»Warum? Sie können nichts an dem ändern, was hier unten geschieht. Wenn sie es wissen, dann schwächt es nur die Kampfkraft der Wankelmütigen. Ich verschweige es zu ihrem Schutz.«
»Dann muss es wenigstens der Kriegsrat wissen.«
»Eine Versammlung, in der dein Menschenfreund solche Gestalten wie den Kerl mit der halben Nase um sich geschart hat? Nein, Ollowain. Es ist schon schlimm genug, dass wir auf die Hilfe von Menschensöhnen angewiesen sind. Wir werden nicht auch noch unsere Geheimnisse mit ihnen teilen. Dieser Kerl – Lambi, nicht wahr -, er würde es seinen Kriegern sagen. Und dann wissen es binnen zwei Tagen alle, und eine Panik bricht aus. Verrate, was in der Halle des Feuers geschieht, und Phylangan wird fallen, noch bevor der erste Troll vor unseren Toren steht.«
Ollowain atmete schwer aus. Die Einwände seines Vaters waren nicht von der Hand zu weisen. »Es ist nicht richtig, seine Verbündeten zu belügen«, sagte er leise.
»Aber wir belügen doch niemanden.« Landoran hatte einen väterlich tröstenden Ton angeschlagen, als spräche er zu einem Kind. »Wir verschweigen etwas. Ja! Aber was ist schon dabei? Weißt du alles über die Krieger, die für dich kämpfen? Das ist die Bürde der Anführer. Wir sehen weiter als die meisten, die uns dienen. Wir haben ein tieferes Verständnis um die Welt, um alle Dinge, die um uns herum geschehen. Und um jene zu schützen, die wir führen, dürfen wir nicht all unser Wissen mit ihnen teilen. All seine Geheimnisse preisgeben, das tut im Übrigen niemand.«
Ollowain machte eine ärgerliche Geste. »Was scheren mich die Geheimnisse eines beliebigen Menschensohns? Sie bedrohen nicht mein Leben! Du kannst das nicht miteinander vergleichen!«
»Komm mir nicht mit diesem ritterlichen Unsinn!«, entgegnete Landoran. »Abgesehen davon stimme ich dir sogar zu. Wir sollten die Menschen und uns nicht miteinander vergleichen. Sie werden uns niemals begreifen, Alfadas und seine Krieger. Versteh mich nicht falsch. Ich mache ihnen daraus keinen Vorwurf. Ich gehe sogar weiter. Es wäre mein Fehler, wenn ich von ihnen ein Verständnis verlangte, zu dem sie einfach nicht fähig sind. Also behellige ich sie gar nicht erst mit Einsichten, die ihnen im günstigsten Fall unheimlich wären. Ich weiß ja nicht einmal, wie ich dir, der du noch nie einen Zauber gewirkt hast, erklären kann, was in der Halle des Feuers vor sich geht.«
»Das habe ich erwartet. Wenn wir miteinander reden, kommen wir immer irgendwann zu diesem Punkt.« Ollowain wandte sich ab und ging zum Treppenabsatz. Es war immer dasselbe. Jeder Streit mit seinem Vater führte letztlich dazu, dass Landoran ihm vorhielt, nicht zaubern zu können. Es fehlte nur noch, dass er jetzt auch ihn in seine üblichen Überlegungen über Menschen und andere einfältige Geschöpfe einbezog, die niemals vom Quell wahrer Weisheit kosten würden.
»Lauf nicht davon, Dickkopf. Du nennst dich Krieger, ja Schwertmeister? Stelle dich der Wahrheit! Wie würdest du einem Blinden das Tageslicht erklären?«, rief ihm der Fürst aufgebracht nach. »Manche Erfahrungen muss man teilen, denn sie sind nicht in Worte zu fassen. Oder könntest du mir sagen, was dich mit Lyndwyn verbindet? Ich sehe in dein Herz, mein Sohn... Bitte, lauf jetzt nicht davon.«
Ollowain blieb auf der ersten Stufe stehen.
»Ich weiß nicht, wie ich dir etwas begreiflich machen soll, was du nie erfahren hast.« Landoran war aufgestanden. Erschöpft stützte er sich mit einer Hand an der Wand ab. Zum allerersten Mal sah Ollowain seinen Vater vom Alter gezeichnet. Er war zu entkräftet, um es noch verbergen zu können.
