Alfadas blickte zum Ende des Tals. Nur ein paar Meilen noch. Die Felswände ragten dort fast senkrecht auf. Es waren natürliche Mauern, höher als ein Mensch sie jemals hätte bauen können. Einige breite Felsnasen ragten gleich halbrunden Türmen aus der Steilwand. Schnee lag auf schmalen Simsen und in Spalten. Es gab keinen Weg dort hinauf. Die Snaiwamark endete mit diesem Tal. Jenseits der Berge lag die Hochebene von Carandamon. Die Elfen konnten diese Festung nicht aufgeben. Im Osten war sie der einzige Zugang zu der Hochebene. Ging die Festung verloren, dann lag die Hochebene fast schutzlos da. Die Felsburgen von Carandamon waren viel kleiner und nicht darauf ausgelegt, gegen einen entschlossenen Angreifer verteidigt zu werden.
Der Herzog dachte zurück an die Abendstunden in Honnigsvald, als Lysilla von der Festung erzählt hatte. Von den himmelhohen Hallen, dem Labyrinth aus Gängen, den beiden großen Häfen, die es gab, und von all den anderen Wundern.
Alfadas stieg den Hügel hinab und gesellte sich zu den Schäfern, die ihren Zug begleiteten. Die kleine Herde war arg zusammengeschmolzen. Es waren weniger als hundert Tiere geblieben. Sie waren abgemagert und erschöpft. Der Herzog scherzte mit den Männern und ging nach einer Weile zu Egil.
»Nun, Ralf«, sprach er ihn mit seinem falschen Namen an.
»Die Arbeit der Schäfer endet bald. Was möchtest du als Nächstes tun?«
Horsas Sohn sah sich sorgsam um. Erst als er sich vergewissert hatte, dass niemand in Hörweite war, antwortete er. »Ich bin jahrelang im Schwertkampf ausgebildet worden. Bitte nimm mich unter die Krieger auf.«
»Die anderen Schäfer reden gut von dir. Du hast es geschafft, dir ihren Respekt zu verdienen. Sie ahnen, dass du von Stand bist. Du kannst deine Herkunft nicht leugnen. Die Art, wie du redest, dein Wissen, selbst wie du dich bewegst, all dies verrät dich. Aber sie haben dein Geheimnis gehütet. Willst du diese Männer verlassen?«
Egil seufzte. »Sollte nicht jeder das tun, was er am besten kann?«
»Und du bist dir sicher, dass du schon herausgefunden hast, was du am besten kannst? Mich plagen selbst heute Zweifel, ob ich den richtigen Weg in meinem Leben eingeschlagen habe.«
Der Königssohn lachte. »Das ist nicht dein Ernst, Alfadas. Du bist ein unvergleichlicher Schwertkämpfer. Kein Mann im Fjordland kann es mit dir aufnehmen. Und auch als Feldherr bist du berühmt. Wie kannst du da zweifeln?«
Der Herzog lächelte. »Hier gilt das nichts. Unter Elfen bin ich als Schwertkämpfer allenfalls Mittelmaß. Aber vielleicht wäre ich ein unvergleichlicher Fischer oder Jäger geworden. Was ich dir sagen will, Egil, ist, dass du dir Zeit lassen sollst. Wie du dich als Krieger schlägst, weißt du schon. Aber kannst du ein Freund sein? Die anderen Schäfer wissen nicht, wer du wirklich bist. Genieße diese Freiheit! Wenn du eines Tages auf dem Thron deines Vaters sitzt, dann wirst du dir nie mehr sicher sein, wer ein Freund ist und wer ein Schmeichler, der allein auf seinen Vorteil bedacht ist. Und du tust gut daran, misstrauisch zu sein, denn Könige haben sehr wenige Freunde.«
Egil blickte zu den anderen Schäfern. Es waren nur fünf Männer. Hartgesottene Burschen. Sonne und Wind hatten ihre Gesichter dunkel und kantig gemacht. »Was werden sie tun, wenn wir in der Elfenburg sind?«
»Ich werde sie fragen. Aber ich habe in der Tat schon Pläne mit ihnen. Es gibt eine Waffe, deren Gebrauch leicht zu erlernen ist und die nicht weniger tödlich als ein Schwert ist. Ich möchte sie auf der Felsenburg im Gebrauch dieser Waffe unterweisen lassen. Willst du bei ihnen bleiben?«
Horsas Sohn blickte verlegen auf seine schneeverkrusteten Stiefel. »Ich weiß es nicht.«
Der Herzog klopfte ihm auf die Schultern. »Hör nicht auf deinen Verstand. Hör auf dein Herz. Du hast mich angenehm überrascht in den letzten Tagen. Ich hätte darauf gewettet, dass ich mit dir nichts als Ärger haben würde. Ich vertraue dir, du wirst die richtige Wahl treffen.«
Alfadas ließ sich weiter zum Ende der Kolonne zurückfallen. Auf den Hundeschlitten lagen die Verwundeten der Schlacht. Dalla war bei ihnen. Allein der Anblick einer Menschenfrau schien bei den meisten der Männer Wunder zu bewirken. Auch Veleif verbrachte viel Zeit mit den Verletzten. Er ließ sie von ihrem Leben erzählen. Der Skalde hatte den Ehrgeiz entwickelt, jeden Mann und dessen Geschichte zu kennen.
