Alfadas fluchte. Er zerrte am Gürtel und warf sich zugleich zurück. Über ihm zerspritzte ein Eisklumpen an der Bordwand. Kalte Splitter trafen ihn im Nacken. Hastig schlang er ein Seilende um den Gürtel des Verletzten. Der Mann wurde hochgezogen.
Egil war ein wenig zurückgefallen. Sein Atem ging keuchend. Das Gesicht des Königssohns war rot vor Anstrengung.
»Los, Mann. Du schaffst es!«, feuerte Alfadas ihn an.
Wieder berührten sich ihre Fingerspitzen. Alfadas streckte sich verzweifelt. Egil war am Ende. Ihre Hände verloren einander. Alfadas warf sich nach vorne. Das Sicherungsseil würde ihn schon halten. Wenn er Egil zu packen bekam, würde man sie beide gemeinsam hochziehen.
Ihre Hände verhallten ineinander. Alfadas stürzte zwischen die Kufen auf das Eis. Im Fallen riss er Egil mit sich. Der Herzog drehte sich. Verzweifelt hielt er den Königssohn fest. Er sah die Axt in der Bordwand. Über ihr pendelte ein ausgefranstes Seil im Fahrtwind.
Der Rumpf des Eisseglers glitt über ihn hinweg. Alfadas versuchte, mit der Linken eine der Querstangen zu umfassen, auf denen der Schiffsrumpf auflag. In Todesangst schlossen sich seine Finger um das vereiste Holz. Halb kniend wurde er nun über das Eis gezogen. Mit der Rechten hielt er noch immer Egils Hand.
»Greif nach meinem Gürtel!«, schrie er. »Ich brauche beide Hände, sonst kann ich uns nicht halten!« Langsam glitten seine Finger von dem Rundholz ab.
Alfadas‘ Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Er wollte Egil näher an sich heranziehen, damit dieser besser nach dem Schwertgurt greifen konnte.
Etwas berührte leicht die Schulter des Herzogs. Weiße Schemen glitten an ihnen vorbei. Unebenheiten im Eis! Ein Eisbrocken schrammte an Alfadas‘ Knie entlang. Er stöhnte vor Schmerz. Er konnte nicht mehr! Das Rundholz, an das er sich klammerte, war zu dick, um es ganz zu umgreifen.
Egil sah zu ihm auf. Er hielt sich mit der Linken an Alfadas‘ Hose fest. Der junge Krieger lächelte. »Es war richtig, mit dir zu gehen, Herzog. Jetzt rette dich!« Mit diesen Worten ließ er los.
»Nein!« Alfadas schrie aus Leibeskräften. Aber es war sinnlos. Er konnte Egil nicht mehr retten.
Zitternd vor Schmerz und Erschöpfung, griff Alfadas auch mit der zweiten Hand nach der Querstange. Zwischen den Holzstreben hindurch konnte er sehen, wie Egil sich aufrichtete, als das Schiff über ihn hinweggeglitten war. Der Königssohn zog sein Schwert. Ein Troll mit einem Kriegshammer kam auf ihn zugerannt. Egil lief ihm entgegen und verschwand aus Alfadas‘ Gesichtsfeld.
Griff um Griff hangelte sich Alfadas an der Stange entlang zur Seite. Wenn er es schaffte, zurück an Deck zu kommen, würde er dem Schiff befehlen zu wenden. Vielleicht hielt Egil ja lange genug durch. Er konnte ihn doch nicht einfach zurücklassen!
Alfadas hakte seine Fersen an der Stützstrebe ein, um zusätzlichen Halt zu haben. Eisblöcke zischten seitlich an ihm vorbei. Der Segler gewann jeden Augenblick mehr an Fahrt. Alfadas blickte zum Bug. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er unter dem Segler weggerissen wurde. Verzweifelt sah er sich nach einer Möglichkeit um zu entkommen. Der einzige Weg hinauf führte über die Holzbögen, die Stahlkufen und Schiffsrumpf miteinander verbanden.
Breite Balken trennten das Quergestänge unter dem Schiff von den Seitenbögen.
Alfadas versteifte seinen Rücken und streckte die Arme vor. Für einen Augenblick hing er mit dem Kopf nach unten, nur noch mit den eingehakten Fersen an der Querstange. Weit hinter sich auf dem Eis sah er Egil fallen. Der Troll schlug zu. Es war vorbei.
Erschöpft schaffte es Alfadas, den Stützbogen zu packen. Mit letzter Kraft zog er sich hinüber. Einer der Armbrustschützen entdeckte ihn. Starke Hände packten den Herzog, und er wurde zurück an Bord gezogen. Lambi lächelte ihn an. »Ich wusste doch, dass du an dem Schiff klebst wie ein Floh auf ‚nem Hundearsch. Du hast uns ganz schön erschreckt, Mistkerl.« Er reichte dem Herzog die Hand. »Komm hoch und sieh dir an, was Ragni macht, dieser verdammte Bastard.«
Noch ganz benommen trat Alfadas an die Reling. Die Schwertwal raste in voller Fahrt den Passweg hinab und pflügte sich einen blutigen Weg durch die Marschkolonne, die zum Hochplateau marschierte. Es gab dort keine Möglichkeit, dem Eissegler auszuweichen. Plötzlich rammte die Schwertwal einen großen Lastschlitten, neigte sich zur Seite und überschlug sich dann. Die Masten wurden zerfetzt. Und noch immer rutschte der schwere Holzrumpf weiter.
