Thorfinns Hand schnellte vor. Sie umkrallte Gundars Linke. Die Haut war dünn wie fein geschabtes Pergament. Deutlich konnte Gundar die Knochen spüren. Es fühlte sich an, als habe ihn eine Hand aus einem Grab gepackt. Er wollte sie abstreifen, doch Thorfinn bot all seine Kräfte auf, ihn zu halten.
»Lebensfaden ... fressen ... Wolfspferd.«
»Ein Wolfspferd?«
»Die Tür ... Es geht hindurch ... Einfach hindurch ...«
»Wo sind deine Kinder?«
Ein Zittern durchlief den ausgemergelten Körper. »Einfach hindurch ...« Über Thorfinns Wange rann eine einzelne Träne. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Er schien seinen Frieden gefunden zu haben. »Sie warten auf...«
»Ich bring dich hinunter zum Dorf«, flüsterte Gundar hilflos.
Ein Röcheln kam tief aus der Brust des Sterbenden. Seine Hand löste sich aus der Umklammerung. Die Augen verloren ihren Glanz.
»Mögen die Götter dir auf dem Weg durch die Dunkelheit leuchten, dir ihre Hallen öffnen und dich zum Gast bei ihrem ewigen Fest machen, denn du warst ihnen ein treuer Diener und deine Seele ist ...«
Thorfinn bäumte sich auf. Wieder spiegelte sich unsägliches Entsetzen in seinem Antlitz, als sei er auf der Reise in die ewige Nacht noch einmal dem Schrecken begegnet, der den Wehrberghof heimgesucht hatte. Sein Mund öffnete sich. Verzweifelt versuchte der Bauer noch etwas zu sagen. Sein ausgezehrter Leib spannte sich und sackte dann plötzlich zurück. Thorfinns Lebenslicht war endgültig verloschen.
Die kleine Flamme der Öllampe blakte und begann zu schrumpfen. Bald war sie nur noch ein winziger Funken. Gundar versuchte sie mit den Händen vor der Zugluft zu beschirmen. Vorsichtig stellte er die Lampe auf den Boden. Rotes Licht sickerte durch den Türspalt zur Stube.
Gundar kniete nieder und betete inbrünstig, dass das Licht nicht ganz verlöschen möge. Es waren nur wenige Schritte bis zur Tür, aber die Dunkelheit erschien ihm wie ein endloser Abgrund. Nicht einmal als Kind hatte er solch eine Angst vor der Finsternis gehabt. Er war sich sicher, dass dort das Wolfspferd lauerte. Sobald es ganz dunkel war, würde es ihn holen kommen. Nur der ersterbende Lichtfunke schützte ihn noch!
Gundar versuchte gegen die Angst anzukämpfen. Das Tier musste fort sein, redete er sich ein. Sonst hätte es ihn schon längst angegriffen. Aber es konnte nicht weit sein ... Er dachte an die angebrannte Suppe. Es war weniger als eine halbe Stunde her, dass die Familie von der Stube in den Stall geflüchtet war. Ängstlich blickte Gundar in die Dunkelheit. War es noch hier?
Der Sturm hatte nachgelassen. Die kleine Flamme auf dem Docht flackerte nicht mehr. Langsam gewann sie wieder an Kraft. Der Lichtkreis, den sie ins Dunkel schnitt, wuchs mit jedem Herzschlag. Und dann sah Gundar sie.
Die beiden Kinder! Aesa hielt Tofi schützend in den Armen. Die zwei hatten sich unter dem großen Schlitten versteckt.
Tofi hatte seinen Kopf an Aesas Schulter gedrückt. Sie waren tot. Dem Priester schossen Tränen in die Augen. Er weinte lautlos. Hilflos ballte er eine Faust und biss hinein. Wozu gab es Götter, wenn sie so etwas geschehen ließen!
War da ein Geräusch? Das leise Knirschen von Schritten im Schnee? Kam der Mörder zurück? »Komm in die Stube!«, schrie der Priester in seinem Zorn heraus. »Ich erwarte dich!«
Kaum waren die Worte über seine Lippen, da taten sie ihm schon Leid. Was hatte er getan! Mit zitternden Fingern tastete er nach dem Messer an seinem Gürtel. Es war eine schmale, kaum handlange Klinge. Sein Leben lang hatte er sie nur dazu benutzt, Fleisch zu schneiden und Fische auszunehmen. Er hatte noch nie gekämpft. Er war Priester! Es war an ihm, unsinnige Kämpfe zu verhindern.
Gundar raffte sich auf. Wenn die Bestie schon kam, dann wollte er ihr wenigstens im Hellen entgegentreten. Er blickte ein letztes Mal zu den toten Kindern. Sich zu verstecken wäre sinnlos. Hastig ging er hinüber zur Tür, die in die gute Stube führte. Dort legte er den Riegel vor. Dann warf er dünne Scheite auf die Glut, bis eine helle Flamme emporschoss.
