Etwas kratzte an ihrer Wange. Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie schob den Kopf ein wenig zur Seite. Etwas Braunes ragte aus dem Sand. Es sah aus wie eine abgestorbene Wurzel.
Weiterer Sand rutschte fort, und Ganda reckte sich eine ausgedorrte Hand entgegen. Die Haut war schrumpelig und goldbraun, wo sie noch vorhanden war. In der Handfläche selbst gab es keine Haut mehr. Sie war fein säuberlich abgezogen worden.
Rückwärts kroch Ganda von der Hand fort, unfähig, den Blick abzuwenden. Eine weitere kleine Sandlawine legte ein Stück Unterarm frei. Die Hand winkte ihr zu. Der Gruß eines Toten, der schon bald nicht mehr allein in der Düne verborgen liegen würde!
Die Lutin sprang auf und begann zu laufen. In irgendeinem fernen Winkel ihres Verstandes begriff sie, dass wahrscheinlich nur der sich bewegende Sand für den vermeintlichen Gruß des Leichnams verantwortlich war. Doch diese Erkenntnis drang nicht bis zu ihren Beinen vor. Ohne sich darum zu scheren, ob sie gesehen wurde, lief sie in weitem Bogen um die große Düne herum und schlüpfte durch das klaffende Loch im Himmel.
Blindlings rannte sie in die labyrinthische Bibliothek, und als sie völlig außer Atem innehalten musste, hatte sie keine Ahnung mehr, wo sie steckte. Der Saal sah aus wie ein großer Lagerraum. Auf breiten Tischen langen hunderte von runden Tonscheiben, in die fremdartige Glyphen in Spiralen geritzt waren.
Ganda musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um über die Tischplatten zu blicken. Nur drei Öllampen brannten. Nicht genug, um die Dunkelheit zu vertreiben. Waren da verstohlene Schritte? Die Lutin blickte zurück zur Tür. Nichts.
Sie ging in die Knie und spähte durch den Wald von Tischbeinen. Außer ihr war niemand hier. Und dennoch fühlte sie sich beobachtet. Mit hastigen Schritten eilte sie der Tür am anderen Ende des Gangs entgegen, flüchtete über eine Galerie, von der man auf einen weiten Büchersaal blicken konnte. Dieser Ort kam ihr vertraut vor. Hier war sie am Morgen, als sie nach Ollowain gesucht hatte, schon einmal gewesen. Auf dem Geländer der Galerie standen große Lampen, die ein blendend weißes Licht verstrahlten.
Ganda wusste, dass es von hier aus nicht mehr weit zu ihrer Kammer war. Erleichtert stieg sie eine Wendeltreppe hinab in den Büchersaal. Sie ging an den Regalen entlang, bis sie das Buch mit dem auffälligen gelben Rücken wieder fand. Es stand ganz auf der Ecke eines Regals, gerade in Augenhöhe für sie und es hatte einen Titel, den sie gewiss nicht vergessen würde: Die dreizehn großen Geheimnisse der Epilation. Der Haarwuchs an ihren Beinen gehörte zu den wahren Ärgernissen in ihren Leben. Ihm war nicht einmal mit Magie beizukommen. Heute Morgen hatte sie überlegt, das Buch mit auf ihr Zimmer zu nehmen. Jetzt streichelte sie nur flüchtig im Vorübergehen den Leineneinband. Wir werden uns wiedersehen, schwor sie sich lächelnd.
An so etwas Banales wie das Auszupfen von Haaren zu denken, dämmte ihre Angst ein. Sie würde jetzt einfach in ihr Zimmer gehen und sich dort einschließen. Dort konnte ihr nichts passieren. Das Zimmer hatte eine schwere Tür und direkt nebenan war Ollowains Kammer. Da wäre sie in Sicherheit!
Sie schritt ein wenig zuversichtlicher aus und war schon weit in den Büchersaal vorgedrungen, als sie noch einmal zurück zur Galerie blickte. Ein riesiger Schatten huschte über das Mosaik aus Buchrücken an der Rückwand der Galerie. Und als habe er ihren Blick gespürt, verschwand er augenblicklich.
Nicht laufen, dachte sie ängstlich. Wenn du läufst, denkst du nicht mehr klar. Und deine Schritte sind leicht zu hören!
