»Warum hast du mich ausgesucht, um mir all dies zu sagen?«, fragte Guido stockend. Der Gedanke an die Ausmaße der Lüge, der die Kirche folgte, hatte ihn fast sprachlos gemacht.
»Weil du einen wachen Verstand hast. Weil du mit mir streitest, wenn du glaubst, dass ich im Unrecht bin. Und weil du so wunderbare Handschriften anfertigst. Die Wahrheit soll auf feinstes Pergament geschrieben stehen, und zwar in einer Schrift ohne Schnörkel und Fehl. Ich will, dass wir ein Buch erschaffen, so wunderbar und makellos, als hätten es die Engel geschrieben. Dann wird niemand an den Worten zweifeln. Denn glaube mir, die Lüge ist schon so mächtig geworden, dass es schwer werden wird, sie zu töten. Bete, Guido. Reinige deine Seele, so wie ich es nun in der Messe tun werde.«
Er ergriff Guidos Rechte mit beiden Händen, drückte sie fest und schenkte ihm sein unheimliches Lächeln, das vor so langen Jahren für immer aus der Form geraten war. »Morgen werden wir zu Rebellen der Wahrheit werden, Guido. Unsere Seelen werden durch ein reinigendes Feuer gehen und all das Fett abschwitzen, das sie in der Trägheit des falschen Glaubens angesetzt haben. Die Gläubigen müssen erfahren, dass die Elfen Lichtgestalten sind und keine Geschöpfe der Finsternis. Keine Dämonen wie auf den Bildern, die du erschaffen hast.«
Der Miniaturenmaler erwiderte den Händedruck. »Meine Feder wird dein Schwert sein, Bruder Abt.« Guido fühlte sich ein wenig benommen. Die Wirklichkeit hatte sich schneller verändert, als sein Verstand es zu fassen vermochte. Eben noch waren die Elfen die Inkarnation des Bösen, und nun nannte Lucien sie Lichtgestalten.
Der Abt schenkte ihm sein beschädigtes Lächeln. »Ich zähle auf dich, Bruder Guido.« Mit diesen Worten eilte er davon.
Guido atmete tief aus und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Es war totenstill. Die Nacht schien den Atem anzuhalten. Eine neue Zeit würde anbrechen. Der Miniaturenmaler versuchte sich vorzustellen, wie sehr sich die Welt verändern würde, wenn sie die neue Wahrheit hinaus unter die Schar der Gläubigen trugen. Guido sah sich im Geiste schon als flammender Prediger auf großen Marktplätzen, als ein einziger galliger Gedanke ihm alle Illusion nahm. Woher wollte er eigentlich wissen, dass Lucien die Wahrheit sagte? Gut, der Abt hatte sich oft ein wenig merkwürdig verhalten, und seine Geschichte schien dies zu erklären. Aber war es wirklich die Wahrheit? Warum sollte Jules lügen? Nur weil er damals, als Guillaume zum Märtyrer wurde, noch ein Kind gewesen war und die Ereignisse, deren Zeuge er war, nicht richtig begriffen hatte?
Guido blickte zum weiten Himmel empor und fühlte sich verloren. Er hatte das Gefühl, dass er jeden Augenblick hinauf in die Dunkelheit gezogen werden könnte, um sich in deren Weiten auf immer zu verlieren. Seine Seele war wie ein Schiff, das in schwerer See den Kurs verloren hatte.
Er spürte sein Herz wie rasend schlagen. Seine Zweifel würden es noch zerspringen lassen. Wo würde er ein Leuchtfeuer finden, das ihn zurück auf den rechten Weg führte?
Zweifelnd blickte er zu dem hohen Tempelturm, der sich wie eine Festung des Glaubens gegen den unendlichen Himmel abhob. Dort in der verborgenen Höhle, tief im Felsen, waren nun all seine Brüder und Schwestern versammelt. Könnte er doch nur bei ihnen sein!
Guido trat an das vergitterte Fenster und blickte den steilen Pfad hinab, der zum Refugium führte. Im fahlen Mondlicht hatte der Weg die Farbe eines alten Knochens. Er lag verlassen. In dieser Nacht würde gewiss kein Wanderer mehr kommen ... Durfte er es wagen, seinen Posten am Tor zu verlassen? An der Treppe, die hinab ins Allerheiligste führte, gab es einen Felsdurchbruch. Von dort aus konnte man in die weite Höhle blicken, ohne von unten gesehen zu werden. So konnte er seinen Schwestern und Brüdern nahe sein und blieb ihnen zugleich fern. Und wenn die Messe beendet war, konnte er schnell zurück auf seinen Posten hasten. Wer würde in dieser Nacht schon an das Tor kommen? Niemand!
