter dem Löwen auf. Schnell und lautlos wie ein Geist war sie auf dem Kampfplatz erschienen. Knotige Hände griffen in die Mähne des Löwen. Die Raubkatze wurde hochgerissen. Ihre Kiefer schnappten nach dem Arm des Angreifers, als ihr ein breites Steinmesser in die Kehle fuhr.
Der Löwe gab einen hustenden Laut von sich. Blut spritzte aus der klaffenden Wunde. Der Gegner hatte ihn so weit hochgehoben, dass seine Hinterläufe hilflos in der Luft zuckten. Seine Bewegungen wurden langsamer.
Kadlin hatte einen neuen Pfeil aufgehoben. Sie wusste, dass sie gegen diesen neuen Feind mit ihrem Bogen kaum etwas ausrichten konnte. Aber sie würde nicht einfach nur liegen bleiben und auf das unvermeidliche Ende warten.
Der Troll ließ den sterbenden Löwen fallen. Er schob das Steinmesser in den breiten Gürtel, der seinen Lendenschurz hielt. Der Kerl war so groß wie ein Fels. Wulstige Schmucknarben bedeckten seine breite Brust. Sie zeigten einen Falken. Drei dünne Zöpfe hingen ihm von der Schläfe auf die rechte Schulter hinab. Als Schmuck hatte er sich Vogelfedern ins Haar gesteckt.