Nun war das Mädchen an der Reihe. Was hatte er Luth getan, dass sich sein Lebensfaden mit dem der Jägerin kreuzte? Warum musste sie Kadlin heißen und auch noch ein blaues Kleid tragen? Ein Teil seiner Seele wünschte ihr den Sieg, der andere Teil fürchtete ihn.
Kadlin zog die Sehne bis zur Wange durch. Einen Herzschlag lang hielt sie inne, dann ließ sie den Pfeil davonschnellen. Und im selben Augenblick stürmte eine plötzliche Böe über die Wiese. Gespannte Stille lag über der Menge der Zuschauer. Alfadas konnte nicht recht erkennen, ob der Pfeil getroffen hatte. Die Scheiben standen jetzt hundertzwanzig Schritt entfernt. Man musste Habichtsaugen haben, um den innersten Kreis überhaupt noch sehen zu können, geschweige denn ihn zu treffen.
Vehleif trat zur Scheibe. Dann streckte er die Hand hoch und zeigte alle Finger. »Fünf Ringe!«, hallte seine Stimme über das weite Feld. »Das Auge ist um einen halben Finger breit verfehlt.«
»Danke, Luth!«, zischte Lambi. »Heute Abend vergieße ich ein Horn voll besten Mets für dich.« Alfadas empfand keine Freude. Es war ein Wunder, dass das Mädchen mit der verbundenen Hand so weit gekommen war. Vielleicht sollte er sie trotz allem an seine Tafel einladen. Nie war eine Frau zum Wettkampf der Jäger angetreten. Und außerdem war er der König. Wer schrieb ihm vor, mit wem er speiste? Verdient hätte sie es. Er dachte an Silwynas Rat. Nein! Es war besser, das Mädchen im blauen Kleid zu meiden. Diese falsche Kadlin würde ihm nur Kummer machen. Es war besser, die Toten ruhen zu lassen.
Fremde Heimat
Ollowain trat in helles Licht. Geblendet sah er sich um. Der Duft des Sommers lag in der Luft. Sanfte Hügel umgaben ihn. Ein gutes Stück entfernt erhob sich eine einsame Esche. Das Tor hinter ihnen hatte sich bereits geschlossen. Ganda hatte versucht, sie durch das Labyrinth der sich kreuzenden Albenpfade von der Bibliothek direkt ins Herzland zu bringen. Zuletzt hatte sie wirr von den Farben der Magie gesprochen und von einer heimtückischen Falle. Noch bevor sie das Tor erreichten, war sie ohnmächtig geworden.
Sanft bettete Ollowain die Lutin in das hohe Gras. Sie hatte viel Blut verloren. Sein weißes Gewand war ganz durchtränkt davon. Er schnallte seinen Dolch vom Gürtel und löste den notdürftigen Verband um ihren Armstumpf. Zwei zarte Knochen hatten sich aus dem geschundenen Fleisch geschoben. Noch immer rann Blut aus der grässlichen Wunde. Der Elf wand den Stoff zu einer Schlinge und legte sie um den Arm der Lutin. Dann schob er den Dolch durch die Schlinge und drehte ihn so lange, bis der Stoff tief in das Fleisch der Lutin schnitt. Erst als die Blutung gestillt war, band er den Dolch mit einem zweiten Stoffstreifen fest, damit er nicht verrutschen konnte. Es war nur eine armselige Aderpresse, aber fürs Erste musste das genügen.
Müde erhob sich der Schwertmeister und ging ein paar Schritte durch das hohe Gras. Einzelne goldene Weizenhalme sprenkelten die Wiese. Sie beugten sich unter schweren Ähren. Der Sommer schien weit fortgeschritten zu sein. Etwas musste auf ihrer Flucht geschehen sein. Ollowain kannte die Tücken der Albenpfade. Wer sie nicht gut kannte, konnte sich auf ihnen verlieren. Jahrhunderte konnten binnen Augenblicken verstreichen, wenn man einen Fehler machte! Emerelle hatte ihm zugesichert, dass Ganda eine Meisterin der Wege war. Aber sie war schwer verletzt gewesen. Der Schmerz und der Schock mussten sie halb wahnsinnig gemacht haben.
Verzweifelt blickte der Elf zum Himmel. Das unvergleichliche, klare Licht Albenmarks schien auf ihn hinab. Wenigstens hatte es sie nicht in die Welt der Menschen verschlagen! Vielleicht waren ja nur wenige Wochen vergangen? Sie durften nicht zu spät kommen! Emerelle hatte so sehr darauf gedrängt, dass sie sich beeilten.
Ollowain ließ den Blick von Horizont zu Horizont wandern. Zumindest hier hatten die Schatten nicht die Herrschaft angetreten. Sie kamen noch rechtzeitig. Ganz gewiss! Er musste herausfinden, wo sie waren. Und vor allem musste er eine Heilkundige auftreiben, die sich um Gandas Wunde kümmerte!