Veleif ging gestützt auf einen Stab aus hellem Holz. Er trug ein feines Leinenhemd, das er wohl von einem Elfen bekommen hatte. Sein langes graues Haar hing offen herab, und der Winterwind spielte mit den Strähnen. Auf dem Rücken, sicher in Leder gehüllt, trug er seine Laute. Wie bei allen verbarg auch bei ihm ein breites Lederband die Augen. Er wirkte mürrisch.
»Nun, Vater der Lieder, ist heute kein guter Tag?«, scherzte der Herzog.
Der Barde deutete voraus auf die steile Felswand. »Wie sollte ich gute Laune haben? Ich habe mit dieser Schneefrau gesprochen, Lysilla. Sie hat mir von den prächtigen Elfenburgen weiter im Süden erzählt und von dem Schloss Emerelles mit seinem Garten voller verzauberter Bäume. Und wohin verschlägt es mich? Zu einem Felsennest, das den Liebreiz eines verlassenen Adlerhorsts hat! Was soll ich über den steinernen Garten dichten? Hier erinnert gar nichts an die prächtigen Elfenschlösser unserer Märchen.«
»Sei mit deiner Meinung nicht so schnell bei der Hand. Warte ab! Ich bin sicher, die Elfen werden dich noch überraschen.«
Veleif rückte dichter an Alfadas heran. »Etwas ist hier«, flüsterte er. »Die meisten Männer sind nicht feinsinnig genug, um es zu spüren. Hast du es bemerkt?«
Alfadas wollte nicht, dass diese Geschichte weitere Kreise zog. Er zuckte mit den Schultern. »Die Elfen sagen, die Luft sei hier so dünn, dass uns der Verstand Dinge vorgaukelt, die nicht wirklich sind. Ich bin geneigt, ihnen zu glauben. Sie kennen ihr Land.«
Der Skalde strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Leuten Dinge vorzugaukeln, ist mein tägliches Geschäft. Dünne Luft...« Er lachte. »Ich weiß, was ich weiß!«
Plötzlich hallte das Tal wider vom feierlichen Klang goldener Luren, großer Hörner, deren Münder wie Drachen oder Pferdeköpfe gestaltet waren. Im Berghang vor ihnen klaffte ein Spalt, der weiter und weiter wuchs, als öffne ein riesiges Ungeheuer seinen Schlund. Daraus strahlte ein blausilbernes Licht, das der Helligkeit der Sonne gleichkam, ohne die Augen zu blenden.
Mit knirschenden Kufen hielt ein Eissegler neben ihnen. Ollowain winkte Alfadas zu. »Du solltest an der Spitze des Zuges nach Phylangan einziehen, so wie es sich für einen Feldherrn gehört.«
»Magst du mitkommen, Dichter?«
Endlich strahlte ein Lächeln auf Veleifs Gesicht. »Vielleicht hast du, was die Überraschungen angeht, doch Recht.«
Die beiden stiegen auf die stählerne Kufe des Eisseglers, und Ollowain zog sie zu sich hoch. Das seltsame Gefährt sah aus wie ein Schlitten, auf den man einen schlanken Mast gesetzt hatte. Man steuerte es mit einem Hebel, der vorn am Bug saß. Er erlaubte, die Stellung der Kufen zu verändern. So konnte man bremsen oder weite Kurven fahren. Der Segler war kaum fünf Schritt lang. Es gab keine Seitenwände, an denen man sich hätte festhalten können. Breite Lederlaschen an Deck gaben den Füßen Halt. Zusätzlich musste man sich an Taue klammern. Eine Eisseglerfahrt war wie ein Ritt auf einem fliegenden Pfeil.
»Halt dich gut fest!«, mahnte Alfadas den Skalden.
Der Herzog schob seine Füße in ein Paar Lederschlaufen und griff mit beiden Händen nach einem Haltetau. Das große, dreieckige Segel schwenkte in den Wind, und mit einem Ruck setzte sich das Gefährt in Bewegung. Wie im Fluge schoss es an der Kolonne der Flüchtlinge entlang. Der Fahrtwind brannte ihnen auf den Gesichtern, während sie dem blausilbernen Licht entgegeneilten. Alfadas schwankte zwischen Begeisterung und Angst. Schnell wie ein Vogel zu sein, war wunderbar. Aber wenn er durch eine Unachtsamkeit über Bord ginge ... Auf dem harten Eis würde er sich alle Knochen brechen!