Выбрать главу

Mit spitzen Fingern öffnete Emerelle das schmutzige Stoffbündel.

Ollowain betrachtete sie nachdenklich. Wäre sie nicht die Königin, er hätte geglaubt, dass sie versuchte, ihn zu verführen. Was war in den verlorenen Jahren geschehen? Was hatte Emerelle so sehr verändert?

Die Herrscherin versteifte sich. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Sie trat von der Brüstung zurück. Blass. Verstört.

»Herrin?«

Sie gebot ihm mit einer fahrigen Geste zu schweigen und starrte das Buch an. Es war totenstill. Selbst der Wind in den Bäumen war verstummt.

»Es war die linke Hand, die Ganda verloren hat, als du das Buch gestohlen hast?«, fragte die Königin nach langem Schweigen, hörbar um Fassung bemüht.

»Ja.«

»War sie Linkshänderin?«

»Das weiß ich nicht.« Ollowain fragte sich, was diese Fragen mit dem Buch zu tun hatten.

Die Königin trat wieder an die Brüstung und strich mit den Fingerspitzen über den messingbeschlagenen Ledereinband.

»Früher einmal hat man Dieben die Hand abgeschlagen, mit der sie gestohlen hatten. Linkshänder verloren die Linke. So war das Recht ... Ich habe das geändert, wie du weißt. Eine Blutgerichtsbarkeit gibt es nur noch sehr selten.«

Ollowain wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Auch wenn Emerelle im Volk als eine vorbildliche Herrscherin galt, hatte sie ihn immer wieder durch ihre grausamen Urteile überrascht. Sie waren selten und mochten begründet sein, aber sie passten so gar nicht zu dem Bild der zarten, einfühlsamen Herrscherin, das sie bei den meisten erweckte. Wenn sie in die Enge getrieben war, dann wurde sie sehr gefährlich. Beklommen dachte er an die Nacht, in der sie den Albenpfad durchtrennt hatte. Allein durch diese Tat hatte die Königin mehr Blut an den Händen als jeder Krieger, dem er je begegnet war.

»Du kennst Meliander, den Fürsten von Arkadien?«, fragte Emerelle unvermittelt. »Er hat dieses Buch geschrieben. Es gibt nur dieses eine Exemplar. Es ist sehr wertvoll, aber ... Es hat ihm den Verstand verwirrt. Er hat sich selbst gerichtet. In einem marmornen Bad, gefüllt mit schwarzer Tinte, hat er sich die Adern geöffnet und seinem Leibdiener die letzten Seiten diktiert, während er langsam verblutete. Der Leibdiener war ein Lutin. Er hat Meliander bestohlen, nachdem sein Herr verstorben war. Das alles liegt sehr lange zurück. Damals waren noch Drachen die Herrscher Albenmarks, und ich war eine fahrende Ritterin in ihren Diensten. Ich war Anklägerin, Richterin und Henkerin für sie. Man hatte mich geschickt, um den Lutin zu finden und zu richten. Er war Linkshänder ...«

Ollowains Mund war staubtrocken geworden. Er musste an den Falrach-Spieler aus der Bibliothek denken. Den geheimnisvollen Mörder, der jeden Zug schon im Voraus zu kennen schien. Hatte er das arrangiert? Hatte er am Ende gewollt, dass Emerelle das Buch bekam? Oder war es nur ein Zufall? Eine Laune des Schicksals?

»Das Buch war verschwunden, als ich ihn fand. Ich hätte niemals gedacht, dass er es nach Iskendria brachte. Ich war immer überzeugt, dass er sein Diebesgut verkauft hatte. An irgendeinen reichen Sammler ... Und ich dachte, es wäre seine Diebesehre, die ihn schweigen ließ. Aber Iskendria ... Die Hüter des Wissens zahlen nicht für Bücher. Was hat er davon gehabt, es dorthin zu bringen?« Wie als Antwort erklang ein scharfes, metallisches Klacken. Die Schließen des Folianten waren aufgesprungen.

»Hast du in dem Buch gelesen?« Ollowains Gedanken überschlugen sich. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass Ganda in Gefahr war, wenn Emerelle davon erfuhr, dass sie es war, die in dem Buch gelesen hatte.

»Nur sehr wenig. Meliander schrieb sehr kenntnisreich über die Yingiz. Ich dachte ...«

»Hat auch die Lutin darin gelesen?«

»Nein. Für sie öffnete sich das Buch nicht. Es schien sie abzulehnen.«

Emerelle sah ihn so durchdringend an, als könne sie in seinen Gedanken lesen. Sie schloss das Buch und verriegelte die Bronzebänder. »Komm her und öffne es.«

»Hältst du mich für einen Lügner?«

»Ich halte dich für sehr loyal, Ollowain«, entgegnete sie kühl.

»Aber im Augenblick bin ich mir nicht sicher, wem deine Loyalität gilt. Mir oder Ganda.«

»Dein Zweifel verletzt mich zutiefst.« Er sagte das nur, um hinter den Worten seine wahren Gefühle zu verbergen. Er hatte das Buch nie geöffnet. Und er hatte Angst um Ganda. War er so leicht zu durchschauen?