Entschlossen ging er zurück zur Lutin. Sie lag noch immer reglos. Auf ihrer Brust ruhte ein großes Buch. Ungläubig kniete Ollowain nieder und tastete nach dem schweren Ledereinband. Es war keine Illusion! Das Buch war Wirklichkeit! Er erkannte es sofort wieder. Es war jenes Buch, das auf dem niedrigen Tisch in Galawayns Zelt gelegen hatte. Was hatte dieses närrische Koboldweib nur getan! Sie wusste doch, welche Strafe darauf stand, ein Buch aus der Bibliothek von Iskendria zu stehlen. Und wie hatte sie es geschafft, dass er nichts davon bemerkte? Als er sie eben noch in den Armen gehalten hatte, hatte sie ganz sicher kein Buch bei sich gehabt!
Was sollte er tun? Sie musste versorgt werden. Aber er konnte sie nicht zu Emerelles Burg bringen. Wahrscheinlich wartete dort schon Meister Reilif oder ein anderer Hüter des Wissens, um das Buch zurückzufordern. Einen Augenblick war Ollowain versucht, das Buch einfach im hohen Gras liegen zu lassen. Er könnte behaupten, sie hätten es nicht mitgenommen. Und wenn er die Geschichte vom Mörder in der Bibliothek vortrug, dann gab es einen anderen Verdächtigen für den Diebstahl. Ob die Hüter des Wissens bemerkt hatten, dass der Minotaur nicht mehr der war, für den sie ihn hielten? Wenn nicht, dann war er sicher schon längst getürmt ... Oder er hatte sich eines neuen Körpers bemächtigt. Die vergangenen Wochen hatte der Mörder gewiss nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Der Schwertmeister blickte zweifelnd zum Himmel hinauf. Oder waren mehr als nur ein paar Wochen vergangen? Er musste eine Antwort darauf finden.
Drei Stunden trug er Ganda auf den Armen, bis er einer Blütenfee begegnete. Sie wies ihm den Weg nach Yaldemee, einer Stadt jenseits des Hügellandes. Sie lag etwa zwei Tagesmärsche von Emerelles Burg entfernt.
Mit seinem blutbefleckten Gewand und der bewusstlosen Lutin auf den Armen erregte Ollowain einiges Aufsehen. Yaldemee war keine Siedlung wie Iskendria oder die Städte, die überwiegend von Kobolden bewohnt wurden. Die Häuser standen hier nicht dicht an dicht. Sie verteilten sich auf einer großen Fläche. Es gab eine Reihe von Seidenhäusern, so nannte man die merkwürdigen Bauwerke, die sich in etlichen Baumkronen versteckten. Die Wände waren aus zähem, wasserabweisendem Papier gefertigt. Wie die Schalen einer Zwiebel lagen viele Wände hintereinander, und im Innersten verbarg sich meist eine große, drückend warme Kammer, in der die ganze Familie lebte. Der Schwertmeister bemerkte winzige, kaum daumenhohe Türen im Wurzelwerk alter Eichen. Dahinter verbargen sich die Heime von Mauslingen, einem besonders kleinwüchsigen Koboldvolk. So unscheinbar sie waren, hatten sie Yaldemee berühmt gemacht mit den Farben, die sie mischten, und die in ihrer Leuchtkraft und Schönheit in ganz Albenmark nicht ihresgleichen fanden. Auch suchte jeder, der ein Buch kunstvoll illustrieren lassen wollte, nach einem Kupferstecher aus Yaldemee.
Ollowain spürte, wie er beobachtet wurde. Hinter jedem Grashalm, in jedem Gebüsch, überall lauerten Augen. Ein Stück entfernt standen ein paar windschiefe Hütten an einem träge zwischen den Bäumen dahinsickernden Bach. Wuchernde Blumenkisten, in denen Buschwindröschen ein Feuerwerk der Farben abbrannten, lenkten vom schäbigen Grau der Holzwände ab. Ein Stück entfernt erhob sich ein Elfenpalast auf einer Hügelkrone. Schlanke Marmorsäulen trugen ein Dach aus warmroten Ziegeln. Der Bau war halb in den Hügel eingelassen. Weiße Seidenbahnen wiegten sich zwischen den Säulen im Wind und winkten dem Wanderer zu.
»Ich suche eine Heilerin«, rief Ollowain. Was war hier los? Früher wäre er längst von schnatternden Kobolden umringt gewesen. Nun schienen sie ihn zu meiden. Sah er denn so sehr zum Fürchten aus?
»Meine Gefährtin ist eine Lutin. Wollt ihr denn zusehen, wie sie stirbt?«
»Wer sagt uns, dass nicht du es warst, der sie so zugerichtet hat?«, rief es aus einer Baumkrone.
»Würde ich sie dann auf Armen tragen und meine Gewänder in ihr Blut tauchen? Warum sollte ich ihr ein Leid antun?«