Auf den verschiedenen Ebenen der Türme in den Felsvorsprüngen standen sogar Katapulte bereit, die hinab auf das Eis zielten. Ein einziger Tunnel verband die Stellungen miteinander. Shahondin entdeckte Zugvorrichtungen, die es erlaubten, Abschnitte des Tunnels mit dicken Granitplatten zu blockieren. An anderer Stelle waren Vorräte aus Bruchstein und Steinmehl angelegt. Rührte man das Steinmehl mit Wasser an und vermengte es dann mit Bruchgestein, entstand ein leicht zu verarbeitendes Baumaterial, das schnell aushärtete. Über Nacht konnte man damit Tunnelabschnitte verfüllen. Sich dort hindurchzuarbeiten, wäre nicht weniger mühsam, als sich gleich einen Weg durch den gewachsenen Fels zu schlagen.
Der Elfenfürst glitt in seiner geisterhaften Tiergestalt aus dem Felsen heraus und betrachtete eingehend die Steilwand auf der anderen Seite des Tals. Im letzten Abendlicht entdeckte er regelmäßige Schatten im Gestein. Auch diese Seite war also mit Verteidigungsanlagen versehen. Wenn die Trolle den Gletscher hinaufstürmten, würden sie schon lange, bevor sie das Tor zum Schneehafen erreichten, in ein mörderisches Kreuzfeuer geraten. Skanga sollte das wissen! Ein unbedachter Sturmangriff würde hunderte, ja vielleicht sogar tausende Tote fordern. Selbst der Verbindungstunnel, der dicht unter der Felsoberfläche verlief, wies etliche Schießscharten auf. Auch hier konnten Bogenschützen postiert werden.
Shahondin ließ sich wieder in den Fels gleiten. Er wich einer verzweigten Erzader aus und mied die Höhlen und den Tunnel. Nur ab und zu wagte er einen Blick aus dem Fels hinaus, stets darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden.
Vor allem Kobolde bemannten die Verteidigungsstellungen. Dass es in einer Elfenstadt viel mehr Kobolde als Elfen gab, war nicht ungewöhnlich. Doch je länger Shahondin die Verteidigungsanlagen ausspähte, desto mehr wunderte er sich. In Phylangan schien dieses Missverhältnis besonders ausgeprägt zu sein. Zuletzt erklärte er es sich damit, dass vermutlich ein Großteil der Elfen unten im Schneehafen versammelt war, um den Menschen einen eindrucksvollen Empfang zu bereiten.
Der Elfenfürst fand eine verlassene Vorratskammer, in der nur noch einige Pfeilbündel lagen. Er empfand es als angenehmer, sich in einer Höhle aufzuhalten. Nüchtern betrachtet, war es egal, wo er war, da er keinen stofflichen Körper hatte. Dennoch fühlte er sich innerhalb der Felswände unwohl. Es würde wohl lange dauern, bis er sich an seinen Geisterleib gewöhnt hätte. Und er hatte keinesfalls die Absicht, ihn lange genug zu behalten, um sich damit abzufinden! Ob Emerelle wohl irgendwo innerhalb der Festung war? Die Normirga waren ihr Volk. Wohin sonst hätte sie fliehen sollen? Und Ollowain war hier! Gleichzeitig war Phylangan die stärkste Festung des Nordens. Nirgendwo sonst wäre sie so sicher wie hier. Andererseits war dies auch der Platz, an dem man zuallererst nach ihr suchen würde.
Noch drängender war die Antwort auf eine andere Frage. Shahondin war sich sicher, dass ihm ein Verrat an den Normirga keine schlaflosen Nächte bereiten würde. Doch war es klug, die Trolle zu früh darüber zu unterrichten, was sie hier erwartete? Wenn tausende ihrer Krieger im Kreuzfeuer auf dem Gletscher verbluteten, wäre ihr Heer anschließend zu schwach, um noch weiteren Schaden in Albenmark anrichten zu können. Sollte allerdings Skanga durch einen dummen Zufall während der Kämpfe sterben, dann wäre er auf immer in diesem Geisterleib gefangen, überlegte Shahondin. Und wie würde die Schamanin sich verhalten, wenn sie durchschaute, dass er das Massaker hatte kommen sehen, ohne die Trolle zu warnen? Ihm blieb wohl keine Wahl, als nach Skanga zu suchen.
Die Verteidigungsanlagen in den Bergen entlang des Gletschers hatten einen entscheidenden Schwachpunkt. Dass alle Vorratskammern, Truppenquartiere und Kampfstellungen wie Perlen auf einer Schnur an einem einzigen Tunnel aufgereiht lagen, konnte zur tödlichen Falle werden. Schaffte man es, den Anfang des Tunnels zu blockieren, dann saßen all diese Truppen fest. Man musste nur einen anderen Weg in den Steinernen Garten finden als jenen über den Gletscher.