Guido zog den Sperrriegel der Pforte zurück. Leise knarrend öffnete sich die Tür. Der Ordensbruder trat auf den Weg hinaus und spähte in die Nacht. Da war niemand. Keiner hatte verstanden, warum es dem Abt so wichtig gewesen war, das Refugium mit einer hohen Mauer zu umgeben. Auf diesem einsamen Berg hatte ihre Gemeinschaft niemanden zu fürchten. Manchmal hatte Guido sich gefragt, ob es die Mauer gab, um sie einzusperren. Doch natürlich war auch das Unsinn. Bei Tage konnte jeder kommen und gehen, wie er wollte.
Mariotte hatte ihm einmal gesagt, die Mauer sei nur errichtet worden, damit die Kinder auf dem Gelände des Refugiums blieben und nicht auf den gefährlichen Felsgraten spielten. Nur gab es keine Kinder. Alles war bereit für sie. Sechs der Ordensschwestern hatten sich Partner erwählt. Aber ihr Leib blieb unfruchtbar. Es war wie ein Fluch.
Guido stellte sich vor, wie es wohl wäre, bei Mariotte zu liegen. Ihn fröstelte. Sein Blick wanderte über die weite Berglandschaft, und wieder sah er hinauf zum unendlichen Himmel. Er war bloß ein Staubkorn. Bedeutungslos.
Er brauchte die Gemeinschaft! Nur sie konnte ihn retten. Der Zweifel und die Weite dieser Nacht würden ihn sonst noch töten. Wenn er Mariotte beim Singen lauschte, dann wäre das Balsam für seine wunde Seele. Sie war sein Leuchtfeuer!
Er lehnte die Pforte nur an. Sollte sich doch noch ein Wanderer hierher verirren, dann wäre er zumindest nicht ausgesperrt. Ein letztes Mal blickte Guido durch das vergitterte Fenster. Es würde schon alles gut gehen!
Verstohlen schlich er zum Tempelturm. Die weiten Flügeltore des Turms waren unverschlossen. Kälte umfing ihn wie ein Mantel, als er eintrat. Schlanke Marmorsäulen strebten der Decke entgegen. Der ganze Tempel bestand nur aus einem einzigen, weiten Raum. Der Boden zeigte einen riesigen Stern mit vierzehn Zacken, der sich bis zu den Wänden hin erstreckte. Die Wände waren weiß getüncht und schmucklos. Nur die beiden Fensterreihen, die weit oben bei den Galerien die dicke Mauer des Turms durchbrachen, bildeten eine Ausnahme. Die bunten Bleiglasfenster zeigten die berühmtesten Märtyrer der Tjuredkirche. Den heiligen Romuald, dessen zerschmetterte Glieder Heiden auf ein Rad geflochten hatten, oder die heilige Claudine, die man in Aniscans mit dem Kopf nach unten an einen Brückenpfeiler gefesselt und ertränkt hatte. So viele hatten ihr Leben für ihren Glauben gegeben.
Guido schritt über das Herz des großen Sterns hinweg und eilte zu der Treppe, die verborgen hinter einer der Säulen lag. Einst hatte es hier nur einen klaffenden Spalt im Felsen gegeben, der hinab zur Höhle führte. Lächelnd erinnerte sich Guido an seine ersten Tage im Kloster. Er war nicht als Schreiber oder Miniaturenmaler hierher gekommen. Man hatte ihn geschickt, weil er ein guter Baumeister war. Er hatte mitgeholfen, die Treppe hinab ins Allerheiligste zu bauen, und er hatte der Höhle, in der Heiden über ungezählte Jahrhunderte ihre Götzen verehrt hatten, ein neues Gesicht gegeben. Die obszönen Bilder von nackten Weibern mit riesigen Brüsten hatte er unter schneeweißem Putz verschwinden lassen. Auf dem Opferstein stand nun ein kleiner Schrein aus Gold und Bleiglas, in dem drei Zehen des heiligen Guillaume verwahrt wurden. Ein Vermögen an Weihrauch hatte die bösen Geister der Heiden vertrieben und den alten Kultplatz zu einem Ort lichten Glaubens gemacht. Guido war stolz auf sein Werk, auch wenn er jetzt wie ein Dieb die Treppe hinabschlich.