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Sebastien erhob sich aus seinem Versteck.

Die Selkie strich sich fröstelnd über die Arme, noch bevor sie ihn bemerkte.

Lautlos glitt er zwischen den Felsen heran.

Als spüre sie seinen Blick, wandte sich die Selkie plötzlich um. Sie musterte ihn, zeigte aber keinerlei Anzeichen von Angst. Sie sprach ihn an. Ihre Stimme war erstaunlich tief für eine Frau. Sebastien verstand ihre Worte nicht.

Neugierig streckte die Selkie eine Hand nach ihm aus. Ihre Finger glitten durch seinen Leib.

»Jetzt!«, hetzte die Stimme des Schattens. »Ich wünschte, wir hätten richtige Fänge und könnten diesem einfältigen Weib die Kehle herausreißen.«

Sebastien wollte davon nichts hören. Er wollte einfach nur dastehen und in diesen wunderbaren Augen ertrinken. Etwas, das so schön war, konnte doch nicht böse sein! Die Selkie lächelte. Sie rieb sich die Hände. Man sah ihr an, dass sie fror. Ihre Brustwarzen hatten sich aufgerichtet. Sie duftete auf wunderbare Weise nach der See. Schalkhaft zwinkernd sagte sie wieder etwas. Der Abt wünschte, er könnte sie verstehen.

»Erinnerst du dich noch an die Worte von Jules? Sie werden dich prüfen, die Albenkinder. Ihre Schönheit wird deinen Glauben erschüttern. Doch hinter dieser Maske verbergen sich verrottete Herzen. Sie sind die Mörder des heiligen Guillaume und all der anderen Märtyrer. Lass dich nicht blenden!«

Der verfluchte Schatten konnte in seinen Erinnerungen lesen!

»Bist du ein Verräter an Tjured, Sebastien? Erinnere dich, du bist nicht allein. Du, ich, all deine Brüder und Schwestern. Wir sind vereint. Du bist unser Führer im Geist. Du entscheidest, was dieser Leib tut, der ein Schwert in Diensten Tjureds sein sollte. Weiche vorn Weg ab, und du machst auch uns zu Verrätern!« Sebastien wollte das nicht hören! Es war die Wahrheit. Er wusste es. Aber diese Augen ... Die Selkie zeigte keinerlei Furcht vor ihm. Sie beschwerte sich lediglich über die Kälte. Sie war unschuldig. Wenn er sie tötete, dann war es, als ermorde er ein Kind.

»Hast du ihre feinen, nadelspitzen Zähne gesehen? Sieh hin! Damit zerreißt sie Fische, wie du mit deinen Fingern eine Blume zerpflückst. Sie ist nicht das, was du in ihr siehst. Sie ist eine Räuberin im Garten der See. Ihre Augen und ihr verführerischer Leib sind Waffen, Sebastien. Sei nicht töricht! Du warst ein Krieger, bevor du der Stimme Tjureds gefolgt bist. Erinnere dich! Nicht jeder Feind trägt Schwert und Rüstung. Verschenke nicht leichtfertig dein Vertrauen!« Leichtfertig wäre es, der Stimme des Schattens zu vertrauen, dachte der Abt bitter. Doch er konnte sich der Wahrheit seiner Worte nicht völlig verschließen. Er hatte eine Pflicht gegenüber seinen Brüdern und Schwestern. Sie hatten sich ihm anvertraut.

Die lange Schnauze stieß in die Brust der Selkie. Ihre Augen weiteten sich. Erst vor Überraschung, dann war es Schrecken. Die Kälte seiner Berührung färbte ihre Lippen blau. Ein langer Seufzer entstieg ihrer Kehle. Ihre wunderschönen Augen schienen noch heller, noch lebendiger zu strahlen, während er ihr das Licht der Lebenskraft aus der Brust riss.

Ihre Haut verwelkte. Das Fleisch schmolz von ihren Knochen. Die sinnlichen Lippen schrumpften zusammen und entblößten ihre muschelweißen, ebenmäßigen Zähne. Der Schatten hatte gelogen!

Zuletzt verloschen ihre Augen. Sie verloren sogar ihre wunderbare grüne Farbe. Wie zwei kalte harte Kiesel lagen sie in den Augenhöhlen, die plötzlich zu groß zu sein schienen.

Sebastien spürte eine beängstigende Kraft durch seinen Leib aus kaltem Licht pulsieren. Er fühlte sich so erhaben, als könne er Blitze vom Himmel pflücken. Er ... Nein! Es war nicht er, der so fühlte! Das war der Schatten! Das, was von ihm noch blieb, von einem Mann mit ehernen Grundsätzen, einem Mann, der, obwohl er Krieger gewesen war, sich dennoch ein Gewissen erhalten hatte, das war nur noch das elende Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangene zu haben. Konnte Gott ihn betrogen haben? Wo hatte er gefehlt, dass ihm ein solches Schicksal aufgebürdet worden war?