»Komm!«, forderte Emerelle.

Er trat an ihre Seite. Der Duft von Aprikosen und jener seltsam sinnliche andere Geruch nahmen ihn gefangen. Sie umschlossen ihn, als er neben der Königin stand. Sie war es, die diesen Duft verströmte. Einen Herzschlag lang hatte er den absurden Gedanken, dass sie ihn sich einverleiben wollte. Verschlingen, in einem Stück, so wie eine Schlange eine Maus verschlang.

Ollowain legte die Hand auf das Buch und schloss die Augen. Das Leder fühlte sich weich und warm an. Der Schwertmeister wartete auf das, was geschehen musste, wenn seine Lüge entlarvt wurde. Auf den Ruf nach den Wachen. Die Königin zu belügen, war Hochverrat. Und dafür gab es in Kriegszeiten nur eine Strafe.

All das würde er ertragen können. Nur Emerelles Blick, dem würde er sich nicht stellen. Der Enttäuschung darin. Sie hatte ihn zu dem gemacht, der er war. Dem Schwertmeister der Albenmark, ihrem Heerführer, dem Mann, dem sie vertraute wie keinem anderen. Und nun stand er vor ihr und belog sie, um eine diebische Lutin zu schützen. Sein Herz sagte ihm, dass er das Richtige tat. Aber wie hatte es so weit kommen können?

Klackend öffneten sich die Bronzebänder. Fast hätte er sich noch im letzten Augenblick verraten, indem er erleichtert aufatmete.

Emerelle lächelte, doch es war kein Lächeln, das von Herzen kam. »Gut«, sagte sie nur und verschloss das Buch wieder. Wie hatte er glauben können, dass er sie täuschen könnte! Sie wusste alles!

»Es wundert mich, dass noch keiner der Hüter des Wissens hier ist, um deinen Kopf zu fordern, Ollowain. Sie werden kommen. Ich kenne sie.«

»Und du wirst mich ausliefern.«

Ihre Antwort war eine schallende Ohrfeige. »Du machst es dir sehr leicht, Ollowain. Ich bin mir sicher, die Lutin war die Diebin, und du stellst dich vor sie, weil du glaubst, dass dir schon nichts geschehen wird. Du bist ja der Schwertmeister! Du bist unberührbar .... Eine lebende Legende! Gerechtigkeit kann es nur dort geben, wo Willkür keinen Platz hat. Auf dieser Gewissheit begründe ich meine Herrschaft. Niemand steht über dem Gesetz. Nicht einmal ich, und deshalb kann ich dich nicht retten. Wenn sie kommen und deinen Kopf fordern — und das werden sie, Ollowain, verlass dich darauf -, dann werde ich dieser Forderung nachgeben müssen, denn sie sind im Recht. Du hast doch gewusst, was geschehen würde. Warum hast du das getan? Warum habt ihr das getan?«

»Der Mörder wollte dieses Buch. Es schien wichtig ...« Ollowain wusste nicht, was er noch sagen sollte. Die Lutin hatte entschieden, das Buch zu stehlen, ohne ihn ins Vertrauen zu ziehen. Sie musste schwer wiegende Gründe gehabt haben. Sie hätte das nicht leichtfertig getan.

»Der Mörder war der Falrach-Spieler, sagtest du. Und du hast lange mit ihm gesprochen. Lange genug, dass er dich durchschauen konnte. Hast du in Erwägung gezogen, dass er vielleicht wollte, dass ihr beide mit dem Buch entkommt? Vielleicht war es seine Absicht, mich in diese Lage zu bringen. Dass du dich schützend vor die Lutin stellen würdest, war leicht vorherzusehen. Und nun muss ich über dich richten.«

Nie zuvor hatte er Emerelle so aufgewühlt gesehen.

»Du hast Recht, Herrin. Scheinbar bin ich in eine Falle gelaufen.« Er fühlte sich elend. Es gab keinen Ausweg. »Ich werde mich selbst richten, wenn du es wünschst. Das erspart dir die Peinlichkeit, über mich zu Gericht sitzen zu müssen.«

»Wie kannst du glauben, dass ich so etwas wünsche?«, fuhr sie ihn an. »Du musst fort von hier. Die Hüter des Wissens werden dich zuallererst hier suchen. Noch heute Nacht wirst du nach Feylanviek reisen, wo sich das Heer sammelt, das den Trollen entgegentreten wird. Du wirst es befehligen.« Sie lächelte zynisch. »In gewisser Weise ist auch das ein Todesurteil. Deine Truppen sind hoffnungslos in der Unterzahl. Aber wenn du kommst, wird das gut für ihre Moral sein. Und die Trolle fürchten dich seit Phylangan, obwohl sie dort gesiegt haben. In Feylanviek, inmitten deines Heeres, wird es unmöglich sein, dich verhaften zu lassen. Es ist der einzige Ort, an dem du in Sicherheit bist. Zumindest vorübergehend.«