Shahondin glitt wieder in die Felswand. Er folgte dem Tunnel, der langsam anstieg. Obwohl er ein wenig Abstand hielt, fühlte er deutlich die Störung im Fels, den Nachhall der magischen Kräfte, die von den Normirga eingesetzt worden waren, um diesen Teil der Festung zu erschaffen. Endlich erreichte er eine kleine Kammer, von der aus eine Tür hinaus auf einen Aussichtspunkt führte. Hier endete der Tunnel, mehr als eine Meile entfernt vom Tor zum Schneehafen.
Vorsichtig schob Shahondin sich aus der Wand. Die Wachstube war nur von einer einzelnen Öllampe beleuchtet. In einer weiten Nische befand sich ein wuchtiges Katapult. Neben dem Geschütz standen einige Schemel. So würden auch Kobolde die Winde und den Sperrhebel bedienen können, um das Geschütz zu spannen und abzufeuern. Von seinen Abmessungen her war es für den Einsatz durch Elfen ausgelegt.
Neben dem Geschütz stand eine Reihe von Tonkrügen, die zum Teil mit Leinenstreifen umwickelt waren. Die Münder der Gefäße hatte man sorgfältig verschlossen und mit Wachssiegeln versehen. Neugierig schnupperte der Fürst daran. Ein scharfer Geruch stach ihm in die Nase. Brandgeschosse!
Ein Schnaufen, gefolgt von einem leisen Gurgeln ließ Shahondin herumfahren. An der gegenüberliegenden Wand standen fünf Etagenbetten, die mit dicken, braunen Wolldecken verhängt waren. Der muffige Geruch von zu lange getragenen Kleidern hing in der Luft. Dazu kam ein hauchzarter Duft von Bartwichse. Ein großer Tisch mit Stühlen und zwei langen Kisten, die auch als Sitzbänke dienten, füllte den hinteren Teil der Kammer. Neugierig streckte Shahondin seinen Kopf durch einen der Bettvorhänge. Ein Kobold lag dort zusammengerollt in voller Bekleidung und schnarchte. Der Elf ließ der Bestie in sich freien Lauf. Er fühlte sich wie ein Außenstehender, als sie das Lebenslicht des Kobolds fraß. Die kleine Gestalt schrumpfte zusammen. Seine Haut spannte sich straff über dem Schädel. Er starb im Schlaf.
Die Bestie glitt hinauf in das obere Bett. Der Kobold hier saß aufrecht, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Er hatte eine Decke um sich geschlungen und sich einen breiten Stoffstreifen ins Gesicht gebunden. Einen Herzschlag lang dachte Shahondin, sein Opfer sei wach, ja es habe ihn aus unerfindlichen Gründen sogar erwartet. Er beobachtete, wie sich die Brust des Kobolds regelmäßig hob und senkte. Der kleine Kerl rührte sich nicht. Auch er schlief. Der Geruch nach Bartwichse war hier viel intensiver. Jetzt begriff der Elf, was er sah. Der Kobold hatte seine Bartenden hochgezwirbelt und sich ein Stützband umgebunden, um den kunstvoll gestalteten Schnauzer im Schlaf nicht aus der Form zu bringen. Vielleicht wollte er sich nach dem Wachdienst mit einem Weibsbild treffen und mit dem stolzen Schnauzbart Eindruck machen. Vielleicht wäre es amüsant, ihm das Leben zu schenken? Wie würde er sich wohl verhalten, wenn er als einziger Überlebender zwischen all seinen toten Kameraden erwachte? Wäre er vor Angst wie gelähmt? Würde er laut schreiend davonlaufen? Und würde er sich den Rest seines Lebens fragen, warum er überlebt hatte? Darauf, dass sein hochgebundener Schnauzbart ihn gerettet hatte, würde er gewiss niemals kommen.
Die Bestie in Shahondin rebellierte. Sie hatte keinen Sinn für solch boshafte Scherze. Sie wollte töten! Voller Verachtung unterdrückte der Elf das tumbe Geschöpf und machte sich über die übrigen Schlafenden her. Acht Kobolde ermordete die Bestie. Keiner von ihnen erwachte. Sie gingen vom Schlaf hinüber ins ewige Dunkel, ohne zu ahnen, was mit ihnen geschah.
Zufrieden zog sich Shahondin in den dunkelsten Winkel der Kammer zurück. Er war neugierig zu sehen, was geschehen würde, wenn man den Wachraum voller Toter entdeckte und den Kobold mit dem stolzen Schnauzbart, der niemandem erklären könnte, was geschehen war. Auf diese Weise zu töten war viel befriedigender, als nur wahllos mordend durch die Festung zu ziehen. Der Fürst begann Pläne zu schmieden, wie seine nächsten Opfer enden sollten. Er würde das Töten zu einer Kunst erheben. Und sein Applaus wäre das Entsetzen, das sich in der Bergfestung ausbreitete. Als unsichtbarer, namenloser Todbringer wäre er ungleich entsetzlicher als das Trollheer, das sich bald vor den Toren der Festung sammeln würde.