Die Bestie in ihm hob das Haupt. Das Wasser der Grotte teilte sich. Ein kleiner, schwarzer Kopf eilte dem Felsufer entgegen. Ein Kopf mit leuchtenden Augen! Noch eine Selkie! Vom Wasser aus konnte sie den zusammengeschrumpften Kadaver ihrer Gefährtin nicht sehen. Offensichtlich war sie genauso vertrauensselig wie die Tote. Der Anblick des Hundes aus fahlem Licht schreckte sie nicht. Sie kannte ihn nicht, hatte nie von einem Feind in solcher Gestalt gehört. Und sie war eines der Kinder Eleborns. Nichts in den Meeren der Welt würde ihr etwas zuleide tun. Furcht war ihr unbekannt.

Sie robbte aus dem Wasser den Felsen hinauf. Ihre Haut zerteilte sich.

Der Schatten hatte den Körper des Shi-Handan völlig unter seine Kontrolle gebracht. Er ging zu der Selkie, als sie aus der Seehundhaut stieg. Auch sie hatte meergrüne Augen wie ihre Schwester. Ihr Haar jedoch hatte die Farbe von reifem Korn.

Die junge Maid blickte lächelnd zu ihnen auf, während sie die Tierhaut von den zierlichen Füßen streifte. Sie fragte etwas. In dem Augenblick schossen die Kiefer der Bestie vor. Sebastien war selbst völlig überrascht, als er fühlte, wie sich Fänge in weiches Fleisch gruben. Sie hatten feste Gestalt angenommen, zumindest teilweise! Warmes Blut rann durch ihre Kehle. Die Selkie schrie auf.

Mit einem lässigen Schütteln riss der Shi-Handan ihr ein großes Stück Fleisch aus der Kehle. Sie stürzte zurück auf den schwarzen Felsen. Blut spritzte im Rhythmus ihres langsam ersterbenden Herzens aus der tödlichen Wunde.

Sebastien wollte die Augen schließen. Doch nicht einmal darüber hatte er noch Gewalt. Der Schatten beherrschte ihren gemeinsamen Körper. Und Sebastien hatte Teil an dem schaurigen Mahl, ob er wollte oder nicht.

Der Shi-Handan riss Fleischbrocken aus den Schenkeln der Sterbenden. Zuletzt beraubte er sie des verblassenden Lebensfunkens. Dann zog sich der Schatten zurück. Er überließ dem Abt wieder die Kontrolle über ihren gemeinsamen Leib und die Sorge um den Aufruhr der Brüder und Schwestern, die mit ihm in dieser gotteslästerlichen Bestie gefangen waren.

Die Höhle stank nach frisch vergossenem Blut.

Ihr gemeinsamer Leib hatte seine Körperlichkeit wieder verloren. Sebastien flüchtete ins schwarze Wasser. Er wollte hinab in die dunkelsten Tiefen der See, wo er für immer ihre Schande vor dem Blick Gottes verstecken konnte.

Ein neuer Wind

Ollowain breitete die Karten aus und beschwerte die Kanten mit einigen Figuren vom Falrach-Tisch, der dicht neben dem Feldbett stand. Er hatte Elodrins Zelt übernommen, der vor ihm das Kommando geführt hatte. Der weißhaarige Fürst von Alvemer stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen am Kartentisch. Er war ein harter Mann. Seine Miene verriet nichts über seine Stimmung. Er hatte sich die Elfe Yilvina zur Befehlshaberin seiner Leibwache gewählt. Yilvina, die Ollowain einst bei der Flucht aus dem brennenden Vahan Calyd begleitet hatte und die selbst im Fjordland noch der Schild der schwer verletzten Königin gewesen war. Sie trug das blonde Haar kurz geschnitten. Über dem Kettenhemd aus Silberstahl kreuzten sich die Gurte der beiden Schwerter, die sie auf dem Rücken trug. Vor langer Zeit einmal war sie Ollowains Schülerin gewesen. Niemand konnte es ihr im Kampf mit zwei Schwertern gleichtun. Sie war eine Meisterin des Todes.

Zu Elodrins Linker stand Nardinel. Die begabtesten Dichter hatten ihre Schönheit besungen. Fürsten hatten um ihre Hand gefreit, und doch hatte sie sich niemals gebunden. Nardinel, die Unberührte. Nardinel, die Heilerin. Nardinel, der Trost der Sterbenden. Die Namen, die man ihr gegeben hatte, waren ohne Zahl. Sie war von zarter, durchscheinender Schönheit und wirkte inmitten des Zeltes voller Krieger fehl am Platz. Begehrliche Blicke streiften sie. Sie zu sehen, hieß der Sehnsucht zu begegnen. Ihr Haar war die Nacht, ihr sanftes Antlitz das Morgenlicht. Ollowain konnte nicht begreifen, was diese beiden Frauen mit Elodrin verband. Hatte ein Befehl sie an seine Seite geführt? Und für wen würden sie sich entscheiden, wenn Elodrin Schwierigkeiten machte? Der Schwertmeister wusste, dass er es nicht leicht mit dem Seefürsten haben würde. Elodrin würde sich hier, inmitten der Befehlshaber ihres Heeres, keine Blöße geben. Aber in seinem Herzen würde er Ollowain nicht vergeben, das Kommando übernommen zu haben.