7. Tag des Wolfsmondes. Heute hat uns Alfadas verlassen. Es war ein Tag von feierlicher Traurigkeit. Hinter dem Tor aus Licht lag eine schreckliche Dunkelheit. Ich hätte es nicht durchschreiten wollen. Möge Luth dem Herzog und seinen Männern beistehen. König Horsa wollte nicht in unserem Dorf verweilen. Er hat uns noch in der Abenddämmerung verlassen.
9. Tag des Wolfsmondes. Karat Ole, den Hundezüchter, tief im Wald gefunden. Wie es scheint, wurde Ole von seinen eigenen Bestien angegriffen. Er ist fürchterlich zugerichtet. Er spricht wirr. Ich habe seine Wunden gesäubert. Asla hat ihn in ihrem Haus aufgenommen, um ihn zu versorgen. Der große schwarze Hund musste ausgesperrt werden.
11. Tag des Wolfsmondes. Der Fischer Galti ist verschwunden. Man hat sein Boot verlassen am westlichen Ufer gefunden.
12. Tag des Wolfsmondes. Erek hat mit einigen Männern des Dorfes die Hunde in Oles Zwingern erschlagen. Zwei der Bestien fehlen. Asla hat die Männer bedroht, ihrem Hund ja kein Leid zu tun. Ich konnte den Streit nur mit Mühe schlichten.
13. Tag des Wolfsmondes. Früh am Morgen sind zwei Sklavinnen, Fredeg und und Usa, verschwunden. Am Abend traf sich der Dorf rat. In allen Gesichtern war Angst.
14. Tag des Wolfsmondes. Die Leiche einer alten Frau wurde angespült. Sie trägt Usas Kleider. Niemand weiß sich das zu erklären. Viele suchen meine Hilfe, doch weiß ich diesen Faden Luths nicht zu deuten.
15. Tag des Wolfsmondes. Eine seltsame Seuche hat Ereks Ziegen dahingerafft. Man hat sie ausgezehrt bis auf Haut und Knochen im Stall gefunden. Oles Fieber wird schlimmer. Er spricht immer wieder von einer weißen Elchkuh.
16. Tag des Wolfsmondes. Solveig ist vom Reisigsammeln im Wald nicht zurückgekehrt. Der Rat hat beschlossen, dass niemand mehr das Dorf verlassen soll. Asla hat sich gegen den Willen der Männer durchgesetzt.
17. Tag des Wolfsmondes. Kalf hat einen der vermissten Bluthunde im Wald gestellt und getötet.
18. Tag des Wolfmondes. Eine Treibjagd, um den zweiten ausgebrochenen Bluthund zu stellen, blieb ohne Erfolg.
21. Tag des Wolfsmondes. Seit fünf Tagen gab es keinen Unglücksfall mehr. Langsam weicht die Angst. Luth sei Dank!
Das Wolfspferd
Missmutig schlüpfte Halgard in ihre gefütterten Pelzstiefel. Das Mädchen hasste es, so früh am Morgen aus dem Bett geholt zu werden. Am Abend zuvor waren sie lange in Aslas Haus gewesen. Das ganze Dorf hatte sich dort versammelt. Gundar hatte zu ihnen gesprochen und mit ihnen gemeinsam gebetet. Halgard liebte die kräftige, warme Stimme des alten Mannes. Sie war für sie wie Sonnenlicht auf dem Gesicht: einfach behaglich. Müde rieb sie sich den Schlaf aus den Augen.
»Nun mach schon!«, hetzte ihre Mutter und drückte ihr ein Stück hartes Brot in die Hand. »Trödel nicht so herum. Ich bin schon seit einer Stunde auf und murre schließlich auch nicht!« Ihre Mutter half ihr, die breiten Lederschlingen des geflochtenen Wäschekorbs über die Schultern zu streifen. Dann bettete sie den Umhang warm über ihren Leib und den Korb. Mutter musste ihn vor das Feuer gehängt haben. Mit einem Seufzer rieb Halgard ihre Wange über den Wollstoff. Wenn sie doch nur noch ein bisschen in ihrem Bett bleiben könnte! Knarrend ging die Tür auf. Der kalte Atem des Fjords drang in die kleine Hütte. Halgard tastete sich am Tisch entlang und stieß sich ihr Knie an der Bank. Mutter hatte sie schon wieder von der Stelle gerückt! »Weißer Nebel steigt die Ufer hinauf«, sagte ihre Mutter mit leiernder Stimme. »Es sieht aus, als seien die Wolken vom Himmel hinabgestiegen.«
Halgard zog die Tür hinter sich zu und folgte der Stimme, die unablässig beschrieb, was sie sah. Wie schon hunderte Male zuvor wünschte Halgard sich, Mutter würde von Dingen sprechen, die sie begreifen konnte. Aber sie machte sich keine Gedanken. Halgard konnte sich Wolken nicht wirklich vorstellen. Es mussten große Dinger sein, die über den Himmel liefen, obwohl sie keine Beine hatten. Man konnte sie wohl deutlich sehen, obwohl man sie nicht anfassen konnte. Und was war weiß? Nur ein Wort ohne Inhalt! Wie so viele Wörter, die Mutter bei ihren endlosen Beschreibungen aufsagte.
