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Der Fürst verstummte, und einen Herzschlag lang herrschte Stille auf der Wiese. Melvyn dachte daran, wie er Ollowain gegen die Kobolde hatte kämpfen sehen. Wie konnte ein Mann, der Armbrustbolzen auszuweichen vermochte, von schwerfälligen Trollen getötet werden? Dieses Geheimnis würde sich ihm wohl niemals erschließen.

»Lasst seinen Namen wie einen Sturmwind zum Himmel fahren!«, rief Orimedes plötzlich. »Ollowain!«

Melvyn stimmte in das Geschrei ein. »Ollowain! Ollowain!«, rief er immer wieder, bis ihm die Kehle brannte, und tatsächlich fühlte er sich danach besser. Den Namen des Helden von tausenden Stimmen gerufen zu hören, hatte etwas Befreiendes. Und seine Traurigkeit stieg mit dem Ruf dem Himmel entgegen.

Nach einer Weile breitete Orimedes die Arme aus, und langsam verebbten die Stimmen der Krieger. »Immer schon haben wir unsere Toten geehrt, indem wir für sie tranken. Nie sind sie uns so nah wie im Rausch. Ich will für dich trinken, wie ich noch nie in meinem Leben getrunken habe, Ollowain. Unser Rausch soll Tage dauern. Ich schwöre, er wird erst enden, wenn ich mein Gewicht in Wein getrunken habe. Und dir zu Ehren soll es nur der beste sein. Roter aus Alvemer, gezogen in jenem Jahr, in dem wir in Phylangan unser Blut gaben. Ein König unter den Weinen für einen König unter den Kriegern.« Mit diesen Worten trat Orimedes in eine der beiden Waagschalen, die groß wie Scheunentore waren. Zwei junge Kentauren eilten herbei und stapelten Amphoren in die zweite Waagschale.

»Er muss eine ganze Herde verkauft haben, um den Wein zu bezahlen.« Nestheus‘ Stimme schwankte zwischen Bewunderung und Entsetzen. »Das ist verrückt. Da steckt noch mehr dahinter. Noch nie habe ich gehört, dass ein Fürst so viel für einen Leichenschmaus gezahlt hat.«

»Dann kann man wohl sagen, dass nie zuvor einem Fürsten im Windland ein Freund so teuer war«, stellte Artaxas fest.

Melvyn blickte überrascht zu seinem Gefährten auf. Mit dieser ironischen Art würde er sich unter den Pferdemännern schnell Feinde machen.

Nestheus schien gar nicht auf die Worte des Lamassu zu achten. Er blickte unverwandt auf den Hügel und beobachtete, wie die Waagschale, auf der sein Vater stand, sich langsam hob.

»Er schummelt«, stellte Artaxas fest. »Die Amphoren machen einen beträchtlichen Teil des Gewichts aus.«

»Dort drüben haben sie begonnen, Wolfsmilch auszuschenken.« Melvyn deutete zu einem Karren mit prallen Lederschläuchen, der auf die Wiese fuhr. Zwei Kobolde warfen jedem Pferdemann, der ihnen winkte, einen Schlauch mit Branntwein zu.

»Was mich angeht, ziehe ich die Wolfsmilch dem Wein oder Bier vor. Warum Zeit verschwenden, wenn man sich besaufen will.« Melvyn hoffte, seine beiden Gefährten aus ihrer eigenartigen Stimmung zu lösen. Er war sich bewusst, dass der Alkohol entweder helfen oder alles noch schlimmer machen würde. Aber der Halbelf mochte nicht einfach nur zusehen und untätig bleiben. Er hatte noch keinem Totenfest der Kentauren beigewohnt, und er wusste nicht, wie man sich zu verhalten hatte. Es lag etwas in der Luft. Es würde Streit geben.

Sie drängten sich durch die Menge, die sich um den Wagen versammelt hatte. Artaxas war wie eine mächtige Galeere, die durch die Fluten pflügte. Er überragte jeden der Kentauren um mehr als Haupteslänge. Keiner suchte Streit mit ihm. Noch nicht.

Melvyn folgte dem Lamassu. Er ahnte, was jetzt kommen würde. Artaxas genoss das Schauspiel, das ein Mann ohne Arme lieferte, wenn er trank. Ein Mann, der wie alle Lamassu von Magie durchdrungen war, wie sonst nur wenige andere Geschöpfe Albenmarks.

»He, du hässliche Lederhaut«, rief Artaxas einem der Kobolde zu. »Den größten Schlauch für den Mann mit dem größten Durst auf dieser Wiese.«

Der Kobold setzte zu einer Antwort an, doch ein Blick auf den Lamassu ließ ihn verstummen. Er flüsterte seinem Gefährten etwas zu, dann suchten sie einen Weinschlauch, den sie zu zweit anheben mussten. Sie packten ihn an beiden Händen, schwangen ihn zweimal vor und zurück und ließen ihn dann in hohem Bogen durch die Luft segeln. Der Weinschlauch würde den Lamassu mitten ins Gesicht treffen. Die Umstehenden wichen ein Stück zurück. Einige Pferdemänner grinsten gehässig. Melvyn war immer wieder aufs Neue überrascht, wie der Lamassu es schaffte, sich mit nur einem einzigen Satz unbeliebt zu machen.