»Ich würde dir niemals vorhalten, wenn ich nicht verstehen kann, was du sagst, Vater. Was uns trennt, ist, dass du es nicht einmal versucht hast.«
»Also gut... Die Magie ... Es beginnt damit, dass du dich in eine tiefe Meditation versenkst. Du versuchst, dein Gefängnis aus Fleisch hinter dir zu lassen und in dir das zu finden, was unsterblich ist. Und wenn es dir gelingt, dann ist es wie eine zweite Geburt. Du hast das Gefühl, aus deinem Leib zu fahren. Du betrachtest dich von außen. Kleinliche Bedürfnisse wie Hunger und Durst berühren dich nicht länger. Du hast keinen Leib mehr, der dir mit seiner Unzulänglichkeit Pflichten über Pflichten diktiert. Es ist ein überwältigendes Gefühl von Freiheit, das dich überkommt. Und dann hörst du das Singen der Welt. Und du fühlst es auch, so seltsam sich das anhören mag, wenn ich von einem Lied spreche. Du wirst dir der Kraft der Magie bewusst, von der alles durchdrungen ist. Losgelöst von deinem Leib, vermagst du die reinsten Zauber zu wirken, denn du kannst eins werden mit dieser geheimnisvollen Kraft, mit ihr schwingen. Von außen betrachtet, sieht man jedoch nur deinen kauernden Körper. Wem nie das innere, das magische Auge geöffnet wurde, der vermag dich nicht zu sehen, wenn du deinen Leib verlassen hast.« Landoran war sehr blass geworden. Er sprach abgehackt, aber mit großer Leidenschaft.
»Wenn du unten in der Halle des Feuers bist, dann hörst du eine Stimme rufen, sobald du deinen Leib verlässt. Sie erteilt keinen Befehl, und doch ist es unmöglich, sich ihr zu widersetzen. Es zieht dich hinab, dorthin, wo das ewige Feuer tief unter diesen Bergen glüht. Und plötzlich wirst du Teil von etwas Großem ... Die Hochstimmungen, Ängste und Liebeserinnerungen aus hundert Leben überfluten dich. Du bist verwirrt, und dann fügt sich plötzlich alles. Du gehörst zu einem großen Chor. Das, was dich ausmacht, wird zu einem winzigen Erinnerungsfunken, der fast verblasst neben der großen Melodie, von der du nun ein Teil bist. Lyndwyn leitet diesen Chor. Sie führt jede Stimme an ihren Platz. Nie zuvor habe ich eine Elfe getroffen, die so jung schon eine solche Meisterschaft in der Zauberkunst erlangt hat. Und der Albenstein vervielfacht ihre Kräfte noch. Alle, selbst die mächtigsten Zauberweber, fügen sich ihr, denn wir spüren, dass es richtig ist. Selbst ich habe mich vollkommen ihrer Weisheit unterworfen und singe ihr Lied, wenn ich meinen Platz in der Halle des Feuers einnehme. So schaffen wir es, glühendes Gestein erkalten zu lassen und den Druck zu mildern, der sich angestaut hat. Doch die Kraft, gegen die wir uns stellen, lässt sich an nichts messen, was dir vertraut ist.«
Ollowain musste an Taenor denken, den Elfen, der verbrannt war. Was sein Vater erzählt hatte, hörte sich so harmonisch und friedlich an ... Doch er hatte mit eigenen Augen gesehen, dass die Wirklichkeit anders war. Landoran sagte ihm also wieder einmal nicht alles. »Was bringt einen dabei um, wenn man nur ein Lied singt?«, fragte er zynisch.
»Es ist die Angst. Du verlässt deinen Körper, und obwohl du alles Fleisch hinter dir gelassen hast, kannst du dich immer noch erschöpfen. Es ist eine geistige Müdigkeit. Und dann ist da die Glut. Du nimmst sie in dir auf, um sie besser zu verstehen. Du musst mit ihr verschmelzen, um sie unterdrücken zu können. Wenn dich aber Angst packt und du plötzlich in deinen Leib zurückkehrst, dann wirst du von innen heraus verbrennen, denn du trägst einen Teil des Feuers mit dir. Wenn wir bewusst heimkehren in unsere Leiber, dann geschieht das sehr langsam. Wir müssen uns aus dem großen Lied lösen, was sehr traurig macht. Und dann müssen wir wieder zu dem Erinnerungsfunken finden, in dem weiterglüht, was uns als einzelne Geschöpfe ausmacht. Wenn wir uns dann der Helligkeit bewusst werden, in der unser eigenes Licht brennt, können wir wieder eins sein mit unserem Leib. Überstürzen wir aber die Rückkehr, und ist die Flamme, in der unsere Seelen brennen, noch zu heiß, dann wird sie unseren Körper vernichten. So erging es Taenor. Dies geschieht jedoch seltener, seit Lyndwyn das große Lied dirigiert.«
»Was heißt selten? Wie viele Tote haben wir zu beklagen?«
»Als ich das große Lied gesungen habe, hatten wir zwei oder drei... Verluste, jeden Tag. Mit Lyndwyn meist nur einen, manchmal auch keinen. Sie achtet sehr gut auf den Chor der Zaubernden.«
Ollowain sah seinen Vater forschend an. Sagte er die Wahrheit? Sein Gesicht war eine gefühllose Maske. Das Einzige, was man daran ablesen konnte, war seine unendliche Müdigkeit.