Aus der Stiefelkammer klangen Geräusche. Etwas machte sich dort zu schaffen. Der schwere Wollvorhang, der den kleinen Raum von der Stube trennte, bewegte sich.
Gundar hob das Messer schützend vor die Brust. Die Bestie endlich zu sehen, hätte vielleicht etwas Erlösendes. Der Stoff zerteilte sich. Eine kleine, weiß gekleidete Gestalt trat ein. Gundar hatte noch Tränen in den Augen, er blinzelte.
Es war Ulric!
»Was machst du denn hier?« Gundar ließ das Messer sinken.
»Ich ... ich wollte dir helfen. Ich ... Du wirst mich jetzt nicht mehr wegschicken, nicht?« Alfadas‘ Sohn sprach hastig und vermied es, dem Priester in die Augen zu sehen. »Draußen ist es schon ganz dunkel. Ich kann heute nicht mehr zurück ins Dorf! Ich ... Ich wollte im Stall übernachten, damit du mich nicht bemerkst. Aber du hast wohl meine Schritte gehört, nicht wahr?«
Gundar ließ sich auf der schweren Holzbank neben dem Tisch nieder. »Warum bist du mir gefolgt?«
»Ich werde mit dir gegen das Ungeheuer kämpfen«, sagte der Junge voller Inbrunst. »Wenn wir es erschlagen haben, dann geht es Halgard wieder gut. Das ist doch immer so, nicht wahr? Wenn die Krieger das Ungeheuer töten, wird alles wieder gut.«
Gundar fühlte einen Kloß im Hals aufsteigen. Was sollte er dem Jungen sagen? Dass es nie mehr gut würde für Halgard? Vielleicht konnten Wunder nur geschehen, wenn man an sie glaubte. Was mit dem Mädchen geschehen war, war schließlich auch ein Wunder. Wenn auch ein böses.
»Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«
Ulric schüttelte den Kopf. »Sie hätte das niemals erlaubt. Aber ich musste es tun.« Alfadas‘ Sohn trug einen dicken Mantel aus fast weißem Leder. Er hatte eine Kapuze und war von innen mit Schaffell gefüttert. Auch seine Stiefel waren aus hellem Leder. Kein Wunder, dass sich der Junge so gut im Schnee hatte verstecken können.
Ulric knöpfte den Mantel auf. An seinem Gürtel trug er einen langen Dolch. »Das ist mein Zauberschwert«, erklärte er stolz.
»Die Elfen haben es geschmiedet. Damit werden wir jedes Ungeheuer besiegen können, Gundar. Weißt du, Halgard, sie ist meine Prinzessin. Ich habe sie immer schon beschützt. Im Dorf sagen sie, dass du ausgezogen bist, um uns zu erlösen. Ich werde an deiner Seite sein. Ich werde mit dir kämpfen.«
Der Priester sah den Jungen fassungslos an. Er meinte jedes Wort ernst, das er sprach. Er glaubte wirklich, er könne Halgard erlösen. Aber durfte er ihn mitnehmen? Was geschah, wenn sie dem Ungeheuer tatsächlich begegneten? Doch konnte das nicht auch im Dorf geschehen? Und wenn er Ulric zurückbrachte, würde er dann noch einmal den Mut finden, hier heraufzukommen? Jetzt, da er wusste, dass die Bestie auch hier oben war?
Ulric sah ihn jetzt an. Er konnte den Jungen nicht zurückschicken. »Sei mein Kampfgefährte bei dieser Queste.« Gundar war überrascht, wie rau seine Stimme klang. Der Junge hatte eine Tür in eine Welt geöffnet, die ihm lange verschlossen gewesen war. Eine Welt, in der der Glaube, dass am Ende alles gut werden würde, noch nicht von Jahrzehnten bitterer Erfahrungen gemordet war.
Die Scheite, die Gundar in die Glut geworfen hatte, waren halb herabgebrannt. Die Dunkelheit kehrte wieder in die Winkel der Stube zurück, als sie am langen Tisch Platz nahmen. Der Priester schöpfte ihnen zwei Teller Hirsebrei aus dem Kessel, und er fand etwas altes Brot.
»Wo sind Thorfinn und seine Familie?«, fragte Ulric unvermittelt, als er sein Brot in den Brei tunkte.
Gundar atmete tief aus. Konnte er ihm die Wahrheit sagen? Würde eine Lüge nicht die Tür wieder zuschlagen, die der Junge ihm gerade geöffnet hatte? »Sie sind gegangen«, sagte er schließlich ausweichend.
»Wohin? Im Sturm dürfen sie doch nicht draußen bleiben.«
»Sie sind tot, Ulric. Ein Wolfspferd ... Eine Geistergestalt ... Sie war hier. Die Kreatur, die auch Halgard beinahe getötet hätte.«
Der Junge legte den Brotkanten auf den Tisch zurück.
»Das Tier hat sie alle getötet?«, fragte er ganz leise. »Auch die Kinder?«