Der Lederschlauch verharrte im Flug, als habe eine unsichtbare Faust ihn gepackt. Artaxas lächelte breit. Wie eine Sichel schimmerten seine schneeweißen Zähne durch den schwarzen Bart. Der Korkstöpsel des Lederschlauchs öffnete sich. Artaxas legte den Kopf in den Nacken, und ein dünner Strahl Wolfsmilch schoss ihm in den weit geöffneten Mund.

Die abergläubischen Kentauren wichen noch weiter vor dem Lamassu zurück. Selbst Nestheus war aus seiner grüblerischen Stimmung herausgerissen. »Dein Freund ruft die Geister des Windes und macht sie sich zu Dienern«, sagte er ungläubig. »Er ist ein machtvoller Zauberer!«

Melvyn lachte. »Zuerst würde ich ihn einen Fürsten unter den Angebern nennen. Und ja, natürlich, er ist ein Zauberer. Alle Lamassu sind das. Im Übrigen ist er auch ein hervorragender Fechtlehrer.«

Nestheus runzelte die Stirn. »Eine Kreatur ohne Arme ist ein Fechtlehrer?«

»Er kann einen Säbel schweben lassen, so wie er den Weinschlauch schweben lässt. Hast du einmal gegen eine Klinge gekämpft, hinter der kein Krieger steht, den du verwunden kannst? Jeder richtige Kampf erscheint dir danach wie ein Kinderspiel. Wenn er will, kann er sogar fünf Säbel gleichzeitig kämpfen lassen. Und er schleudert allein kraft seines Willens Dolche durch die Luft, wie andere Armbrustbolzen verschießen. Außerdem betrachtet er sich auch noch als einen genialen Bauherren, einen der bedeutendsten lebenden Dichter, einen unschlagbaren Falrach-Spieler und den Besitzer des elegantesten Bartes, den die Welt jemals gesehen hat. Man könnte auch sagen, er ist maßlos in allen Dingen, die er tut. Aber in den meisten ist er wirklich gut.«

»Das habe ich gehört, Wölfchen«, rief der Lamassu. Er ließ den Lederschlauch in Melvyns Richtung schweben. »Komm, trink, dann kannst du nicht noch mehr Unsinn über mich erzählen.«

»In deiner Heimat musst du ein Fürst sein«, sagte Nestheus ehrfürchtig.

Artaxas rollte mit den Augen. »Alle Lamassu halten sich für Fürsten. Zum Glück gibt es von uns nicht allzu viele. Ich ziehe es vor, der Lehrer eines Elfen zu sein, den man schon als Kind wegen seiner schlechten Manieren in der Wildnis ausgesetzt hat.« Er rülpste. »Manchmal fürchte ich allerdings, dass sein schlechter Einfluss auf mich abfärbt. Aber genug davon ... Komm, trink auch etwas. Für jemanden, der nüchtern bleibt, wird es sicherlich bald ziemlich ungemütlich auf dieser Wiese.«

Der Lederschlauch entglitt Melvyns Händen und schwebte zu dem Kentauren hinüber.

Nestheus hob abwehrend die Hände. »Ich vertrage nicht viel.«

»Dann müssen wir uns ja keine Sorgen machen, dass für uns nicht genug übrig bleibt.«

»Wenn ich getrunken habe, sage ich manchmal unbedachte Dinge ...«

Der Stiermann brach in schallendes Gelächter aus. »Da befindest du dich in bester Gesellschaft. Komm, zier dich nicht wie eine alte Jungfer. Trink, Junge!« Der Kentaur setzte das Mundstück an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. Dann reichte er den Schlauch Melvyn. Er wirkte verlegen.

»Auf Ollowain!«, rief der Elf, und etliche Kentauren nahmen seinen Trinkspruch auf.

Melvyn drückte den Lederschlauch, und ein Strahl Wolfsmilch spritzte ihm in den Mund. Das Getränk brannte auf der Zunge und in der Kehle. Wenn es aber erst einmal den Magen erreichte, dann breitete sich wohlige Wärme aus. Und es sprengte die Fesseln des Geistes. Die Welt sah anders aus, wenn man nur genug Wolfsmilch trank. Freundlicher. Mehr so, wie man sie gerne gehabt hätte. Dieser Zaubertrank aus vergorener Stutenmilch und anderen Zutaten, nach denen Melvyn nie zu fragen gewagt hatte, war ein Geschenk an alle, die einen Abend lang vergessen wollten. Und im Gegensatz zu Wein oder Bier wirkte es sehr schnell.