Sie tastete nach dem Zauberstab, den sie mit zwei breiten Lederbändern an ihren linken Unterarm gebunden hatte, sodass er im Ärmel ihres Kleides verborgen blieb. »Ich bin klein, aber ich bin eine Lutin! Wer immer dort kommt, hält mich für leichte Beute. Aber das bin ich nicht!«
Hinter sich hörte sie die Stufen der Wendeltreppe knarren. Ganda beschleunigte ihre Schritte und bog am nächsten Regalende nach links in einen Quergang ab. Etwas geschah mit den Lichtern auf der Galerie. Ihre Farbe veränderte sich von weiß zu rosa und wurde mit jedem Herzschlag dunkler, bis sie schließlich blutrot glommen. Die großen Lampen strahlten nicht mehr gleichmäßig. Ihr Licht pulsierte, wurde stärker und dann wieder schwächer. So wurde der weite Saal zu einem Hort tanzender Schatten. Alles änderte sich in jedem Augenblick.
Das Herz schlug der Lutin bis zum Hals. Hatte ihr Verfolger ihre Gedanken gespürt? Wollte er ihr zeigen, dass auch er die Kunst der Magie beherrschte? Oder wollte er einfach nur, dass es dunkler wurde in dem Büchersaal?
Sie blieb kurz stehen und lauschte. Sie hoffte darauf, die Schritte ihres Verfolgers zu hören, um einschätzen zu können, wo er steckte. Aber es war still. Ganda bog erneut ab. Wenn man die Hauptgänge verließ, standen die Regale so dicht beieinander, dass man mit ausgestreckten Armen die Bücher auf beiden Seiten berühren konnte. Der ganze Saal war jetzt in bedrückende rote und schwarze Schatten gehüllt.
Die Lutin zog ihren Zauberstab aus dem Ärmel und murmelte die Worte des Verhüllens, während sie eine der Büchergassen entlangeilte. Sie würde mit den Schatten verschwimmen. Ihr rotes Kleid war ohnehin schon eine gute Tarnung bei dem Licht. Der Zauber würde sie vor jedem verbergen, der nicht direkt in ihre Richtung blickte. Für den flüchtigen Beobachter war sie nun nicht mehr als einer der unsteten Schatten, mit denen das flackernde rote Licht den Büchersaal erfüllte.
Ganda verlangsamte ihre Schritte. Sie versuchte, sich so lautlos wie ein Elf zu bewegen. Was wohl im Kopf ihres Verfolgers vorging? Er war ihr gegenüber im Vorteil. Er kannte sich hier aus. Wahrscheinlich ahnte er, dass sie auf dem Weg zu ihrer Kammer war. Für ihn wäre es ein Leichtes, ihr den Weg abzuschneiden. Sie konnte ihm nur dann sicher entkommen, wenn sie sich nicht an seine Erwartungen hielt.
Beim nächsten Quergang wechselte Ganda in eine andere Büchergasse, und dann lief sie wieder in Richtung der Galerie. Sie wechselte noch zweimal die Richtung, bis sie schließlich innehielt. Jetzt musste sie nur noch warten. Wenn sie weiter herumlief, würde sie am Ende noch das Geräusch ihrer Schritte verraten.
Die Lutin kauerte sich auf den Boden und umschlang mit den Armen ihre Knie. Ich bin nur ein Schatten, verborgen zwischen Schatten, wiederholte sie immer wieder in Gedanken, und er kann mich nicht finden. Das Hell und Dunkel der tiefroten Lichter wechselte im Rhythmus ihres Herzschlags. Oder hatte sich ihr ängstlich klopfendes Herz den Lichtern angepasst? Spielte Galawayn mit ihr, so wie er mit Ollowain am Falrach-
Tisch gespielt hatte? Wie konnte sie ihm entfliehen? Und was wollte er von ihr?
War da ein Geräusch? Ganda hielt den Atem an. Leise tappende Füße auf der anderen Seite des Regals! Ganda spähte durch den Spalt zwischen den oberen Buchkanten und dem nächsten Regalbrett. Sie konnte niemanden entdecken.
Du musst nur ganz still sitzen bleiben, ermahnte sie sich, Wenn er nur flüchtig in diesen Gang blickt, dann wird er dich nicht entdecken. Das Geräusch der Schritte war verklungen. War er stehen geblieben? Sie musste daran denken, wie sie Ollowain durch den Büchertunnel getragen hatte. Kein Pergamentblatt hatte sich unter seinen Füßen bewegt. Elfen konnten sich völlig lautlos bewegen, wenn sie es denn wollten. Sie hinterließen nicht einmal deutliche Spuren im Schnee. Demnach musste Galawayn gewollt haben, dass sie ihn hörte. Also wusste er, wo sie war!
Ihr Fell sträubte sich. Nein, nein, nein, so war es nicht! Keine Panik. Wie sollte er wissen, wo sie war? Sie schloss die Augen, um klarer denken zu können.
Halte deine Sinne beisammen! Lasse dich nicht erschrecken! Was kannst du ... Etwas berührte sanft ihre Schulter.