»Nie hat ein einzelner Mann so viele Trolle getötet«, sagte Veleif ehrfürchtig.
»Er hat seine Mannschaft dafür geopfert, der Dreckskerl. Für mich ist er kein Held!«, stellte Alfadas klar. »Opferst nicht auch du in der Schlacht mit jedem deiner Befehle Männer für den Sieg?«, fragte der Skalde. »Hat Ragni etwas anderes getan als du?«
Alfadas fehlten die Worte. Erschöpft wandte er sich ab. Sieben Mann hatten sie retten können. »Wie viele haben es an Bord der Weidenwind geschafft?«
Lambi zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nur drei oder vier. Mehr als siebzig sind auf dem Eis geblieben. Wer war der Kerl, der die Verwundeten geschleppt hat? Ich hab sein Gesicht schon einmal gesehen. Aber ich erinnere mich nicht mehr, wo.«
»Man konnte ihm im Gefolge König Horsas begegnen.«
Der Jarl runzelte die Stirn. Dann klappte ihm der Kiefer herunter. »Das war ...«
»Ja, das war Egil Horsason. Ich wünschte, ich hätte ihm das Kommando über die Schwertwal gegeben. Er hätte seine Männer nicht seinem Ruhm geopfert. Und vielleicht wäre er eines Tages ein großer König geworden.« Alfadas winkte dem Elfengrafen am Ruder. »Bring uns zurück nach Phylangan.«
»Du hast uns heute zu einem großen Sieg geführt!«, sagte Lambi ungewohnt feierlich. »Und du hast Egil einen Platz an Norgrimms Festtafel verschafft. Der Junge, den ich heute gesehen habe, hatte mit dem großmäuligen Hurenbock, der einmal Horsas Sohn war, nicht mehr viel gemein.«
Zwei Herzen
Asla blickte hinab in die tiefe Grube, die man in den vereisten Boden geschlagen hatte. Die halbe Nacht hindurch hatte sie das Geräusch der Hacke gehört, die mit dem steinharten Erdreich kämpfte. Isleif, ein großer, dunkelhaariger Einödbauer, in dessen Schopf sich erstes Silber einnistete, trug Oles Leichnam vom Langhaus herab. Er war ein Freund ihres Vaters Erek und der Einzige, der sich für diesen letzten Weg Oles gefunden hatte. Niemand aus dem Dorf war gekommen, um dem Hundezüchter ein Ehrengeleit zu geben. Allein Asla, die Kinder und Erek standen bei dem offenen Grab.
Oles Leib war ausgezehrt und dürr. Er wog nicht schwer in Isleifs Armen. Hell leuchtete der Pflock, der aus der Brust des Toten ragte. Sie waren in der Morgendämmerung gekommen ... Jene Besorgten, die fürchteten, Ole würde wegen seines schrecklichen Todes keine Ruhe finden. Sie hatten den Pflock schon mitgebracht. Er war aus hellem Eschenholz geschnitten. Ohne sich auf Ereks Einwände einzulassen, hatten sie den Holzpflock in die Brust seines Bruders getrieben. Dorthin, wo einmal sein Herz gesessen hatte, wenn er denn jemals eins gehabt hatte. In dem Augenblick, als sie dies getan hatten, hatte Blut ein schauerliches Geheul angestimmt. Asla war sich sicher, dass man noch den ganzen Winter darüber flüstern würde.
Isleif stieg vorsichtig in das Grab hinab. Er drückte den Leichnam an sich wie eine Mutter, die ein großes Kind auf ihren Armen trug. Noch im Tode wirkten Oles Züge gequält. Nie würde man erfahren, was er getan hatte, dachte Asla. Wofür die Götter ihn und das Dorf so grausam bestraft hatten. Alle waren sich darin einig, dass er den riesigen Geisterhund herbeigerufen hatte. Damit, dass man ihn so grässlich verstümmelt im Wald gefunden hatte, hatten die Morde begonnen.
Asla hielt Kadlin auf dem Arm. Das kleine Mädchen spielte mit ihrem Haar. Über warmen Wollsachen trug sie das dünne blaue Leinenkleid, das ihr Vater so sehr liebte. Darin hatte sie laufen gelernt. Sehnsüchtig dachte Asla an die warmen Sommertage, als Alfadas mit ihr zum Kiesstrand gegangen war und sie beide der Kleinen zugesehen hatten, wie sie schwankend über den Kies gelaufen war. Was würde der nächste Sommer bringen? Würde sie ihren Mann je wieder sehen? Sie blickte zu Ulric. Der Junge hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er wirkte sehr ernst, gar nicht mehr wie ein Kind.