Der Weg, dem sie folgten, war weich und schlammig. Halgard mochte das schmatzende Geräusch, das ihre Stiefel machten, wenn es geregnet hatte. Dann hörte es sich so an, als gäben ihre Füße der Erde bei jedem Schritt einen nassen, übermütigen Kuss.
»Hinter dem Regenfass an der Ecke von Ereks Hütte lauert wieder die schwarze Katze. Es sieht aus, als habe sie auf uns gewartet. Seltsam, dass sie hier fast jeden Morgen steht.« Mutters Schritte verharrten. »Wehe, wenn ich dich dabei erwische, dass du sie fütterst!« Ihre Stimme klang ein wenig anders. Sie musste sich umgedreht haben. »Wir haben selbst nicht genug zu beißen! Wir müssen nicht noch irgendwelches Viehzeug durchfüttern!« Halgard biss in ihren Brotkanten und zuckte mit den Schultern. Mit Mutter zu reden, war sinnlos. Sie wurde schneller wieder friedlich, wenn man einfach gar nichts sagte.
»Katzen können sich gut alleine versorgen!« Mutter ging weiter.
Die Katze strich leise schnurrend um Halgards Beine. Es war ein wunderbares Gefühl. Das Mädchen beugte sich vor und tastete nach dem zarten Fell. Die Katze drückte ihr schnurrend den Kopf in die Hand und leckte ihre Finger.
»Heute hab ich leider keinen Fisch«, flüsterte das Mädchen.
»Vielleicht morgen wieder.« Sie brach ein kleines Stück von ihrem Brot ab und hielt es der Katze hin. Halgard wusste, dass ihre kleine Freundin Brot nicht sonderlich mochte. Aber etwas anderes hatte sie nun einmal nicht. Und sie wagte es auch nicht, ihr gar nichts zu geben, denn sie hatte Angst, dass die Katze vielleicht nicht mehr auf sie warten würde, wenn sie einmal kein Futter bekam.
»Wo steckst du?«, rief Mutter.
»Bis morgen.« Halgard tätschelte der Katze noch einmal über den Kopf und beeilte sich, ihrer Mutter zu folgen. Deren Schritte knirschten schon auf dem Kies. Sie hörte das Scharren des schweren Korbs auf Stein und den Seufzer, den Mutter jedes Mal ausstieß, wenn sie ihre Last abstellte.
»Es ist noch ganz dunkel«, erklärte Mutter. »Die Sonne versteckt sich noch hinter den Bergen. Der Wind rührt im Nebel.«
Für mich ist es immer ganz dunkel, dachte Halgard wütend und wünschte sich, ihre Mutter würde mit diesen endlosen Selbstgesprächen aufhören.
Als hätte sie den Gedanken gehört, hielt sie tatsächlich den Mund. Wäsche raschelte leise. Mutter würde sie jetzt in kleine Haufen sortieren und mit Steinen beschweren, bevor sie mit der Arbeit begann. Halgards Gedanken schweiften ab zu jenen wunderbaren Tagen, als sie noch nicht jeden Morgen vor der Sonne aufgestanden waren. Damals, als Vater noch bei ihnen war. Im Frühjahr des letzten Jahres war er mit dem Jarl auf einen Kriegszug gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Seitdem wohnte der Hunger bei ihnen.
Halgard dachte oft an ihren Vater. Seine Stimme hatte immer ein wenig heiser geklungen. Seine großen, knochigen Hände hatten ihr oft über das Haar gestrichen. Dann hatte sie geschnurrt wie eine kleine Katze. Abends, wenn sie nicht schlafen konnte, lauschte sie hinaus. Und immer noch hoffte sie, irgendwann seine vertrauten Schritte zu hören. Er war so groß und stark gewesen. Wer hätte ihn denn umbringen können? Er war nur verloren gegangen! Bestimmt würde er eines Tages wiederkommen. Es musste nur jemanden geben, der noch daran glaubte! Mutter glaubte nicht daran. Sie war so entsetzlich dickköpfig! Halgard hatte selbst gehört, wie Jarl Alfadas ihrer Mutter angeboten hatte, für sie zu sorgen. Aber sie wollte das nicht. Stattdessen holte sie Aslas Wäsche und wusch sie frühmorgens am Fjord. Auch ein paar anderen Frauen machte sie die Wäsche. Dafür bekam sie Brot und Käse und manchmal auch etwas Fleisch. Mutter mochte es nicht, wenn ihr die anderen Frauen beim Waschen zusahen. Sie tat so, als hätte sich nichts verändert, seitdem Vater nicht wiedergekommen war. Dabei wussten alle im Dorf, was für eine Arbeit sie machte.